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Caicoun vor Augen

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15.04.2002
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Caicoun vor Augen

Erien ging den endlosen Weg entlang, und er hatte den Eindruck, er würde ihn für immer entlang gehen. Links und rechts gab es nichts, keine Häuser, keine Felder, kein Schnee. In ihm gab es nur den Schmerz. Er schien gewandert zu sein. Mit stumpfen Zähnen schien ein hungriges Wesen ihn von innen zu zerkauen. Flach ging sein Atem, seine Muskeln waren verkrampft, aber er spürte sie nicht. Der hoch gewachsene, kräftige Händler schob seine Hand in die abgegriffene Tasche und holte ein weiteres Bündel Siwa hervor. Die Kräuter linderten ein wenig den Schmerz.
Sein Blick fiel auf den kleinen Neiri. Der braunhaarige Junge hatte letzte Nacht seine Mutter verloren, jetzt trottete er mit gesenktem Kopf vor Erien her und warf ihm ab und zu einen schüchternen Blick zu. Xung und Zuura waren ihm nicht wohl gesonnen. Vielleicht war die Begegnung mit dem Jacreiin auch nicht sein erstes schlimmes Erlebnis gewesen, denn er schien das Gewicht einer schweren Vergangenheit zu tragen.

Erien ging den Weg entlang, seine Schritte flogen leicht, Caicoun war nicht mehr weit, vielleicht noch einen Tag. Die Kräuter und Gewürze, die er bei sich trug, wogen nicht viel, aber würden in der feinen Stadt gute Preise erzielen. Ein Geräusch unterbrach seine Gedanken. Ein Schrei? Erien hielt an und horchte. Der Wind streichelte die Blätter des dichten Waldes, einige Buchen ächzten. Ein Gelbschnabel schreckte am Wegesrand hoch und flatterte schimpfend ins Unterholz. Wieder der Schrei! Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, und Erien rannte los. Schnellte über dicke Zweige, umkurvte Baumstämme und Büsche. Wieder der Schrei einer Frau. Verzweifelt. Schrill. Ein Ast schlug Erien ins Gesicht, er stürmte weiter. Strauchelte, sprang außer Atem weiter. Die kalte Luft schmerzte. Da vorne war sie, zusammen mit einem Jungen. Sie versuchte, ihn zu schützen. Zu schützen vor ... Erien stoppte, keuchte. Es war ein Großer Grauer Jacreiin, dessen Beine so zahlreich und schnell waren, dass niemand sie zählen konnte. Mit zitternden Fingern zog Erien sein Blasrohr hervor. Der kleine, vergiftete Pfeil würde das magische Wesen nicht töten, aber vielleicht aufhalten. Wenn er es traf. Es hatte sich bedrohlich vor der Mutter und ihrem Kind erhoben, der Junge versuchte wegzulaufen, aber seine Mutter hielt ihn fest, wollte ihn nicht allein dem Wald überlassen. Ihre weit aufgerissenen Augen fixierten den Jacreiin, während sie zurück wich. Erien nahm das Blasrohr an die Lippen, trat einen Schritt zur Seite. Erst jetzt bemerkte die junge Frau ihn, keuchte, wendete ihren Kopf dann aber wieder dem Grauen Jacreiin zu, der aggressiv zischte. Jetzt richtete er sich weiter auf, entblößte seine weiche Brust. Jetzt oder nie. Erien holte tief Luft, zielte und schoss den Pfeil ab. Er traf den Jacreiin in den Bauch. Der schien das zunächst gar nicht zu bemerken, doch dann beugte er sich hinunter und versuchte, den Pfeil mit seinen Greifarmen heraus zu ziehen. »Schnell weg«, zischte Erien, griff nach dem Arm der Frau und zog sie mit sich. Sie rannten durchs Unterholz. Sahen sich immer wieder um. Der Junge stolperte. Rappelte sich hoch, rannte weiter, mit verkniffenem Gesicht. Sie erreichten den Weg. »Wir müssen weiter laufen«, keuchte Erien, »raus aus dem Wald.« Sie flohen hinaus zwischen die Felder, und die Sonne verschwand hinter grauen Wolken. Die Mutter des Jungen war jung und schlank, sie roch gut. Ihre langen Haare fielen auf ihre Schultern, und ihre grauen Augen sahen müde aus. Am Nachmittag, als sie nahe einem Maisbauern rasteten, begann es zu schneien.

