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Burger und Butterblumen
Mareikes Finger trommeln auf die Tischplatte. Das dauert alles viel zu lange! Ein stilles Wasser und Avocadosalat. Mehr nicht. Dann weiter zur nächsten Besprechung. Sie schiebt den Ärmel der schwarzen Seidenbluse ein Stück nach oben und schaut auf die Uhr. Noch dreißig Minuten. Ihr Blick flattert zwischen Tresen und Restaurant hin und her. Keine Spur von dem Kellner. Sie fährt sich durch die Haare und spürt die Hitze ins Gesicht kriechen. Ihr Magen zieht sich zusammen.
Eigentlich hätte sie große Lust auf einen Burger. Mit doppelt Käse und Speck. Mareike hört das Zischen auf dem Grill, sieht den Cheddar zerlaufen, schmeckt das saftige Fleisch. Sie schluckt, leckt sich mit der Zunge über die Lippen. Ihr Trainingsplan sagt leider etwas anderes. Rohkost. Leichte Mahlzeiten und abends ins Fitnessstudio. Bis die Lunge pfeift.
Sie denkt an den Mädelsabend vor zwei Tagen. Wie stolz ihre Freundin Silke davon erzählte, dass sie jetzt wieder in eine XS passt.
„Ihr wisst ja, die Konkurrenz schläft nicht“, warf sie augenzwinkernd in die Runde. Sie hatten ihr lachend zugestimmt, aber Mareike konnte die Anspannung fühlen, die sich in der Luft ausbreitete.
„Ach, wisst ihr, das ist das Gute am Kinderkriegen“, hatte Kristin gesagt, die vor sechs Monaten Mutter geworden war. „Da werden dann auf einmal ganz andere Sachen wichtig.“
Die Stille hing plötzlich schwer über ihnen. Vier Frauen Anfang dreißig, die sich für einen kurzen Moment argwöhnische Blicke zuwarfen. Mareike war diejenige, die es nicht aushielt und aufsprang, um eine neue Flasche Sekt zu holen. Es war so anders als früher.
Ihr Handy vibriert. Anna hat ein neues Foto bei Facebook hochgeladen. Sie steht auf weißem Sand, hinter ihr türkisblaues Meer, am rechten Rand neigt sich eine Palme ins Bild. Anna dreht sich seitlich zur Kamera, hat das vordere Bein leicht angewinkelt und lächelt, ohne dass dabei Falten ihr Gesicht zerfurchen. Ihr Bauch ist flach und durchtrainiert. Mareike freut sich für sie. Wirklich. Sie wäre bloß auch gerne am Strand. Mit einer perfekten Figur, ohne sich täglich dafür abrackern zu müssen. Mit einem Menschen, der sie liebt.
„Du findest auch noch den Richtigen, wirst schon sehen.“ Anna sagt das immer auf eine Art und Weise, die Mareike wütend macht. Dieses leise Lächeln und der Schimmer von Mitleid in ihren Augen. Mareike will dann um sich schlagen, sich befreien von all den Erwartungen, die ständig zwischen ihnen stehen.
Vor ihr knallt ein Glas Wasser auf das glänzende Holz. Erschrocken schaut sie in das Gesicht des Kellners, der mit hochgezogener Augenbraue darauf wartet, dass sie ihr Handy vom Tisch nimmt. Sie schiebt es zur Seite und blickt auf den Teller. Ein winziges Häufchen aus sämigen Avocadostücken, garniert mit einer halben Cocktailtomate.
Fünfzehn Minuten später steht Mareike schwer atmend im Aufzug. Nur noch drei Minuten, dann geht die Besprechung los. Sie hetzt durch den Gang, vorbei an den gläsernen Käfigen der Kollegen. Auf ihrem Schreibtisch türmen sich Papierstapel. Sie will das Fenster aufreißen. Sehnt sich nach einem Windstoß, der alles zu Boden fegt. Aber sie reißt sich zusammen. Steckt eine lose Haarsträhne zurück in den Zopf, zupft ihre Bluse zurecht und schnappt sich den Schnellhefter, der auf der Tastatur liegt.
Im Konferenzraum ist nur noch ein Platz frei, als sie hineinstürmt und ein „Entschuldigung“ hervorpresst. Sie lässt sich neben ihren Chef auf den Stuhl fallen. Herr Heinzmann mustert sie stirnrunzelnd, beugt sich dann aber nach vorne und beginnt zu den übrigen Kollegen im Raum zu sprechen. Mareike weiß, dass sie zuhören sollte. Sie starrt auf seine Lippen und sieht, wie die Worte aus seinem Mund fallen. Doch sie ergeben keinen Sinn.
