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Buonasera
Wenigstens einmal in der Woche muss ich das hören: Buonasera - dieses schöne Wort. Das gibt mir was.
Toni rauscht mit ausgestreckten Armen heran, die mediterrane Lebensfreude in Person.
„Ah Dottore, buonasera!“, schreit er, völlig aus dem Häuschen. „Clemente, meine Freund!“ Umarmt mich – ich verbitte mir, abgeküsst zu werden, und schäumt beinahe über: „Eh, Caro! Welke Freude! Buonasera, buonasera.“ Ziemlich leise fügt er noch hinzu: “Und sonst – alles okay, altes Haus?“, kneift mich in die Rippen, dass ich ihm eine scheuern möchte und schiebt mich zu meinem Katzentisch an der Säule, dem tragenden Element seines Ristorantes.
Andere tragende Elemente sind eine ordentliche italienische Küche und Tonis unvergleichliche Mischung aus Fröhlichkeit, Charme, Liebenswürdigkeit und Chuzpe.
Mein Italiener! Zehn Jahre waren wir Klassenkameraden hier in Grafenbronn. Schlimme Sachen haben wir zusammen verbrochen – wir waren die Super-Mafiosi, trugen Sonnenbrille auch bei Regen und übersahen, dass dadurch unser grimmiger Blick niemanden einschüchterte.
Tonis Großvater kam aus Catania, Gründer der ersten italienischen Eisdiele Grafenbronns. Tonis Vater machte daraus die erste Pizzeria der Stadt, mit Kerzen auf bauchigen, wachsbetropften Chiantiflaschen und karierten Tischdecken. Und jetzt, seit einigen Jahren, rotiert hier ein italienisches Ristorante jeden Abend auf Hochtouren – mit Scampi, Scaloppini und Osso Buco.
Drei Generationen. Dass bei denen zu Hause immer noch italienisch gesprochen wird, ist Verdienst der Frauen. Zwar hatte Toni in Deutsch bessere Noten als ich, doch liegt bei denen immer ein merkwürdiger Singsang in der Luft – eine schöne Sprache ohne Zisch- und Rachenlaute. Vokale in ihrer reinen Form – prall, optimistisch. Grad so wie das Leben auf italienisch.
Und dann platzt ein Typ mit Maschinenpistole in die Szene, ballert um sich und verändert die Tomatensauce von La Mamma in eine Rezeptur aus roten Blutkörperchen und Panik.
Ist wohl ein Naturgesetz. Liebe und Leid, Pasta und Mafia.
Ich habe Toni schon hundertmal angefleht, diese blöden Bilder mit den Al Capone-Leuten von der Wand zu nehmen – aber keine Chance. Fast glaube ich, dass er damit, mit der anderen Seite Italiens, ein bisschen kokettieren möchte. Passt auf – wir sind zwar die nettesten Leute der Welt, aber notfalls können wir auch anders! Eine zarte, selbstverständlich unausgesprochene Drohung, schwarzgerahmt. Hab schon an rosa Rahmen gedacht, um die Angelegenheit etwas zu entschärfen – besser aber wären Bilder von La Mamma, neben dem Pastatopf, mit den Rezepten ihrer Mutter und deren Großmutter – bis hin zu den Etruskern.
Erbe der Menschheit.
Die Botschaft vom einfachen und guten Essen all’italiano umschlingt den Globus.
Selbst in meine Mensa-Küche ist sie eingedrungen.
Die Uni wurde vergrößert, ich musste mehr Personal einstellen. Und dann betrat Monica Bellucci mein Büro. Mir gingen die Augen über. Diese super bella donna sagte schlicht: Ja, sie sei gelernte Köchin. Leider habe sie in einem italienischen Restaurant gelernt und sei deshalb nicht sehr vertraut mit der deutschen Küche. Mir verrutschte die Brille:
„Sagten Sie ‚leider’? Aber das ist doch fantastisch! Dann kochen Sie italienisch!“
Bei ihrem Aussehen hätte ich ohnehin nichts anderes sagen können.
Die Italisierung unseres Speiseplans war ein durchschlagender Erfolg. Mehr als die Hälfte der Studenten aß fortan „all’italiano“. Nur an Tagen mit ‚Rindsrouladen wie bei Muttern’ verzichteten viele auf Polpette und Lasagne di Melanzane.
Monica Bellucci heißt eigentlich Fiona Bianchi. Ich versuchte, ihre Aufmerksamkeit zu wecken, ohne dass es zu einer dieser deprimierenden Affären zwischen Chef und Angestellter käme. Nur fiel mir nichts ein, bis dann der Zufall nachhalf. Sehr originell war das allerdings nicht. Alle brachen zum Wochenende auf, sie jedoch stand mit verzweifeltem Gesicht neben ihrem Auto.
