- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 34
Caroline Musselwhite
Caroline Musselwhite kannte den Tag ihres Todes. Sie wusste, dass er nicht morgen oder übermorgen war, sondern in zwei Wochen, am 26. Juli. Ein Mann hatte es ihr gesagt, man hatte ihr damals ein Schreiben geschickt, auf dem es stand, und jeden Tag wurde sie daran erinnert. Sogar die Uhrzeit war ihr bekannt: 10:45 Uhr. Was zu diesem Fluch führte, war der einfache Umstand, dass sie sowohl ihren fünfjährigen Sohn als auch ihre siebenjährige Tochter mit der Schrotflinte ihres verstorbenen Mannes, Stephen K. Musselwhite, ermordet hatte. Ihre Nachbarin, Juliette Bradstreet, war von den Schüssen aus dem Schlaf gerissen worden, denn obwohl Caroline Musselwhite ihre beiden Kinder nah aneinander auf die Bank vor dem Haus gesetzt hatte, war der erste Schuss nur für den kleinen Jungen, Georgie, tödlich, nicht aber für das kleine Mädchen, Lucy. Caroline Musselwhite hatte die Waffe zuvor nie abgefeuert und so war sie vom gewaltigen Rückschlag und der geringen Streukraft überrascht, und musste für Lucy noch einmal nachladen. Lucy hatte keinen Mund mehr, mit dem sie hätte schreien können, aber dennoch krochen elende Geräusche aus ihr, und das wollte Caroline Musselwhite nicht. Doch gerade weil sie sich beim Stopfen der Patrone ins Fach so sehr beeilte, dauerte es bis zum erlösenden Schuss besonders lange. Nachdem Juliette Bradstreet aus ihrem Bett geschlüpft war, um die Vorhänge an dem Fenster zur Seite zu schieben, durfte sie Caroline Musselwhite dabei zusehen, wie sie im Schein der Hausbeleuchtung vor ihren beiden toten Kindern kniend, die Fleischstückchen und Körpersplitter aufkehrte. Das Blut sickerte ins Holz der Veranda. Statt die Polizei zu benachrichtigen, rief Juliette Bradstreet ihren Mann, Carl Bradstreet, an, der zu dieser späten Stunde in einem Fernlaster durch einen Vorort von Carson City, Nevada, fuhr und hochentzündliches Gut transportierte. Carl Bradstreet versuchte seine Frau zu beruhigen, aber die dachte gar nicht daran, sich beruhigen zu lassen, und so musste er sie wegdrücken, um in einem nächsten Anruf das Policedepartment in Oakland zu verständigen. Juliette Bradstreet entfernte sich vom Fenster und zog sich etwas an, weil sie immer nackt schlief, wenn ihr Mann nicht Zuhause war, und sie bestimmt von der Polizei vernommen werden würde. Sie war jetzt keine Nachbarin mehr, sondern eine Zeugin. Nachdem sie die Sirene der Polizeiwägen hörte und das Blaulicht in ihrem Schlafzimmer tanzte, verließ sie ihr Versteck unter der Decke und rannte den Polizisten entgegen, die mit gezogener Waffe auf Caroline Musselwhite zugingen, die auf der Treppe hockte, die Vorbau mit Garten verband. Hätten in ihrem Gesicht nicht Fetzen ihrer Kinder gehangen und wäre ihr Nachtkleid nicht von Blutspritzern verziert gewesen, hätte man sie mit einer Frau verwechseln können, die sich aus Schlaflosigkeit vors Haus gesetzt hatte, um eine Zigarette zu rauchen oder ein Glas Milch zu trinken. Aber selbst wenn sie so hübsch und unangetastet und harmlos ausgesehen hätte, wie am Morgen, als sie vor dem Spiegel stand und mit einem Lippenstift ihren schmalen Mund nachmalte, sie das dunkelblonde Haar zu einem strengen Mittelscheitel kämmte und sich die knochigen Wangen rosa puderte, und statt der einläufigen Schrotflinte eine Packung Marlborozigaretten neben sich liegen gehabt hätte, wären die beiden Kinder auf der Bank hinter ihr nicht zu übersehen gewesen. Und obwohl sie so offensichtlich tot waren, schienen sie in ihrer geschwisterlichen Haltung fast lebendig. Ohne Widerstand ließ sie sich abführen. Die Kusshand, die Caroline Musselwhite ihrer Nachbarin, Juliette Bradstreet, zuwarf, als sie in den Wagen stieg, verstand damals niemand.
