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Chaosfahrt
Die Buchseiten rochen muffig. Über mir erblickte ich nichts als die gelbbraunen Seiten. Es tat gut, einmal nicht den Gestank nach Käsefüßen und altem Schweiß in der Nase zu haben, nicht die hässlich gemusterten Bezüge der Sitze anzusehen, nicht die Hinterköpfe der Fahrgäste, die ich schon seit drei Tagen beobachtete.
Drei Tage hatte ich ungenutzt verstreichen lassen. Mir blieb noch ein Tag, um meine Mission erfolgreich abzuschließen.
Eine Weile starrte ich die altersfleckigen Seiten direkt vor meinen Augen an, sog den papiernen Duft in mich auf. Schließlich wappnete ich mich innerlich und hob das Buch von meinem Gesicht.
Ich saß hinten im Bus, von wo aus ich die anderen vier Fahrgäste und den Busfahrer im Auge behalten konnte. Eine Reihe schräg vor mir saß Jako. Ihn hasste ich von allen am meisten. Er war ein sommersprossiger Mann mit rostrotem Haar. Ständig versuchte er, mich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich wusste, dass er dies mit anderen Fahrgästen auch tat, trotzdem fühlte ich mich durch ihn bedroht. Es kam mir so vor, als versuchte er, etwas über mich herauszufinden. Als wollte er mich aushorchen.
Er blickte von der abgetragenen Jeans auf, das auf seinem Schoß lag. Er war dabei gewesen, einige Löcher am Saum provisorisch zuzunähen, ließ nun jedoch die Nadel sinken. Sie kam mir kam zwischen seinen Fingern wie eine unausgesprochene Drohung vor. „Ausgeschlafen?“, fragte er freundlich.
„Ich schlafe nicht“, antwortete ich, was der Wahrheit entsprach. Ich hatte die letzten drei Tage kein Auge zugetan.
Er nickte, als wüsste er genau, wovon ich sprach. „Ich kann im Bus auch nicht schlafen. Es ist nicht besonders gemütlich.“
Ich wünschte, der Komfort wäre mein einziges Problem. Tatsächlich hatte ich Angst, dass jemand meine Träume ausspionierte, die Wahrheit über mich erkannte, und ich nicht erwachen würde. Der Puppenspieler war an Bord dieses Busses. Vielleicht las er in diesem Augenblick meine Gedanken. Ich fühlte mich nicht nur von Jako ausspioniert. Ich hatte das Gefühl, dass jeder meiner Gedanken nach etwas Verdächtigem durchstöbert wurde.
Ich grunzte, was gleichermaßen Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken könnte, und ließ meinen Blick weiterschweifen. Die Geschwister Luca und Lisa flüsterten miteinander. Ihr ständiges Getuschel machte mich wahnsinnig. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie über mich sprachen. In diesem Moment blickte Luca über die Schulter in meine Richtung. Ich glaubte, Häme auf seinem blassen Gesicht zu sehen.
Ich ballte in meinem Schoß die Hand zur Faust, versuchte, mich durch den aufblühenden Schmerz vom Wispern der Geschwister abzulenken. Sie redeten bestimmt nicht über mich.
Umständlich stopfte ich das Buch in die vordere Hülle meiner schweren Reisetasche, in der ich alles aufbewahrte, was ich für eine Austreibung brauchte. Trotz meiner peniblen Vorbereitung fühlte ich mich ausgeliefert. Am liebsten hätte ich meine Waffen immer griffbereit getragen. So könnte ich nur eine Pistole, die ich im Schulterholster verborgen unter meiner Lederjacke trug, sofort ziehen. Ich fühlte mich albern ohne meinen Mantel und die Schutzweste. Die Lederjacke konnte mich nicht auf die gleiche Weise schützen. Trotzdem trug ich Leder und Schwarz, die Zeichen der Austreiber. Schließlich besaß ich kaum andere Kleidungsstücke. Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass jeder an Bord mich längst durchschaut hatte. Ich saß hier in meiner affigen Maskerade wie auf dem Präsentierteller. Am liebsten hätte ich mich unter dem Sitz verkrochen.
