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Chaoten
Chaoten
Würde ich heute meinen Eltern von der Nacht erzählen, in der ich mich in die Reihe der Autonomen, der so genannten Steinewerfer einreihte, sie würden mich sicherlich einen Dummkopf nennen, würden sagen, ich sei sehr leichtsinnig gewesen.
Seit jener Nacht ist einige Zeit vergangen, ich bin älter geworden. Ich bin mir bewusst geworden, wie wertvoll dieses eine Leben für mich ist und wie verletzlich mein Körper ist; ich bin vernünftiger geworden. Und obwohl sich meine Sicht der Dinge nicht groß geändert hat, würde ich das heute nicht mehr machen: Die Konfrontation suchen, mich dem Knüppel gegenüberstellen. Aber dennoch ist es gut, dass ich damals dabei gewesen bin. Bei der Blockade. Auf der Straße, in einem kleinen Dorf nahe Gorleben.
Als jemand rief, es gehe jetzt los, zogen wir unsere Kapuzen tief ins Gesicht, banden unsere schwarzen Halstücher vor den Mund und zogen sie über die Nase, so dass von jedem nur noch die Augen zu sehen waren. Die Augen und der Atem vor dem dünnen schwarzen Tuch, denn es war sehr kalt in dieser Nacht. Am klaren Himmel waren Mond und Sterne zu sehen und das Wasser in den Pfützen war gefroren, denn Winternächte in denen man die Sterne sieht, sind immer sehr kalt.
So gingen wir dann los, ich fror, wir gingen los zu den Baumstämmen, um sie auf die Straße zu legen, damit ein Räumfahrzeug sie später beiseite schieben muss. Aber wir kamen überhaupt nicht soweit. Der Staat wollte den Jugendlichen diesen Triumph nicht gönnen und so hatte er alle verfügbaren Polizeikräfte in dieses Dorf beordert, um uns von der Straße, von dieser Straße, fernzuhalten und die darauf Sitzenden in die vergitterten Busse zu sperren. Lastwagen, die Hebebühnen mit riesigen Scheinwerfern ausgefahren hatten, tauchten uns in einen hellen Lichtschein in dieser dunklen, kalten Nacht und wir traten dennoch auf die Straße. Natürlich kam sofort eine Spezialeinheit, um mit zahlreichen Kameras auf uns zu halten aber wir wussten uns mit unseren schwarzen Tüchern ja zu schützen.
Wir standen als geschlossene Gruppe mit untergehakten Armen zwischen der Stelle, an der die Baumstämme bereitlagen und der wenige Meter weiter befindlichen Sitzblockade, wo alle Braven saßen: Die Öko-Hippies, die 68-iger Tanten, die idealistischen Demokraten, alternative Pfadfinder und die Leute von Greenpeace. Wir standen da und sahen in die Richtung der Baumstämme, sahen uns die olivgrünen Sturmmasken unter den Helmen hinter den Visierscheiben der Spezialkräfte an. Wir betrachteten die Polizeihunde, deren Maulkörbe aus glänzendem Stahldrahtgitter bereits entfernt worden waren und wir sahen an den Polizisten vorbei zu den Baumstämmen, die auf der Straße liegen und brennen könnten, die den Transport mit etwas Glück um einen halben Tag oder länger verzögern könnten.
Von hellen Scheinwerfern bestrahlt standen wir so den Bullen, der Spezialeinheit gegenüber: selbst eine Macht darstellend, aber anarchistisch. In diesem Moment waren wir die zweite Exekutive im Land, die Antipolizei; berufen durch schlichte Rechtsvorstellungen und höhere soziale Ideen. Ich bildete das eine Ende unserer Kette und hatte mich bei Helena untergehakt und ich fühlte mich gut in diesem Augenblick, obwohl ich sehr aufgeregt war
Wenn ich hinter mich blickte, sah ich die Pazifisten und Demokraten, die davon ausgingen, friedlich weggetragen zu werden, aber nun, so wehrlos wie sie waren, getreten und an den Haaren gezogen wurden und schmerzhafte Polizeigriffe zu spüren bekamen, Zeitung und Fernsehen waren ja nicht bis hierher vorgedrungen.
Wir würden uns nicht so behandeln lassen. Wir waren der Schwarze Block und wir würden uns wehren, auf das die Bullen Angst bekämen! Nicht einmal dreißig Leute waren wir, aber wir würden uns wehren, würden uns nicht so einfach treten und an den Haaren ziehen lassen und dabei als Gegenwehr erfolglos das Grundgesetz zitieren, wie all die Pazifisten und Demokraten!