Alle haben ihr gratuliert, als sie den Job in der Werbeagentur bekommen hat. Guter Ruf, gute Bezahlung, tolle Aufgaben. Sie sprechen immer von Verwirklichung. Von Aufstiegschancen. Mareike denkt an die Dolomiten. An die Berghütte, die dort am Steilhang steht. Die Aussicht ist mit nichts zu vergleichen. Die Luft riecht nach frischem Gras und Butterblumen.
Es stinkt nach Gummi und Schweiß. Sie liegt auf ihrer Yogamatte und schnappt nach Luft. Tief ein- und ausatmen soll sie. Neunzig Minuten lang hat sie sich verrenkt und von Chips und Fernsehen auf dem Sofa geträumt. Um sie herum andere hechelnde Frauen. Als alle aufstehen, nickt man sich zu. „Eine tolle Stunde war das!“ Eine von ihnen zieht sich neben Mareike um und steigt mit schmerzverzerrtem Gesicht in ihre Jeans.
Klebrig und mit rotem Kopf hetzt sie nach Hause und springt unter die Dusche. In zwanzig Minuten kommt Silke. Es ist Freitag und ihre Freundin will ein paar Bars abklappern. Spaß haben. Ausflippen, wie sie es immer nennt. Mareike wickelt sich das Handtuch um den Kopf und drückt auf dem Weg ins Schlafzimmer schnell auf den Knopf ihrer Kaffeemaschine. Ihre Augen brennen, der Kopf ist schwer. Das Bett sieht so weich aus.
Früher hat es geholfen, einfach einen Fremden zu küssen. Wild mit ihm zu knutschen, eng umschlungen in der dunklen Ecke einer Bar. Mareike spürt seine weichen Lippen, seine Hände in ihrem Haar, sein Drängen. Zu wenig Platz, zu wenig Luft! Sie löst sich ruckartig aus seiner Umarmung und torkelt hinaus in die Nacht. Silke kommt schon klar.
Mareike zieht die Pumps aus und schmeißt sie in die Hecke. Ihre Füße sehen schlimm aus. Angeschwollen und mit Blasen an der Ferse. Barfuß läuft sie über den warmen Asphalt. So viele Menschen sind unterwegs, alle auf der Suche nach etwas. Die Stadt schrumpft plötzlich zusammen. Die Häuserwände kommen näher, die Luft wird stickig, Mareike irrt umher mit Tränen in den Augen. Sie muss hier raus. Sehnt sich nach Weite. Nach frischem Gras und Butterblumen.
Sie steigt aus dem Auto und atmet tief ein. Vögel zwitschern, ein leichter Wind raschelt durch die Baumkronen. Mareike hievt den schweren Rucksack aus dem Kofferraum und läuft los. Ihr Herz klopft hart gegen den Brustkorb. Sie stapft um die große Rechtskurve und sieht sie in der Ferne über den Steilhang ragen. Die Hütte hat fünf Zimmer, die im unteren Geschoss in den Berg hineingebaut wurden. Mareike hat eins der vorderen reserviert. Hier kann sie durch die bodentiefe Scheibe über das ganze Tal schauen. Über sich hört sie die Wanderer auf der Terrasse lachen.
Die Besitzerin steht hinter ihr in der Zimmertür. „Wissen Sie jetzt schon, wie lange Sie bleiben möchten?“
Mareike schüttelt den Kopf. Sie dreht sich zu der Frau um und weiß nicht, was sie sagen soll. Die Besitzerin sieht ihr fest in die Augen und lächelt. „Na, das hat ja keine Eile. Jetzt kommen Sie erst einmal an. Bis Sonntag gehört das Zimmer auf jeden Fall Ihnen. Danach sehen wir weiter. Möchten Sie etwas essen?“
Mareike sieht sie fragend an: „Haben Sie vielleicht Hamburger?“
Die Frau lacht. „Nein, die gibt’s hier oben nicht. Aber ich kann Ihnen ein schönes Rindersteak auf den Grill hauen, wenn Sie möchten.“
Mareike nickt ihr zu. Sie wartet, bis die Besitzerin die Zimmertür hinter sich geschlossen hat, und wendet sich wieder der Aussicht zu. Setzt sich auf den warmen Holzboden, starrt auf die kantigen, mächtigen Berge und weint.