Ich warf Jako einen verstohlenen Blick zu, doch er hatte seine Näharbeiten wieder aufgenommen und beachtete mich gar nicht.
Meine eigene Paranoia würde mich noch in den Wahnsinn treiben. Eigentlich hatte ich Nerven wie Drahtseile und eine eiserne Selbstdisziplin. Sechzehn Austreibungen hatte ich erfolgreich abgeschlossen. Doch so wie während dieser Fahrt hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich war seit Tagen extrem angespannt, und der winzigste Lufthauch ließ mich aufschrecken.
Direkt hinter dem Busfahrer saß eine ungefähr fünfzigjährige Frau. Ihr Name war Bine. Sie machte sich seit Tagen wichtig, indem sie dem Busfahrer bei jeder Kreuzung die richtige Abzweigung zurief. Dabei war ich mir sicher, dass Sem den Weg genau kannte. Der magere Mann mit den tätowierten Armen ließ die Belehrungen jedoch wortlos über sich ergehen.
Vor Bine fürchtete ich mich. Ihren regelmäßigen Streitigkeiten mit Luca hatte ich entnommen, dass sie eine glühende Unterstützerin des Puppenspielers und eine erbitterte Gegnerin der Austreiber war. Anfeindungen wie diese hatte ich in Jurnengand schon am eigenen Leib erfahren. Viele Jurnengander hassten die Austreiber. Obwohl Bine nicht wissen konnte, dass ich eine Austreiberin war, fühlte ich mich von ihr bedroht. Als sie sich auf ihrem Sitz umdrehte und einen Blick über die Schulter warf, war ich mir beinahe sicher, dass sie dabei nur mich ansah.
Ich hatte die vergangenen drei Monate in Jurnengand verbracht. Meine Austreiber-Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Neuen Menschen, brauchte jeden Mann und jede Frau für die Jagd auf den Puppenspieler, den selbsternannten Herrscher der Stadt. Jurnengand war seitdem ein Schlachtfeld. Meine Handflächen prickelten, wenn ich an das Blutbad in dem Klub dachte, wo sich der Puppenspieler versteckt gehalten hatte. Ich hatte im Eifer des Gefechts Unschuldige getötet. Ich war schuldig. Ich konnte verstehen, warum viele Städter wollten, dass wir aus Jurnengand verschwanden. Aber der Puppenspieler musste eliminiert werden. Er war ein Achan, ein widerlicher Parasit, der seine Macht aus der Lebensenergie anderer Menschen zog.
Ich versuchte, den Gedanken an den Puppenspieler aus meinem Kopf zu verbannen. Juri, unser Spion im Netzwerk der Achanen, hatte mir während der Vorbereitung auf diese Mission eingebläut, wie wichtig Gelassenheit war. Wenn ich allzeit gelassen blieb, dann würde mein Bewusstsein dem Puppenspieler verschlossen bleiben. Wenn ich mich aufregte, könnte er in mir lesen wie in einem offenen Buch. Mit jedem Tag fiel es mir schwerer, diese Instruktionen umzusetzen.
Der Puppenspieler war an Bord dieses Busses. Dadurch, dass Juri dies erst letzte Woche in Erfahrung gebracht hatte, war meine Vorbereitungszeit denkbar knapp ausgefallen. Doch die Mission ehrte mich. Im Sinne meiner Brüder und Schwestern – und im Sinne der gesamten Menschheit – musste ich dafür sorgen, dass der Puppenspieler niemals am Ziel, in der Festung, ankäme.
Zwei von fünfen waren meine Zielpersonen. Der Puppenspieler und sein Partner, mit dem er mental verbunden war. Ich musste sie identifizieren und eliminieren, bevor sie mich entdeckten. Mein Vorteil war, dass sie nicht mit mir rechneten. Ich wiederum wusste, dass sie hier waren.
Ich hatte die Ermordung aller meiner Mitreisenden im Kopf schon durchgespielt. Luca war ein schlaksiger Mann. Groß, aber nicht sonderlich wehrhaft. Er hatte etwas Verschlagenes an sich mit den kleinen Augen hinter den dicken Brillengläsern. Seine Schwester Lisa war kräftiger und sportlicher. Ihre Wehrhaftigkeit konnte ich nicht genau abschätzen. Ich musste sie überraschen, um sie risikolos ausschalten zu können. Sem war ein ähnliches Kaliber wie Luca. Allerdings war er mir sympathisch mit seiner gelassenen Art und seinen klaren, blauen Augen, was es schwerer machen würde, ihn zu töten. Ich durfte kein Mitleid haben.
Um Bine machte ich mir keine Gedanken. Sie war älter als die anderen Fahrgäste. Da das achanische Paar jedoch immer in einem Alter war, konnte ich sie ausschließen.
Jako war derjenige, der mich beschäftigte. Er schien immer hellwach zu sein. Ich hatte ihn während der ganzen Fahrt nicht schlafen sehen. Er trug eine schwere Lederjacke, die er niemals ablegte, doch ich konnte seinen kräftigen Körperbau darunter erahnen. Er bewegte sich durch den Gang des Busses wie ein Mann, der seinen Körper gut kannte – wie ein Krieger. Wenn ich einem brutalen Kampf entgehen wollte, musste ich ihn innerhalb eines Augenblicks ausschalten. Eine zweite Chance würde er mir nicht geben.
Falls wir die Festung erreichen sollten, bevor ich den Puppenspieler und seinen Partner identifiziert hatte, würde ich alle vier Verdächtigen töten. In dem Wissen, zwei Unschuldige zu ermorden. Ich hatte jeden Schritt dieser Austreibung bereits geplant. Erst würde ich Jako von hinten in den Kopf schießen. Er wäre tot, noch bevor er überhaupt wusste, wie ihm geschah. Danach würde ich durch den Gang laufen. An Luca vorbei aus nächster Nähe auf Lisa schießen, Luca eventuell mit einem Arm abwehren. Ihn danach töten. Anschließend nach vorne laufen, Bine beiseite schubsen, falls sie aufgesprungen sein sollte. Sie konnte weiterleben. Wenn alles glatt liefe, würden vielleicht zwanzig Sekunden vom ersten Schuss bis zu dem Moment vergehen, in dem ich vorne ankäme. Sem hätte Zeit, den Bus zu stoppen und zu fliehen. Am besten begann ich die Austreibung auf einem freien Feld, wo ich freies Schussfeld auf Flüchtige hätte.
Obwohl ich mir nichts mehr wünschte, als diese Austreibung zu einem schnellen Ende zu bringen, musste ich die verbleibende Zeit nutzen. Die Eliminierung aller Passagiere war die letzte Möglichkeit, die ich ergreifen durfte. Wir hatten einen schlechten Ruf in Jurnengand, weil wir bereits einige Unschuldige auf dem Gewissen hatten. Nach der Beseitigung des Puppenspielers mussten wir jedoch noch die Austreibung der restlichen Achanen in der Stadt zum Abschluss bringen. Bisher stellten sich die Städter oft unseren Jagden in den Weg, versteckten sogar Achanen und taten alles, um uns aus Jurnengand zu vertreiben. Es würde schlimmer werden, wenn ich alle Insassen des Busses zur Festung tötete.
Ich musste für eine Weile in Gedanken versunken gewesen sein. Als Bine sich plötzlich von ihrem Sitz erhob, schrak ich zusammen.
