C-4
Ist die Schuldfrage erst einmal geklärt, ist das eigene Gewissen nur noch eine Mauer aus Styropor, die es einzureißen gilt. Eine moralische Instanz, die sich im laufe der Jahre aus gesellschaftlichen Zwängen und Eigenerhaltungstrieb klammheimlich um den nach mehr und viel mehr dürstenden Geist gebildet hat.
Der Geist im Kopf jedes Menschen, der versucht aus festgefahrenen Strukturen auszubrechen und Grenzerfahrungen zu sammeln. Der kleine Mann der sich, sofern er jemals in den Genuss einer x-beliebigen Droge gekommen ist, mit seinen schreien nach mehr, Gehör zu verschaffen versucht. Ein kleiner Diktator, der sich auf Manipulation nur zu gut versteht.
Er erklärt dem Konsumenten, dass er durchaus nicht selbst für seine Situation verantwortlich ist. Seien die Symptome Hemmungslosigkeit, Werteverfall, Depression oder Schuldgefühle. Schuld ist die Gesellschaft, die Eltern, die Menschen, die in der Vergangenheit immer enttäuscht haben.
Gut, dass stets chemische Hilfsmittel zur Hand sind, die den Geist klar und den Verstand am Limit halten.
„Verdammte Selbstreflexion“, murmelte Tom und legte seinen Block samt Kugelschreiber auf den blitzblank geputzten Glastisch vor sich. Es roch nach Reinigungsmittel. Die Flasche war neben einer Rolle Küchentücher das einzige, das auf dem Tisch vor ihm Platz fand.
Er musste schon wieder pissen, obwohl er erst vor gefühlten fünf Minuten auf dem Klo gewesen war. Die zehn Meter Weg von der relativ gemütlichen Couch zum Badezimmer wurden von Stunde zu Stunde beschwerlicher. Als er aufstand bemerkte er, dass sein Gleichgewichtssinn nicht mehr der seine war. Irgendeine unkoordinierte Person hatte Einzug in seinen Körper gehalten. Kleine farbige Punkte verdeckten mindestens ein Viertel seines Sichtfeldes. Seine Knie wurden weich. Er ergab sich seinen müden Gliedmaßen und ließ sich zurück auf die Couch fallen.
„Was kann ich nach fast vier schlaflosen Tagen schon noch erwarten?“, dachte er sich angespannt.
Er würde bald noch etwas mehr konsumieren müssen. Nur eine Kleinigkeit um sich frisch zu machen. Schließlich hatte er es...wem eigentlich... versprochen wach zu bleiben? Irgendeinem mit dem er vor ein paar Tagen diese 'Party' begonnen hatte, wollte jedenfalls irgendwann auf einen Kaffee und wahrscheinlich eine Linie aus starkem Weißen vorbeikommen.
„Diese Freaks!“ Ein Lächeln zog sich über Toms Gesicht, als er sich, nur mit Boxershorts und einem weißen, viel zu großem T-Shirt bekleidet, ins Bad schleppte. Dort angekommen (Zehn Meter können so verdammt lang sein) schaltete er das Licht ein und fixierte die Kloschüssel. Vor diesem Monument der Menschheit ließ er bereitwillig die Hose herunter. Sekunden können sich wie Minuten anfühlen wenn die Blase bis zum platzen gefüllt ist, aber irgendjemand das Ventil mit einer Rohrzange einmal zu oft festgedreht hat.
„Denk einfach an einen Wasserfall“ sagte Tom zu sich selbst. Ein rauschender Bach erschien vor seinen Augen, der eine meterhohe Klippe herunterstürzte. Laut aufbrausend versorgte er den kleinen See am Fuße des Wasserfalls mit immer neuem kühlen Nass.
Tom merkte wie der Sturzbach süße Realität annahm und die Porzellanschüssel mit einer nicht enden wollenden Flut dunkel gelber Flüssigkeit füllte.
Er musste dabei an seine Freunde denken. Es war aufmunternd zu wissen, dass es Leute gab, die gerade dem selben geistigen, wie körperlichen Verfall ausgesetzt waren. Oder hatten sie doch schon schlapp gemacht und würden in einem 20-stündigen Amphetaminkoma ihren Rausch ausschlafen?