„Will er nicht?“, fragte ich fachmännisch.
„Ich glaube, es liegt an etwas anderem“, sagte sie. „Ist nur blöd, dass ich noch einen Termin habe.“
„Aber das ist doch kein Problem – ich fahre Sie gern hin.“
Fiona zierte sich nicht, stieg ein und los ging’s. Die Kupplung kam etwas zu schnell, Fionas Kopf wurde jäh gegen die Nackenstütze gepresst. „Oh, Verzeihung“, sagte ich, „je schöner die Beifahrerin, desto nervöser der Chauffeur.“
Was für ein Blödsinn! Da half nur Ehrlichkeit: “Nein, wirklich – ich bin aufgeregt, weil Sie neben mir sitzen. Das ist so ein wunderbares Gefühl, als ob ... ach, ich kann’s gar nicht beschreiben.“
Die Werkstatt schaffte es nicht, Fionas Auto so schnell fit zu kriegen, wie sie hoffte; ich wiederum schwelgte in der Vorstellung, dass wir am Sonntag eine wunderbare Zeit zusammen verleben würden – schließlich stand in ihrer Personalakte ‚ledig’. Meine Fantasie schoss wie eine Billardkugel gegen die Bande – hin und her, kreuz und quer, vermutlich gegen die Regeln der Physik, oder, auf die Situation bezogen, gegen den gesunden Menschenverstand. Nach einer gescheiterten Ehe endlich die Frau, die perfekt zu mir passte.
Jedenfalls genoss ich meinen inneren Tumult. Da waren plötzlich südamerikanische Rhythmen in einem Raum, dessen Möbel seit Jahren mit Tüchern gegen Spinnweben und Staub verhangen waren. Ich war in sie verknallt. Und das bin ich immer noch.
Am Sonntag rief ich sie an, mit rasendem Puls, voller Erwartung, ob ich noch etwas für sie tun könne.
„Oh, Clemens“, sagte Fiona, „das ist wirklich sehr nett von Ihnen. Vielen Dank, aber ich werde gleich abgeholt.“
Höfliche, grässliche Worte. Ein dicker Schlauch saugte mir das Hirn aus dem Kopf. Ein Vakuum, das ich spüren konnte.
Mein Waterloo-Tag.
Hoffentlich würde mich morgen die Arbeit von meiner unendlichen Enttäuschung ablenken. Immer schon hatte ich mich für irgendwas viel zu schnell begeistert. Sah mich nach einem Malkurs schon als berühmten Maler, nach einem Tauchkurs als zweiten Jacques Cousteau. Hätte auch dieses kleine Weingut in Pomerol kaufen und eines Tages den begehrtesten Wein der Welt präsentieren oder mit Fiona dieses einmalige Restaurant eröffnen können. „Porto Fino“ sollte es heißen.
Morgen würde ich ihr begegnen, und ich wusste nicht, wie ich, ob ich ... Was für ein Dilemma. Einen Grappa hatte ich frei.
Es wurden einige.
Mit blödem Schädel sitze ich am Laptop und vermeide den direkten Kontakt zu ihr. Nach dem mittäglichen Durcheinander steht sie in der halbgeöffneten Tür:
“Clemens, haben Sie eine Sekunde?“
‚Lieber ein ganzes Leben!’, denke ich und sage: „Aber selbstverständlich.“
Sie lehnt sich ans Geländer, mit einer unvorstellbaren Grazie. Ich muss die Augen schließen.
„Clemens, hören Sie, bitte. Sie haben mir geholfen und ich danke Ihnen dafür. Doch denken Sie nicht diese Gedanken. Das kann nicht sein.“
Ich konzentriere mich und schaue sie an: „Das haben Sie gespürt?“
„Ja“, sagt sie.
„Ich kann nichts dagegen tun. Es ist ... Sie sind ...“ In meiner Verzweiflung haue ich mit beiden Fäusten auf den Tisch. Ich bin ein verdammter Idiot. Komm’ jedes Mal auf den falschen Kurs. Denk gerade noch ‚wie wunderbar’ und falle schon wieder auf die Schnauze. Fehlt nur noch, dass ich losheule.
Aber ich sage: „Fiona, es tut mir aufrichtig leid, ich wollte Sie nicht bedrängen. Ich hatte wirklich gedacht, ich könnte Sie am Sonntag begleiten. Sie faszinieren mich, ich bin wehrlos. Sie sind eine ganz wunderbare Frau."
Fiona redet beruhigend auf mich ein, sagt, dass ich doch ein ganz stattlicher Mann sei, sie sich aber in einer Situation befände, in der sie nicht nach links oder rechts schauen dürfe.
Mein Kopf klart auf. Ich sehe sie an: „Wieso das?“
„Ach, ich befürchte, dass ich Ihnen mit dieser Geschichte die Zeit stehle; Sie ...“
„Fiona, das möchte ich unbedingt wissen“, unterbreche ich sie. „Bitte, erzählen Sie’s mir.“
„Na, ganz kurz: Meine Familie stammt aus Palermo, und hier in Grafenbronn trifft sie dann auf eine andere sizilianische Familie – die Ormandos. Begeisterung auf beiden Seiten. Sie versprechen sich, dass sie sich immer unterstützen werden und dass sich einer auf den anderen verlassen kann.
Clemens, wir sind keine Deutschen – bei uns laufen die Dinge etwas anders. Ein Sohn der Ormandos hat um meine Hand angehalten. Meine Familie – und ich natürlich auch – haben ihr Einverständnis erklärt. Das fügt die Familien fester zusammen, und der Toni ist ganz in Ordnung.“
„Toni Ormando?“
„Ja“, sagt sie, „Sie kennen ihn?“
„Und ob! In- und auswendig, manchmal besser als mich. Hat mir von einer unglaublich schönen Frau erzählt, aber ihren Namen hat er nicht genannt.“
Jedenfalls bin ich ziemlich geknickt.
„Ach, Clemens!“, sagt Fiona, „Ich kann Sie ja verstehen; aber es gibt so viele tolle Frauen – das dürfte doch nicht so schwer sein.“ Ihr Blick fällt auf den Laptop. „Übrigens: Ich habe eine neue Idee: Wir machen ‚Verdure tonnato’!“
Ich bin froh, dass unser Gespräch diese Wendung nimmt. „E come?“, frage ich in reinstem Italienisch.
„Ganz einfach: die Thunfischsauce wie immer, gekochte Eier und alle Gemüse, die der Markt hergibt. Können wir gut vorbereiten, ist zeitgemäß, preiswert, gesund, super Optik ...“
Fiona hat mir einen Einblick in ihr Leben gewährt. Besser geht es mir dadurch nicht. Ich versuche, an anderes zu denken, will die Mensa neu gestalten. Eine eigene Metzgerei – und bald backen wir auch Baguette, Croissants und Ciabatta selbst.
An besonders einsamen Tagen gehe ich ins Bordell, doch komme ich meist noch frustrierter zurück.
Ich bin jetzt fünfunddreißig. Das Leben ohne Partnerin macht mich mürbe. Allein ist alles sinnlos. Habe schon Dutzende Dates gehabt, im Internet gesurft, doch ich komme nicht voran.
Fiona ist nicht mehr da. Immerhin hat sie bewiesen, dass sie sehr gut für sich selbst sorgen kann. Dass Toni Ormando nicht länger warten wollte, kann ich trotz meiner Herzschmerzen gut verstehen; an seiner Stelle hätte ich ihr schon beim ersten Kennenlernen den Ehering angesteckt.
Als er das dann endlich tut, bin ich selbstverständlich eingeladen.
Mit Fiona trinke ich Prosecco. Wir stoßen an auf das ‚Du’ und ich tanze mit ihr, bis ich nur noch bunte Bänder sehe und meine, dass ich es bin, dem sie ihr Herz schenkt. Doch wird es keine ‚opera del popolo’ – alle sind bester Laune, niemand ist betrunken. Toni und Fiona beweisen ihre Klasse, indem sie gegen zwei zum letzten Tanz bitten und ihren unvergesslichen Tag in einem völlig unitalienischen, hauchzarten Feuerwerk ausklingen lassen, nur in Silber, Weiß und Gold. Der getrunkene Wein fließt wie Quellwasser aus allen Augen.
Ich treffe Toni häufig auf dem Großmarkt.
Sein Prachtschlitten glänzt in diesem Graugrau. Ich finde es schrill, wenn er Italiens schönstes Auto mit Nudeln, Tomaten und Schinken belädt, aber auch verblüffend, wie viel Zeugs er darin unterkriegt. Meist nehmen wir noch einen Espresso zusammen, und dann qualmen seine Reifen. Er trägt zwar noch Sonnenbrille, doch sein geschäftlicher Erfolg hat ihm nicht den Kopf verdreht.
Was Toni sagt, klingt nach. Ja, er hat einen harten Job – eigentlich ist er Gastro-Psychologe. Geht wie jeder andere Künstler völlig auf in seiner Rolle. Der sonnige Italiener!
Kein Mensch fragt, wie es ihm geht. Ja, wie soll es einem fröhlichen Italiener denn anders gehen als besonders gut? Toni weiß, dass seine Kundschaft diesen Auftritt erwartet. Zuverlässig heiter, besorgt um sie, und charmant – er gibt ihnen etwas, was sie andernorts nicht bekommen. Dort bleiben sie unbeachtet. Hier sind sie wer. Toni erinnert sich an ihre Namen, an ihren Urlaub in Antalya, an den Schwimmkurs der Enkel, an die Meeresfrüchte-Allergie der Signora.
Aber Toni muss weiter, zu den anderen, hereinströmenden Gästen, die ihn schon ungeduldig erwarten. Und jedes Mal entzückt er sie mit seinem Überschwang an guter Laune und seinem südlichen Charme, ist ein großer Entertainer, redet laut genug, um das ganze Lokal zu unterhalten. Kurz vor dem völligen Zusammenbruch muss er die letzten Energien mobilisieren, noch eine Arie herausschmettern – im Zentrum, neben der Säule, steht hinter mir und krallt seine hektischen Finger in meine Schultern. Je nach Weinkonsum assistiere ich mit rollenden Augen und bewegten Lippen. Oh, mein wundervolles Italien!
Fiona ist allgegenwärtig mit stiller Freundlichkeit und Umsicht, dirigiert die Kellner, umsorgt die Gäste und erklärt die Gerichte.
Tonis Restaurant floriert beeindruckend. Ständig volles Haus, jeden Abend Show-Time. Ich halte ihm weiterhin die Treue – schließlich hat er mir nicht die Frau ausgespannt, auch unsere Freundschaft hat er nicht strapaziert. Es ist wieder mal nicht zu meinen Gunsten gelaufen, das ist alles.
Auf einem speziellen Gebiet läuft es auch bei Toni nicht gut.
Er redet lange drumherum, rührt nervös in seinem Kaffee, die Stirn ist gefurcht. Zuerst denke ich, er hätte Probleme mit der Steuer, oder mit der Gesundheit – aber nein, es ist viel ärger. Endlich kommt er auf den Punkt: Es klappt nicht mit dem Kinderkriegen, obwohl sie schon alles Mögliche versucht hätten.
Wir kennen uns seit dreißig Jahren, ein so ernstes Problem hatten wir noch nie. Ich grüble, wie ich ihm helfen könnte.
Da wäre noch ein Weg.
Mein Gott, ich spinne total – wie so oft. Aber dieser Gedanke klebt jetzt an mir.
Einige Wochen später treffe ich Fiona in einem Schuhgeschäft. Sie hat gerade gezahlt und will gehen. „Oh, hallo!“, sage ich, „Na, große Shopping-Tour? Du siehst wieder sensationell gut aus.“
„Ah, Clemens!“, freut sie sich, „Du hast dich auch toll in Schale geworfen. Ich muss immer mal an die Mensa denken – das haben wir doch ganz gut hingekriegt mit der italienischen Küche.“
Wir wollen einen Kaffee trinken. Nach Belanglosigkeiten nehme ich meinen Mut zusammen, erzähle von meinen Gesprächen mit Toni und streife das heikle Thema. Zu meiner Überraschung entzündet sich Fiona wie der Magnesiumblitz eines altmodischen Photographen.
Wir werden das durchziehen.
Die Zeit galoppiert dahin. Toni und ich kommen in besinnlichen Momenten zu dem Schluss, dass wir die Jahreszeiten mehr über unsere Einkäufe und Speisepläne erleben als in der Natur. Seit er Vater geworden ist, neigt er zu philosophischen Betrachtungen.
Meine Stirn ist höher geworden, ich versuche das mit einem Vollbart auszugleichen. In Tonis Schwarzhaar gibt es neuerdings Silberfäden; Arien singt er nur noch, wenn ihn Gäste darum bitten. Seine Statur ist noch immer respektabel schlank, meine Taille geht langsam dahin. Ich sollte die Finger von Marzipan und Whisky-Trüffel lassen; Tonis Küche hat daran keine Schuld.
Die letzten Blätter segeln im Herbstwind. Der bläst kräftig, für November ist es ungewöhnlich kalt.
Gegen meine sonstige Gewohnheit bin ich einer der ersten Gäste; nach langer Fahrt von Bremerhaven habe ich einen Bärenhunger. Es gibt deftige, wärmende Sachen wie Wildschweinskeule mit Maronen und in Speck geschmortem Radicchio, Risotto mit Steinpilzen und Salsiccia, Wachteln in Barolo mit Nusspolenta. Allein, wie ich immer noch bin, tröstet mich Tonis Küche, besonders die Desserts.
‚Halbgefrorenes’ hätte ich gern. Ein deutsches Wort, hart wie ‚Kartoffelernte’. Ich sag’s lieber auf italienisch: ‚Semifreddo’. Das klingt elegant, wie Musik. Und dazu Feigen in Limoncello – mehr geht nicht.
Mit einem Mal höre ich Kinderstimmen. Fiona hat ihre Töchter an der Hand, