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Caolaidhe
Caolaidhe
Caolaidhe war ein ganz normaler, sechzehnjähriger Junge.
Er wuchs auf, mit seinem fünf Jahre älteren Bruder, hatte einen ganz normalen Vater und eine ganz normale Mutter. Caolaidhe war nicht groß und kräftig, wie er gerne gewesen wäre, nein, er war, nun, sagen wir einmal, durchschnittlich groß, er war auch nicht blond, wie er gerne gewesen wäre, am liebsten gelockt, weil das die Mädchen in seiner Klasse so“süß“ fanden, nein, er hatte natürlich lediglich stinknormal mittelbraunes Haar, mit graugrünen Augen.
Der Haarwuchs ließ an den für sechzehnjährige so wichtigen Stellen noch zu wünschen übrig und auch Rasieren lohnte sich allenfalls alle drei Monate einmal.
Dieses Jahr waren sie nach Norwegen in die Sommerferien gefahren, alle miteinander.
Sie hatten ein altes, windschiefes Bauernhaus am Grönsfjord gemietet, mit steinharten, schmalen Betten, vielen bunten Heiligenbildern an den Wänden und Plumpsklo in der Scheune, draußen, einmal über dem Hof. Ansonsten aber war das Haus urgemütlich und alle, auch Caolaidhe fühlten sich sofort wie Zuhause.
Es war ein gutes Haus.
Das beste aber war, zu dem Haus gehörte noch ein Bootsschuppen, unten am Wasser, und darin befand sich ein Boot und außerdem konnte er von seinem Fenster aus das tiefblaue Wasser des Fjordes sehen.
Das Boot war nicht groß, nein, es war ein für diese Gegend durchaus gebräuchliches Ruderboot, an dessen Ende man, wenn man einen hatte, einen Außenbordmotor befestigen konnte.
Caolaidhe liebte alles was mit Wasser zu tun hatte.
Schon immer trieb ihn eine unbekannte Sehnsucht in Richtung des Meeres, oder, wenn das Meer eben nicht erreichbar war, an Bäche, Flüsse und Seen. Als Kind schon staute er kleine Rinnsale zu kleinen Tümpeln, die dann den weiten Ozean vorstellen mussten und seine selbstgeschnitzten Borkenboote überstanden beachtliche Taifune auf hoher See, bevor sie in den rettenden Hafen einlaufen durften. Alles das aber war nichts gegen das windschiefe Haus, dort am Rande des Fjords, mit dem Bootshaus, dem Boot darinnen und den Möwen, dem Wind, den Wellen. Caolaidhe liebte den fischtangigen Geruch nach Freiheit und Abenteuer, den Duft des Meeres, dessen Ruf er bis in seine tiefsten Träume hinein all die Jahre hindurch vernommen hatte, und nun war er hier, und alles war wirklich und wahr.
Stundenlang saß er am Wasser und träumte sich seine Zukunft, wie sie einmal werden würde.
Er träumte, wie es wäre, wenn er, durch widrige Winde mit dem Boot abgetrieben, plötzlich in Amerika landen würde, dort sein Glück machte, und, schon längst von den Lieben daheim totgeglaubt und vergessen, eines schönen Tages heimkäme, die Haut sonnenverbrannt, und eine Truhe voller Geld... Wie würden sie dann alle um ihn herumstehen und das Wunder bestaunen.
Auch, und besonders die, die ihn vorher nicht mal mit links angesehen hatten. Zum Beispiel die Mädchen aus seiner Klasse, die ihn nur ansahen oder wahrnahmen, wenn es schon nicht mehr anders ging, oder wenn sie etwas von ihm wollten, und keiner in der Nähe war, der es hätte beobachten und weitertratschen können, dass sie mit ihm, dem „Spinner“ redeten.
Es gab sogar Freunde hier, selbst im fernen Norwegen.
Es war eine mit ihnen seit Urzeiten befreundete Familie, die fast samt und sonders aus künstlerisch begabten Menschen bestand. Einer von ihnen spielt Cello und war am selben Tag, im selben Jahr wie er geboren worden, allerdings erst fünf Stunden später als er, wie er sich immer wieder genüsslich vor Augen führte, wenn mal wieder von Veits Fleiß und Ausdauer beim Cello üben die Rede war. Caolaidhe´s Ausdauer bei solchen Dingen, besonders wenn es ums Geige üben ging, gestaltete sich eher mäßig. Dahingegen konnte er stundenlang seinen vielfältigen Gedanken nachhängen, nach seltsam geformten Steinen am Strand suchen, stundenlang auf "seinen“ Fisch an der Langleine warten, oder einfach nur sein, und dieses Sein genießen.
Mit dem Boot durfte er nicht weit in den Fjord hinausrudern, denn seine Eltern erlaubten es nicht, und wenn, dann nur unter Begleitung, aber da war es nicht das selbe. Die Ausfahrten mit dem einarmigen, norwegischen Nachbarn liebte er dagegen sehr und genoss die Freiheit auf dem Wasser, sowie die Tatsache, dass er dem Nachbarn beim Krabbenkörbe Bergen und Aussetzen helfen durfte. Manch ein leckeres, unerwartetes Abendessen brachte er nach jenen Fahrten mit nach Hause, und noch nie hatte ihm Fisch so köstlich gemundet wie der, den er selbst gefangen und ausgenommen hatte. Sogar sein Vater hatte an jenen Abenden lobende Worte für ihn übrig.