Tom drückte auf die Klospülung. Danach beging er einen folgenschweren Fehler. Statt sich verrichteter Dinge wieder ins Wohnzimmer zu begeben, folgte er der Hygienenorm. Er wusch sich nach dem Urinieren die Hände. Nicht das angenehme Waschen an sich war falsch. Das lauwarme Wasser fühlte sich wunderbar auf den Händen an. Der Blick in den Spiegel über dem Waschbecken war das eigentliche Desaster, welches ein Meer aus schmerzenden Flammen in seinem Kopf auflodern ließ.
„Falls es stimmt, dass die Augen eines Menschen dessen Seele wieder spiegeln, kann ich unmöglich eine haben,“ dachte er sich, während immer noch warmes Wasser durch seine Hände rann.
Zwei starrende Fremdkörper in seinem Gesicht, vor deren dunkelgrüner Leere er jedes Mal erschrak, wenn er sich in diesem Zustand betrachtete. Sie erinnerte ihn an leergefischte Ozeane, an ausgedörrte Landstriche und an die Einöde aus Beton, die Menschen wie er als ihren Lebensraum bezeichneten. Klare Bilder eines trüben Gemüts.
Doch nicht nur seine Augen zogen ihn hinab in den Schlund der grässlichen Realität. Er war 25 Jahre Alt aber der Mann, den er im Spiegel sah, erinnerte ihn an einen 45 jährigen Kerl, den schon viel zu viel in seinem Leben gezeichnet hatte.
Die wenigen Pickel waren nebensächlich. Doch diese unglaublich fahle Haut, diese violetten Ringe unter seinen Augen, die Poren welche große Krater in seinem ehemals glatten, fast kindlichen Gesicht bildeten, waren Anlass genug in eine innere Unruhe zu verfallen die an Panik grenzte.
Das Licht das den Raum durchflutete war plötzlich zu grell um es nach gewöhnlichen Maßstäben zu beurteilen. Tom musste blinzeln. Was würde passieren, wenn es Tag werden würde? Würde das Sonnenlicht seine Haut verbrennen wie eine Ameise unter einem Vergrößerungsglas?
Schlimme Wellen von Paranoia krochen durch sein Rückenmark, direkt in das Angstzentrum seines Gehirns. Er drehte das Wasser ab, hastete zum Lichtschalter und schlug darauf. Er knallte die Tür hinter sich zu und stand nun in seinem stockdunklen Flur. Langsam kam er wieder zur Besinnung. Tom wusste zum Glück, was in Situationen wie diesen zu tun war.
Gedämpfte, rote Beleuchtung entspannt die Augen. Beruhigende Musik das überreizte Gehör. Dazu eine Linie für den Verstand.
So saß Tom nun wieder im Wohnzimmer und hatte mit einer Psychotherapie, Marke Eigenbau, den unangenehmen Vorfall im Badezimmer in Sekundenschnelle verdrängt. Er blickte auf die Uhr. Schon vier. War das etwa Vorsehung? Er stand jetzt ohne Kreislaufschwäche auf, schaltete die Musik ab. Der kurze Weg zum Fenster war jetzt leicht zu bewältigen, fast widerstandslos. Als er es aufriss und hinaus schaute erwartete ihn, was er sich zu genau dieser Uhrzeit erhofft hatte.
Stille. Oh diese wundervolle Stille. Seit Stunden hatte frischer Schnee die grauen Bauten ringsherum mit eine Hülle aus Watte verdeckt. Ein wahres Stillleben aus Eis und Schnee lag vor seinen Augen. Er atmete so viel der kalten Frischluft auf einmal ein, bis das Fassungsvermögen seiner Lungen ausgeschöpft war und behielt sie in sich. Ein wundervolles, belebendes Kribbeln durchströmte seinen ganzen Körper.
Die Tatsache, dass alle stereotypen Bewohner der gegenüberliegenden Betonklötze gerade offensichtlich schliefen und das kein einziges Auto auf der frisch beschneiten Straße unterhalb seines Hauses unterwegs war, übertrug ihre Ruhe auf seinen angestrengten Geist. Er lehnte sich aus dem Fenster um eine bessere Sicht nach unten zu bekommen. Der fünfte Stock war verdammt hoch. Es waren nicht einmal Spuren auf dem Bürgersteig zu entdecken. Sein Zufriedenheitslevel stieg in diesem Moment ins Unermessliche.
„Ich liebe es. Diese verdammte Uhrzeit. Ich liebe sie.“ Tom wiederholte diesen Gedanken immer und immer wieder gebetsmühlenartig. Während er seinen Blick über die gegenüberliegenden Hausfassaden streifen ließ, nahm jetzt nichts desto trotz der Schrecken seinen Lauf.
„WAS ZUM...!“ Tom unterdrückte nur knapp ein Kreischen. Er knallte das Fenster zu und versteckte sich. Der kleine Wandabschnitt neben seinem Ausguck zur Außenwelt bot ihm einen mickrigen Sichtschutz. Hätte er Rollos gehabt, er hätte sie sofort geschlossen.
„Was war das gerade? Dreh' ich jetzt total ab?“, befragte Tom sich eindringlich, als er um die Ecke spitzelte.
Nein, er hatte sich das eben nicht eingebildet. Er sah es immer noch ganz deutlich. Im schwarzen Fenster genau gegenüber von ihm blinkte ein Licht in 5-sekündlichen Abständen.
„Eine Kamera? Filmen die mich?“ Tom hatte schon einmal von solchen Überwachungsoperationen gehört. Aber gerade er? Gerade jetzt? Wieder zerfetzte das kleine rote Licht die Illusion von Ruhe und Geborgenheit.
„Verdammt raus hier.“ Mit diesen Worten auf seinen Lippen rannte Tom durch den Flur in Richtung Küche, deren Fenster zwar auf der selben Seite des blinkenden Fensters lag, aber wenigstens nicht direkt gegenüber.
Im Flur machte er abrupt wegen einer sonderbaren Entdeckung halt. „Wo kommt der Grasgeruch her?“ Er roch in die Luft und ging schließlich auf die Knie. Tom robbte auf die Tür zu. Er näherte seine Nase so dicht es ging dem Schlitz unter seiner Haustür, der seit seinem Einzug nie abgedichtet worden war. Dahinter lag eindeutig die Geruchsquelle.
„Hallo? Steht da jemand?“, rief er halb hysterisch. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, aber sie fiel anders aus als erwartet. Über ihm fing ein Baby an zu schreien. Gleichzeitig trampelte ein scheinbar wütender Nachbar auf dem Fußboden. Dumpfe Schläge drangen in Toms Innenohr ein.
„Alles unmissverständliche Zeichen für einen Lauschangriff,“ schoss es ihm durch den Kopf. Die Theorie einer großen Verschwörung die sich um ihn und seine Wohnung drehte brannte sich von Sekunde zu Sekunde mehr in sein Gehirn ein.
Er stand so leise es ging auf. Mit langsamen Schritten näherte er sich der Küche, während seine Augen die Haustür fixierten. Das Licht der Küche blieb aus. Der Kühlschrank wurde geöffnet. Ein Schluck Wasser würde ihn sicher wieder klarer denken lassen.
Hinter ihm blitzte es plötzlich grell. „Kameras!“ Noch bevor das Wort zu Ende gedacht war klopfte es laut an der Tür.
„POLIZEI!“ schallte es aus dem Außenflur, darauf folgte ein leises Kichern.
Tom ließ die Wasserflasche aus seiner Hand auf den Boden fallen. Seine Schläfen pulsierten vor Aufregung. Sein Magen zog sich auf die Größe einer Walnuss zusammen.
„Was ist hier nur los?“ Seine Gedanken rotierten. Sein Körper zitterte. Er wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Einige der salzigen Tropfen hätten auch Tränen sein können.
Wieder ein Blitzen in seinen Augenwinkeln. Er starrte fassungslos wie gebannt auf die Wohnungstür. „Los mach auf Tom!“ befahl die Stimme, während die dazugehörige Person noch einmal an die Tür hämmerte.
Tom bestand nur noch aus Adrenalin. Die Zeiger seiner inneren Uhr, die gerade im Begriff war abzulaufen, standen auf Flucht. Voller Panik drehte er sich in Richtung Fenster. Er hastete los, riss es ohne zurückzuschauen auf. In einer letzten, unglaublichen Kraftanstrengung sprang er fast aus dem Stand direkt in die Freiheit.
Das Blut seiner Leiche sollte das erste an diesem Morgen sein, das auf der frischen Schneedecke der Straße zu sehen war.