Als wenige Augenblicke, nachdem wir die Straße betraten, der Wasserwerfer vorfuhr, verbargen sich die sitzenden Menschenmassen unter großen Plastikplanen, mit der die Bauer, die sie gespendet hatte, normalerweise Rinderfutter zudeckten. So eine Plane ist auf der einen Seite schwarz und auf der anderen Seite weiß und die Leute auf der Straße drehten natürlich die weiße Seite nach oben. Aber was ist das schon, eine Plastikplane, auch wenn sie weiß ist, gegen einen Wasserwerfer?
Es standen noch einige Fahrzeuge im Weg und wir nutzten die Zeit, rannten los und packten gemeinsam an; wir überraschten die Bullen, diesmal waren wir die Schnelleren und wir ließen nicht zu, das die sitzenden Menschen bei dieser Kälte mit einem Wasserwerfer beschossen wurden. Wir schmissen den Lautsprecherwagen des BGS um. Er lag im Weg, blockierte die Straße. Der Wasserwerferfahrer fluchte, der Einsatzleiter fürchtete um seinen Zeitplan, die Menschen unter den Planen schrieen „keine Gewalt“ (womit sie uns meinten) und die Hundertschaft in unserer Nähe bekam Befehl zuzuschlagen, kam angerannt. Wir hatten keine Zeit mehr uns unterzuhaken, uns gemeinsam den Bullen entgegenzuwerfen. Jeder von denen war sich seiner Niederlage bewusst: Das es uns gelungen war, eines ihrer Autos umzuwerfen, das war schlimmer als brennende Barrikaden zu bauen; wir hatten sie direkt angegriffen.
Die wütende Wucht der Polizisten schleuderte viele von uns zu Boden und ich hörte tief in meinem Innern schon das Geräusch des Knüppels auf Helenas Oberarm während ich erwartete zu sehen, wie der Stein ihre Hand verlässt und dem Bullen entgegenfliegt. Angst um Helena; während mich ein weiteres Plexiglasschild nach hinten drückte, sah ich für einen Augenblick hinüber: Auch diese Bullen hatten Sturmmasken auf und aus der leicht verrutschten Sturmmaske gegenüber Helenas schwarzem Halstuch sah ein Gesichtsausschnitt heraus, der mir nicht fremd war. „Heinz“ hörte ich mich verzweifelt schreien, riss mir dabei Kapuze und Halstuch vom Kopf. Heinz wusste nicht, wie ihm geschah, er ließ Schild und Knüppel fallen, worauf Helena ihren Stein fallen ließ. Ich hatte bisher keine Ahnung, was ihr Vater von Beruf war.
Er hatte noch nicht ganz verstanden, blickte irritiert zu mir, schrie fragend: „Du?“ Der Polizist, der auf mich losgestürzt war, ließ von mir ab, ich riss Helena das Tuch vom Gesicht. Ihr wurde jetzt auch klar, wer der Bulle war, der ihr gegenüberstand. Heinz zog seinen Helm aus und warf ihn samt Sturmhaube auf den Boden. Die Polizisten hörten auf, die Autonomen zu bedrängen und die zur Verstärkung anrennende Hundertschaft blieb hinter Heinz und seinen Kollegen stehen. Es wurde still. Die Hubschrauber waren zum Tanken verschwunden, nur der Motor des Wasserwerfers brummelte im Hintergrund.
Die Meisten taten es uns nach: Nahmen die schwarzen Halstücher oder die Helme vom Kopf, ließen Knüppel, Schilder oder Steine fallen.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich auch hierher kommen werde“ stotterte Helena, stolperte über das am Boden liegende Schild auf ihren Vater zu, fiel ihm in die arme und schluchzte kaum hörbar „du Bulle, du blöder Bulle“ in seine Schulter.
Irgendwoher kamen die Worte „geht doch nach Hause“. Ich betrachtete die Gesichter meiner Freunde, die dank eines großen Zufalls keine Schrammen und blauen Flecken trugen, betrachtete die Polizisten, die die Helme abgenommen hatten und dachte: „Ja, lasst uns nach Hause gehen“. Ich lief der schluchzenden Helena und ihrem fassungslosen Vater hinterher durch den breiten Gang, den die angerannte Hundertschaft freigab und viele Kollegen von Heinz und die Freunde von Helena und mir folgten uns.