Sie postierte sich vorne im Gang, die Hände in die Hüften gestemmt, und reckte energisch das Kinn. „Hört mal zu! Ich muss euch etwas sagen“, rief sie den Bus hinunter.
Ich wechselte einen Blick mit Jako, der seine Näharbeit sofort aus der Hand legte. In seinen hellen Augen glitzerte ein Anflug von Beunruhigung. Die Geschwister setzten sich aufrechter hin. Ich ahnte, dass sogar Sem einen Blick in den Rückspiegel auf Bine warf.
„Ich habe herausgefunden, dass Austreiber an Bord dieses Busses sind“, verkündete Bine. Sie machte eine kunstvolle Pause. Ich glaubte, ein Zucken von Ärger in ihrem Gesicht zu sehen, dass keiner bei ihren Worten entrüstet aufsprang.
Mit zittrigen Fingern zog ich den Reißverschluss meiner Jacke ein Stück weit nach unten und tastete nach meiner Pistole. Ich versuchte, nur an die gelben Buchseiten und ihren muffigen Geruch zu denken, als könnte ich auf diese Weise die Furcht aussperren. Ich war enttarnt. Ich musste mich zusammenreißen, musste in jedem Falle gelassen bleiben. Ich zwang mein Herz zur Ruhe, erstickte die Angst wie eine Kerzenflamme zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Sie glauben wohl, dass der Puppenspieler an Bord ist“, fuhr Bine fort. „Wenn er wirklich hier sein sollte, habe ich eine Information für ihn. Sie sind hier. Sie wollen dich töten. Du musst sie zuerst töten.“
„Was redest du da?“, mischte Luca sich plötzlich ein. Er sprang von seinem Sitz auf und stellte sich Bine entgegen. „Wenn er hier wäre und wenn Austreiber hier wären, dann wüsste er es doch längst!“
Jako erhob sich ebenfalls. „Niemand wird irgendwen töten“, sagte er laut. „Ja, ich bin ein Austreiber. Aber ich bin ein Mensch wie ihr. Ich fahre über die Feiertage in die Festung. Ich habe Ferien wie ihr.“
Ich starrte ihn an. Er versuchte sichtlich, gelassen zu wirken, doch aus der Nähe konnte ich sein Augenlid zucken sehen. Sein Blick schoss im Bus herum. Natürlich. Ich atmete auf. Er trug eine Lederjacke und schwere Stiefel wie ich. Er war ein Kämpfer wie ich. Eine andere Gemeinschaft musste über ähnliche Informationen verfügen wie die Neuen Menschen. Ich war nicht die einzige Austreiberin, die entsandt worden war.
Das schränkte den Kreis der Verdächtigen auf drei Leute ein. Und ich war nicht mehr alleine. Die beklemmende Angst, die ich seit Tagen verspürt hatte, erhob sich federleicht von meinem Herzen, wich Erleichterung.
„Wer’s glaubt, wird selig“, schnaubte Bine. „Ich frage mich, wieso ihr nicht einfach eine Bombe in den Bus geworfen habt. Zwei Unschuldige getötet, aber auch der Puppenspieler und sein Partner. Wäre doch eine gute Bilanz für Verbrecher wie euch. So sieht’s nämlich aus, Luca“, setzte sie verächtlich hinzu. „Das Leben von Gewöhnlichen ist denen nichts wert.“ Sie machte einen Schritt auf Luca zu.
„Fass meinen Bruder nicht an!“, brüllte Lisa auf einmal. Sie stürmte durch den Gang auf Bine zu, baute sich neben ihrem Bruder auf. Ich sah etwas Schweres in ihrer Hand und sprang ebenfalls von meinem Sitz auf.
Bine lachte, als Lisa mit der Pistole, die sie in den Händen hielt, auf sie zielte. „Ihr seid Mörder genau wie die Austreiber“, zischte sie. „Der Puppenspieler würde das nicht zulassen!“ Sie streckte blitzartig die Hand nach der Waffe aus.