Erien ging den endlosen Weg entlang. Normalerweise erzählte er sich unterwegs selbst Geschichten, die er gleichzeitig erfand, um sich die Zeit zu vertreiben. Heute nicht. Heute hoffte er nur, dass seine eigene Geschichte nicht kurz vor Caicoun verkrümmt und tot enden würde. In der kleinen Stadt gab es Heiler, die ihm helfen würden, was auch immer ihn quälte. Der Händler musste immer wieder daran denken, dass Aelana, Neiris Mutter, die gleichen Schmerzen gequält hatten. Sie hatte es nicht überlebt. Es war so unheimlich schnell gegangen. Geina hatte sie zu sich genommen.

Erien ging den Weg entlang. Hörte Aelanas Stöhnen. Eilig legte er die letzten Schritte zu der kleinen, verfallenen Hütte zurück, die in dieser Nacht ihr Schutz vor der Kälte sein würde. Unter der dünnen Schneedecke hatte er nur wenig brauchbares Feuerholz gefunden, aber es sollte genügen, um den Jungen, seine Mutter und ihn selbst warm zu halten. Sein Atem bildete eine weiße Wolke im Licht der kleinen Lampe, die den Raum kaum erhellen konnte. Aelana lag zusammen gekrümmt am Boden, ihr Sohn saß neben ihrem Kopf. »Es tut ihr weh«, sagte Neiri, »sie wird zu Geina gehen.«
»Wird sie nicht«, beharrte Erien, »denn sie wird noch gebraucht. Zuura hat keine Macht über sie.«
»Bestimmt frisst ein Jacreiin sie von innen auf«, weinte Neiri, » habe ihn gerufen. Ich dachte erst, er kommt nicht ...«
»Rede nicht so einen Unsinn«, wies Erien den Jungen zurecht, »Sie hat etwas übles gegessen.« Er warf das gesammelte Holz neben die Feuerstelle und holte erneut Siwa aus seiner Tasche. Er gab der fröstelnden Aelana die Kräuter. »Nimm das, es wird deine Schmerzen lindern.« Mit zitternden, verkrampften Fingern schob sie sich die grünen Stengel zwischen die Lippen. Erien erwischte sich bei dem Gedanken daran, dass er im Laufe des Nachmittags gehofft hatte, Aelana würde in dieser Nacht das Lager mit ihm teilen. Seine Männlichkeit hatte ihm daraufhin arg zu schaffen gemacht, bis die Schmerzen sich Aelana bemächtigt hatten. Nun war nicht mehr an eine Vereinigung zu denken, nur noch an ihre Krankheit. »Wir erreichen morgen Caicoun«, sagte Erien.
»Bitte ... die Gnädige Ewina«, keuchte Aelana, »dass ich ...« Ihre Stimme brach, ein neuer Anfall erfasste sie. Ihre Augen, ihr Gesicht, ihr ganzer Körper verkrampften sich vor Schmerz.
»Ich werde für dich beten.« Eriens Stimme war belegt. Sie hatten schon am frühen Abend Halt machen müssen, bevor sie Loudwen, die nächste kleine Ansiedlung, erreicht hatten, wo sie eigentlich hatten übernachten wollen. Aelana hatte keinen Schritt weiter gehen können. Wenn es ihr am Morgen nicht besser gehen würde, würden sie einen Wagen anhalten.
Aber dazu kam es nicht. Erien bat Ewina, sie möge Aelana die Schmerzen nehmen. Neiri betete mit ihm, als seine Mutter Blut hustete. Irgendwann übermannte die Müdigkeit Erien, und als er beim ersten Licht des Morgens erwachte, sah er Neiri neben seiner bleichen, bewegungslosen Mutter sitzen.