Oft nahm er das altersschwache Fahrrad, welches zum Haus dazugehörte, schnallte den Cassettenrecorder auf dem Gepäckträger fest, legte die Genesis-Cassette ein, die ihm sein großer Bruder überspielt hatte, und radelte den Berg hinauf, auf der anderen Seite hinunter, an der Küstenstraße entlang, bergauf, bergab, bis er schließlich nach etwa eineinviertel Stunden in Goksem, dem Ort, an welchem die befreundete Familie wohnte, angelangt war.
Wie fast immer war Veit, sein Altersgenosse gerade am Cello üben.
Man teilte ihm fast immer mit, das dies noch etwa drei Stunden dauere, dann aber habe Veit Zeit für ihn.
Wie immer, wenn Veit noch üben musste, ging Caolaidhe hinunter an die Steilküste, in die Bucht, in der sie sich dann immer zu treffen pflegten. Es war eine kleine Bucht mit vielen großen und kleinen Felsen. Wenn man die Stellen kannte, an denen man gefahrlos ins Wasser steigen konnte, dann war es auch gut zum Baden, nur Sand suchte man hier vergebens.
Zwischen ein paar großen Felsen, ganz nahe am Wasser hatten sie sich ein geheimes Lager gebaut, mit Feuerstelle und Ausguckplattform, aus Treibgut, alten Netzen und ähnlichem Material. Hier spätestens vergaß er, wer er war, woher er kam und wohin er zurückkehren musste, wenn die Ferien vorbei waren.
Hier fühlte er sich frei. Frei vom Vater, der nicht redete, nur befahl, frei von den Hänseleien der Klassenkameraden, die ihn nur duldeten, aber nicht achteten und frei vom inneren, nagenden Zweifel an der Qualität seiner Persönlichkeit. Er war frei von Männern, die ihn begrapschten und ihm feuchte Küsse gaben. Frei auch von der Scham der feuchten Träume, deren Antagonistinnen meistens die unerreichbaren Mädchen aus dem Schulbus oder seiner Klasse waren und ebenfalls frei vom mörderischen Diktat seiner Lehrer, die ihn alleine schon für seine Gegenwart zu hassen schienen.
Etwas abseits vom Lager hatte Caolaidhe einen Lieblingsplatz gefunden. Er lag auf der Landzunge, welche die kleine Bucht vom offenen Meer abtrennte. Er war eine kleine, heidekrautbewachsene Senke, direkt oberhalb einer steilen, etwa fünfzehn Meter hohen Klippe, in deren tiefen Schründen das Meerwasser unaufhörlich stöhnte, fauchte, gluckerte und gurgelte. Man konnte von dieser Klippe weit hinaus auf das offene Meer schauen, zur Rechten bis Kap Lindesnes, nach rückwärts in die kleine, freundliche Bucht mit dem Lager und zur linken erspähte man noch ein paar Schären und einen Zipfel des kleinen Hafens von Goksem.
Caolaidhe zählte die Stunden nicht, die er hier alleine verbrachte.
Wertvoll waren sie für ihn, flüchtig, gleich dem Schwerelos scheinenden Flug der großen Raubmöwen die ihn graziös umkreisten und denen er nachträumte.
Auch heute saß Caolaidhe wieder auf seinem windgeschützten, duftenden Lieblingsplatz und starrte weit hinaus auf See.
Er sah die Masten und Schornsteine eines fernen Schiffes am Horizont vorbeiziehen und fragte sich, wohin es wohl unterwegs war. Er spürte die Sonne des Nordens auf seiner Haut, schmeckte den Hauch des Meeres auf seinen Lippen und lauschte dem Konzert von Wellen, Möwen und Wind, die ihm mit ihrer ewigen Melodie einen seltsamen, inneren Frieden zu schenken schienen.
Caolaidhe sah eine Küste von oben. Fast so, wie wenn man aus dem Fenster eines Flugzeuges schaut.
Er sah eine wildzerklüftete Küste, über deren felsig-grauem Grün Möwen ihre silbernen Bahnen zogen.
Er sah, das sonnenglitzernde Meer mit großen Wogen an die Küste stürmen und in diamantenen Schauern daran zerschellen. Er sah die Büsche und die kleinen Krüppelkiefern, standhaft ins graue, rissige Felsgestein gekrallt, um alle Stürme zu überstehen sich im Wind wiegen, und er sah einen kleinen Knaben sitzen, mitten im Heidekraut, reglos im Schneidersitz.
Er begann über jenem seltsam reglosen Knaben zu kreisen.
Jung sah er aus, klein, knabenhaft, mit Norwegerpullover und verwaschenen Jeans bekleidet.
Die Haare des Knaben wehten im Wind.
Sie waren mittelbraun.
Dann wollte er dem Knaben in die Augen sehen.
In jenem Moment ließ sich der Knabe aus dem Schneidersitz, in dem er vorher reglos verharrt hatte, auf den Rücken fallen und schaute in den Himmel, Caolaidhe mitten ins Gesicht.
In dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, war Caolaidhe, als stürze er ins Bodenlose, mitten in diese grüngrauen Augen des Knaben hinein, tief hinein in sein inneres Selbst.
Verwirrt schaute Caolaidhe sich um, nachdem er so etwas wie einen Schlag ins Gesicht gespürt hatte. Niemand war zu sehen, weit und breit keine Menschenseele. Nur er, der Wind, die Wellen, die Küste, die Sonne und die ewig schwerelosen Möwen teilten diesen Tag.
Jahre später noch, erstand vor Caolaidhe´s Inneren Augen die Fjordlanschaft Südnorwegens auf´s neue, wenn er die betreffende Platte von Genesis hörte.
Jahre später erst, erkannte Caolaidhe, dass er dieses eine Mal wahrhaftig frei gewesen war.