Der Puppenspieler eilte ihr nicht zur Hilfe.
Etwas explodierte. Blut sprenkelte die Sitze und spritzte auf die Windschutzscheibe. Der Bus machte einen Satz zur Seite, der mich von den Beinen riss. Ich hörte ein Splittern, ein Kreischen wie von einem verwundeten Tier, als der Bus an einer Felswand entlangschrammte und endlich zum Stehen kam.
Als ich mich aufsetzte und meine Pistole zog, hatte ich einen metallischen Geschmack im Mund. Trotzdem war ich blitzschnell vorne angelangt, schob mich gewaltsam an Jako vorbei. Lisa lag noch auf dem Boden. Ich trat die Pistole aus ihren Händen und unter einen Sitz aus ihrer Reichweite.
„Was hast du getan?“, herrschte ich sie an, doch die Frau schluchzte nur.
Jako rappelte sich auf. Anders als ich hatte er keine Waffe gezogen. Er sah unverletzt aus, und er fiel neben der ersten Reihe auf die Knie, zog einen blutüberströmten Körper in seine Arme. Luca kämpfte sich hinter Lisa auf die Beine, Blut sickerte aus seinem dunkelblonden Haar. Der Bus stand auf der Serpentinenstraße an eine Felswand gelehnt, und die Windschutzscheibe wies zahlreiche Risse auf. Sem beugte sich aus seinem Sitz, während seine schlanken Finger vergeblich versuchten, den Sicherheitsgurt zu lösen.
„Scheiße“, rief Jako mit zittriger Stimme, als er an Bines Hals herumtastete. Ihr Gesicht sah seltsam aus, und Jakos Hände waren rot von Blut.
„Jako, steh auf!“, herrschte ich ihn an, ohne die Pistole auf ihn zu richten. „Alle stehen jetzt auf!“, rief ich. „Jeder hält die Hände so, dass ich sie sehen kann.“
Ich drehte mich um, um Lisa mit meiner Waffe zu bedrohen, die sich ebenfalls aufrappelte. Ihr Blick war benommen. Es schnappte, als Sem den Sicherheitsgurt löste. Er erhob sich und streckte die Hände von sich, Handflächen nach oben.
Jakos Miene war schrecklich verzerrt. „Das hätte nicht passieren dürfen“, stellte er fest. „Das hätten wir verhindern müssen.“
Einen Moment war ich versucht, ihm beizupflichten. Dass eine Mitreisende die einzige Person erschoss, die ich als Achanin ausschließen konnten, war furchtbar. Doch dann stutzte ich. Etwas an seinen Worten stimmte nicht. Etwas an seinen Worten ließ mich instinktiv aufschrecken.
Er hatte nicht mit mir gesprochen. Er hatte nicht sich und mich gemeint. Ich hatte diese Pluralform schon gehört. Es war derart charakteristisch, dass ich beinahe gelacht hätte. So wie alle Achanen, die einige Jahre im Denken und Fühlen mit einem Partner verbunden waren, sprach Jako im Plural von sich selbst.
Er war kein Austreiber. Er hatte sich bloß Zeit verschafft, um die echte Austreiberin an Bord zu identifizieren. Beinahe wäre ich darauf hereingefallen.
„Nun ist es passiert“, sagte ich und hoffte, dass niemand mein Zögern bemerken würden. Mir blieben wahrscheinlich nur noch Augenblicke, bis der Puppenspieler mich enttarnte. Ich musste kühlen Kopf bewahren.
Ich zwang mich, einmal tief durchzuatmen. Noch viel wichtiger war, dass ich sofort erkannte, wer der Puppenspieler war. Ich musste ihn jetzt ausschalten.
Jako wischte sich schaudernd über die Stirn. Genau über die Stelle, an der Luca verletzt worden war. Als könnte er dessen Wunde spüren.
Da wusste ich es.