Erien ging den endlosen Weg entlang. Zwang sich Schritt für Schritt vorwärts. Sein Bauch schien glühende Glasscherben zu enthalten. Er hustete und spuckte Blut. Neiri ging einige Schritte vor ihm und drehte sich zu ihm um. »Hunger«, sagte er leise und richtete seine großen, blauen Augen auf den Händler, »der Jacreiin hat Hunger.«
Erien wischte seine blutige Hand im Schnee am Rand des Weges ab. Er kniff die Augen zu und sog die eiskalte Luft ein. »Es ist nicht mehr weit ... bis Caicoun«, stieß er hervor. »Wir sind bald da ...« Er presste die Hand auf seinen Bauch. Es fühlte sich an, als steckte ein schartiges Schwert darin, das sich ständig bewegte. Nur noch dreißig mal hundert Schritte bis Caicoun. Hinter dem nächsten Hügel stieg Rauch auf, der Rauch der Stadt, das Zeichen der Menschen, die ihre Öfen heizten und dem Winter trotzten. Erien sah sich zusammen mit Neiri in einem warmen Zimmer, den Jungen tröstend, einen heißen, lindernden Aufguss trinkend.
»Ich will zu Papa«, sagte Neiri, »er versteht mich. Du verstehst nicht.«
Der Händler stöhnte, er wollte sich jetzt auf keine Diskussion mit dem Jungen einlassen. Schritt für Schritt vorwärts, nicht an die Schmerzen denken. Er würde Neiri mit sich nehmen. Wenn er größer war, würde er mit ihm zusammen gute Geschäfte machen, mit Kräutern und Gewürzen, vielleicht auch mit Öl oder Sämereien. Sie könnten einen Wagen kaufen und weiter umher reisen.
Plötzlicher Schmerz. Erien fand sich am Boden kniend, vornüber gebeugt. Er würgte, spuckte Blut und Schleim. Rang nach Luft, hechelte, stützte sich mit einer Hand in den Schnee, spürte die eisige Kälte kaum. Er sah Neiri an, der vor ihm stand und zu ihm hinunter sah.
»Ich habe Spielkameraden gerufen«, sagte Neiri mit seiner hellen Stimme, »manchmal scheinen sie nicht zu kommen..«
»Spielkameraden?« Erien wusste überhaupt nicht, wovon Neiri sprach. Er hustete, schmeckte Blut.
»Krabbeltiere, spiele gerne mit ihnen«, plapperte Neiri, »kommen, wenn ich sie rufe. Große oder kleine. Jacreiin. Einer in Mama, wollt ich nicht. Einer in dir.« Sein letzter Satz klang wie ein Sieg.
Erien presste die Hand auf seinen Bauch. Etwas schien sich darin zu bewegen. Er sah den Jungen fassungslos an. Öffnete seinen Mantel. Riss sein Hemd auf. Sein Bauch zuckte. Ihm wurde übel, er musste sich übergeben, spuckte hellroten Schleim.
»Spielkameraden«, sagte Neiri leise, »essen Erwachsene.«
Der Händler konnte nicht antworten. Er kippte auf die Seite.
»Ein Zauberer bin ich, hat Papa gesagt. Das stimmt.« Neiri kniete sich vor Erien auf den Boden. »Mama hat gesagt, er soll das nicht sagen und soll gehen. Ich will ihn suchen. Meinen Papa.«
Erien bekam keine Luft mehr. Immer mehr Blut war in seinem Mund.
»Ich gehe jetzt meinen Papa suchen«, verkündete der Junge, stand auf und ging den Weg entlang.
Am grauen Himmel flogen eilig Gänse vorbei. Von da oben, dachte Erien, können sie Caicoun sehen.

 

Hi Theo,

danke für den Kommentar!
Ja, die Story ist wirklich stark auf die Pointe - oder besser, die seltsame Fähigkeit des Jungen - ausgerichtet.

 

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