Die Schüsse und die Polizeisirenen hatten auch andere Anwohner auf die Straße gelockt und freilich rätselten sie, welches Warum hier am Abzug gewesen war. Der ranghöchste Polizist, Officer Robert Anderson, stand vor den Kindern und sah in ihnen nicht die tote Lucy und den toten Georgie, sondern einen Beweis, den es zu schützen galt. Vielleicht war es sein abgestumpftes Gemüt, vielleicht die Unfähigkeit, die Blicke der Nachbarn von ihren Körpern fernzuhalten, vielleicht aber auch die bloße Tatsache, dass die Kinder keine Gesichter mehr hatten. Was eine Mutter zu solch einer Tat verführte, war die Frage, die durch alle Köpfe geisterte, die Caroline Musselwhite als fürsorgliche und zartherzige Frau kannten, die Handschuhe und Mützen für die Kinder der Siedlung strickte und einmal im Jahr ein Weinfest in ihrem Garten veranstaltete. Die Frage geisterte auch dem Richter und den Geschworenen durch den Kopf, die darüber zu urteilen hatten, was mit der Frau geschehen sollte, die nun keine Mutter mehr war. Ein Psychologe, Dr. Michael Young, wurde zu Rate gezogen.
„Warum wollen Sie wissen, warum ich es getan habe? Ich habe doch gesagt, dass ich es war.“
„Ich möchte herausfinden, inwiefern Sie schuldfähig sind. Nehmen sie Medikamente, haben Sie an dem Abend Alkohol getrunken, wissen Sie von einer psychischen …?“
„Ich habe es getan und ich weiß, dass ich es getan habe, und ich wusste es, als ich es tat. Reicht Ihnen das?“
„Nein“, sagte Dr. Michael Young, aber es musste ihm reichen, denn Caroline Musselwhite schwieg fortan und sagte die ganze Verhandlung über kein Wort mehr. Einzig ein leises „Dankeschön“, nachdem man sie zum Tode verurteilt hatte.
In der gewöhnlichen Gefängniszelle spürte Caroline Musselwhite, dass sie gefangen war. Den Himmel durfte sie nur eine Stunde am Tag sehen und sie mochte es, in den Himmel zu blicken, und ärgerte sich, wenn Wolken ihn verdeckten. Auch, weil sie in den Wolken Spielzeuge erkannte, die sie Georgie oder Lucy zu Geburtstagen oder an Weihnachten geschenkt oder gebastelt hatte. In der Dusche schauten ihr andere Frauen auf die winzigen Brüste mit den zu großen Warzenvorhöfen und auf die Schamlippen, die Caroline Musselwhite unschön herunter hingen. Die anderen Insassen waren Frauen, die ihren Mann im Schlaf erdrosselt hatten, weil er sie schlug oder vergewaltigte oder schlug und dann vergewaltigte oder schlug, während er sie vergewaltigte. Zwei Freundinnen hatten versucht, ein Bestattungsinstitut auszurauben, weil sie gehört hatten, dass die Särge dort über dreitausend Dollar kosteten und weil sie sich gedacht hatten, dass sich das Geld dort befinden musste, wenn Särge verkauft wurden. Siebenhundert Dollar waren jedoch nur in der Kasse und weil der Besitzer, Larry Bergmann, keinen einzigen davon hergeben wollte, vielleicht auch, weil sie nicht wussten, was sie sonst hätten tun sollen, schossen sie ihn tot und legten ihn in einen der Särge. Eine andere Frau, Melanie Rose, die bei altersbeschränkten Filmen gewiss nach dem Ausweis gefragt worden wäre, weil sie wie ein Mädchen aussah, hatte ihre Zwillingsschwester erstochen, weil sie ihr Spiegelbild war, weil sie mit derselben Stimme sprach und weil sie den gleichen Kussmund auf Männer drückte, die sie nie abbekommen hatte. „Es hat sich wie Selbstmord angefühlt“, sagte sie einmal. Das alles waren Gewalttaten, die niemand gutheißen konnte und für die niemand einen Applaus verdiente, aber allesamt waren sie zumindest in einem Maße nachvollziehbar, das unter Gewalttätern geduldet werden konnte. Was Caroline Musselwhite hingegen ihren Kindern angetan hatte, fand keine Duldung und so hätte man ihr gerne das Gesicht im Schlaf zerkratzt oder ihr Haare ausgerissen. Eine Gruppe Gattenmörderinnen plante sogar, ihr Dinge in den Unterleib zu schieben, ein Stuhlbein vielleicht. Aber am Ende traute sich niemand, Caroline Musselwhite stückchenweise etwas von der Gewalt zurückzugeben, mit der sie ihre Kinder aus der Welt gerissen hatte. In der gewöhnlichen Gefängniszelle fühlte sich Caroline Musselwhite geächtet, aber erst in der Todeszelle bemerkte sie, dass sie sterblich war.
„Wie wirst du mich töten?“, fragte Caroline Musselwhite einen Wärter, der sich ihr als Mr. Howard vorgestellt hatte.
„Ich werde Sie nicht töten“, sagte Mr. Howard.
„Wer tötet mich dann?“
„Das weiß ich nicht. Es wird auf jeden Fall ein Arzt und ein Richter dabei sein.“
„So rechtschaffene Personen werden mich töten? Das ist lieb, aber auch sehr befremdlich.“
„In der Tat!“
„Sag mir: Wie sieht der Himmel heute aus?“
„Bald können Sie mir diese Frage beantworten.“
„Wie meinst du das?“
„Sie wissen genau, wie ich das meine! Sie können mir gerne sagen, wie der Himmel aussieht, wenn Sie dort oben sind, aber flüstern Sie mir nicht ins Ohr, wenn ich schlafe, ich habe Angst vor Geistern. Legen Sie mir einen Zettel ins Fach. Das wäre nett.“
Mr. Howard gehörte zu den freundlichsten Wärtern im Todestrakt. Er guckte nicht durch den Essensschlitz, wenn sie auf der Toilette saß und pinkelte, forderte sie nicht jede Stunde auf, sich auszuziehen, um ihre Gefängniskleidung nach unerlaubten Gegenständen zu durchsuchen, und er hatte sie niemals berührt, nicht einmal am Arm oder der Schulter. Sie fragte ihn, warum es keine Frauen unter den Aufsehern gab und Mr. Howard antwortete: „Hier im Todestrakt sind bis zu fünfzehn Bestien eingesperrt, die eine Frau niemals zähmen könnte. Außerdem ist der Teufel selten weiblich. Sie sind die einzige Frau seit fünf Jahren hier.“
Einen Teufel gab es nicht, aber viele, die so ähnlich waren und im Todestrakt unterschied sich manch ein Wärter gar nicht so sehr von seinem Gefangenen. Caroline Musselwhite wusste nicht, woran das lag. Vielleicht war Grausamkeit ansteckend und die beiden Wärter, James Hunt und Adam Blackwell, die in ihre Kleidung ejakulierten, um es ihr darauf wieder zum Anziehen zu geben, konnten vielleicht gar nichts dafür, dass sie so waren, wie sie waren. Hatte sie sich nicht auch bei ihrem Ehemann, Stephen K. Musselwhite, angesteckt, und waren die Kindergesichter, die ihm teuflisch ähnlich sahen, nicht auch die ganzen Jahre über ansteckend gewesen?
Am 25. Juli kam nachts ein Mann in ihre Zelle und setzte sich zu ihr aufs Bett, das merklich nachgab. Er trug einen schwarzen Anzug und kurz überlegte sie, ob es der Tod war, der sich gerade zu ihr gesetzt hatte. Sie erkannte den Mann nicht wieder, so wie man den Tod nicht wiedererkennen konnte. Man sah ihn nur einmal und wenn man viel Glück hatte, erkannte man ihn. Aber wenn man, wie Caroline Musselwhite, eine Begegnung mit ihm erwartete, konnte man die Augen offen halten und ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit sehen. Er war dicklich und alles an ihm war weich. Sogar der Schweiß gerann zwischen seinem Doppelkinn zu etwas Weichem. Er hatte keine Brille auf, aber kleine Abdrücke links und rechts auf seinen Nasenflügeln ließen vermuten, dass er sie nur abgesetzt hatte. Trotz seines abstoßenden Äußeren fühlte sich Caroline Musselwhite zu ihm hingezogen. Und als sie das fleischige Lächeln sah, wusste sie, dass der Mann kein Wärter war und auch niemand, der sich mit dem Teufel angesteckt hatte.
„Wissen Sie, wer ich bin?“
„Nein, das weiß ich nicht“, log sie.
„Heute bin ich der Direktor des Gefängnisses. Sein Name ist Patrick Krenwinkel.“
„Ich heiße Caroline Musselwhite und morgen wird dieser Name auf meinem Grab stehen, wenn ihr so gütig seid, und mir eines buddelt.“
„Tatsächlich haben die Ihr Grab schon ausgehoben und auf dem Holzkreuzchen, das heute Vormittag hergeschickt wurde, steht Ihr voller Name: Caroline Jane Musselwhite, geb. 7. Dezember, 1952, gest. 26. Juli 1983.“
„Bringt das nicht Unglück, so etwas schon jetzt darauf zu schreiben?“
„Und ob das Unglück bringt, Miss Musselwhite.“
„Warum bist du hier?“
„Ich will Sie küssen und ich will, dass Sie mich zurück küssen. Ich will mit Ihnen schlafen. Ich will, dass Sie sich mir völlig hingeben.“
„Einen Wunsch hätte ich noch.“
„Ja?“
„Können wir das unter freiem Himmel machen?“
Caroline Musselwhite verließ das erste Mal seit drei Wochen die Todeszelle. Es war kein Wärter zu sehen. Patrick Krenwinkel führte sie in den dritten Stock und durch die Fenster hindurch sah sie ins Freie. Der Wind spannte die kalifornische Flagge und der Regen klatschte auf den Innenhof, verwandelte ihn langsam in einen kleinen, künstlichen See.
„Da werden wir kaum rausgehen können“, sagte Patrick Krenwinkel.
„Doch, ich will nach draußen“, sagte Caroline Musselwhite. In Krenwinkels Büro hätten zwanzig Todeszellen gepasst. Aber es war die Zelle des Todes, überall dunkles Holz, auf dem Schreibtisch stand ein Tintenglas, in dem eine Feder steckte, und es sah so aus, als wäre in der Nichtfarbe ein Vogel ertrunken. Es hingen keine Bilder im Raum und neben der Schreibmaschine stand kein Familienfoto. Aus einem Schrank, der halb so groß war, wie ihre Zelle, zog er ein Kleid, das er ihr reichte. Es war das Schlafkleid, das sie in der Nacht getragen hatte, als sie ihren kleinen Georgie und ihre kleine Lucy erschossen hatte. Vom Blut waren nur noch blasse Erinnerungen geblieben. Patrick Krenwinkel drehte sich um und Caroline Musselwhite wechselte ihre Kleidung.
Vom Büro aus konnte man durch eine große Fensterreihe in den Innenhof schauen. Ungestüm prasselte der Regen auf den Asphalt. Patrick Krenwinkel betätigte einen Knopf in einem Kasten, der an der Wand schwebte, was die Scheinwerfer im Hof verglimmen ließ und alles in Dunkelheit tauchte. Er nahm ihre Hand und sie versank fast in seinem Griff. Flüchtig betrachtet, war es Caroline Musselwhite, die ihm die Treppe hinab folgte, aber in Wirklichkeit zog er sie in die Tiefe, auch wenn es sich für sie anfühlte, als würde sie nach oben steigen. Er schloss das Tor zum Innenhof auf. Hand in Hand gingen sie in die Mitte des Hofes. Sanft drückte er sie nach unten, wo sich ihr vom Regen durchnässtes Kleid gänzlich vollsaugte. Kalt und nass war der Boden und sie war froh um das wärmende Fleisch, das sich auf sie legte, ihr Kleid nach oben schob und in sie drang. Wie die Nadel einer Giftspritze an der falschen Stelle und zu einem falschen Zeitpunkt. Sie suchte in ihren Erinnerungen nach einem Gesicht, das liebte, aber sie fand keines. Sie schloss die Augen und lächelte ein bisschen.
Juliette und Carl Bradstreet und ihr kleines Baby waren die einzigen, die am Tag der Bestattung vor dem Holzkreuz standen. Das Baby trug kein von Caroline Musselwhite gestricktes Mützchen und auch keine Handschuhe. Carl verstand nicht, warum sie gekommen waren, aber Juliette sagte ihm: „Sie hat mir doch einen Kuss zugeworfen.“