Er hatte sich mit Bine angelegt. Er hatte seine Schwester dazu gebracht, diese Fahrt zu einer Chaosfahrt werden zu lassen. Chaos war das wichtigste Werkzeug des Puppenspielers. Überall, wo er verschwinden musste, richtete er Chaos an. In all dem aufgewirbelten Staub machte er sich unsichtbar.
Blitzartig richtete ich meine Waffe an Jako vorbei auf Luca. „Du bist der Puppenspieler!“, zischte ich.
Luca riss die Augen auf. „Ich?“
Ich spürte Jakos Atem in meinem Nacken. Ich war schlecht positioniert, und mein Herz raste, als wollte es davonrennen.
„Er?“, fragte Jako verblüfft. „Vera…“ Er holte tief Luft. „Bitte, nimm die Waffe runter. Unseretwegen muss niemand sterben.“
„Wenn du mein Zeuge bist, Austreiber, dann richte ich ihn jetzt hin“, sagte ich und legte den Finger an den Abzug. Es war ein grausamer Scherz – als glaubte ich noch, dass er ein Austreiber war. Als glaubte ich, dass er die Hinrichtung seines Partners bezeugen würde.
„Du hast keine Zeugen, die deine Hinrichtung legitimieren, Vera“, sagte plötzlich Sem mit dunkler Stimme. In seinen Augen schien ein blaues Feuer zu glühen. „Du bist ganz allein.“
Blitzartig ergriff Jako mich von hinten. Eine Hand umfasste meinen Arm, die andere hieb er gegen mein Handgelenk. Ich konnte die Klinge des Springmessers in seiner Faust aufblitzen sehen. Eine Schliere von Rot auf meiner Haut. Als der Schmerz in meinem Handgelenk aufkreischte, musste ich mich konzentrieren, um die Pistole festzuhalten. Ich wollte herumwirbeln, wollte meine Waffe auf Jako richten, doch er hielt meinen Oberkörper umklammert.
Meine Waffe zeigte immer noch auf Sem und Luca. Ich beschloss, wahllos abzudrücken. Einer von den beiden war der Puppenspieler. Vielleicht waren sie sogar beide Achanen.
Mein Finger bog sich um den Abzug. Doch bevor ich abdrücken konnte, fielen plötzlich alle Furcht und aller Schmerz von mir ab. Zuerst hatte ich das Gefühl, als hätte man die Welt um mich unter Wasser getaucht, so gedämpft und undeutlich nahm ich sie mit einem Mal wahr. Dann wurde ich auf die seltsamste aller Arten berührt. Im ersten Augenblick dachte ich, dass eine warme Hand sich auf meinen Hinterkopf legte, doch dort war nichts. Die Berührung fand auf einer mentalen Ebene statt, auf der ich noch nie zuvor einen anderen Menschen gespürt hatte.
Jako ließ mich los, doch ich konnte mich nicht bewegen. Der Puppenspieler tauchte sacht in mein Bewusstsein ein und löste meine Finger. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Schlag vor meine Füße.
Ich konnte nicht darauf reagieren. Ich konnte weder Wut noch Furcht spüren. Nicht einmal den Schmerz.
Ich hörte Jakos Worte wie aus weiter Ferne. „Wir haben nie gewollt, dass jemand verletzt wird.“ Seine Stimme zitterte. Ich glaubte ihm sogar. „Vera wusste nicht mit Sicherheit, wer von uns der Puppenspieler ist, aber das ist für sie nicht von Bedeutung. Sie hätte uns alle getötet. Glücklicherweise sind wir keine Mörder, sondern Beschützer. Wir werden jetzt gehen. Macht mit der Austreiberin, was ihr wollt.“
Ich schloss die Augen. Der Puppenspieler musste mich nicht einmal dazu zwingen.
Alles hatte sich so gefügt, wie er es brauchte. Er konnte sich wieder als Held inszenieren. Dabei hatte ich ihm geholfen.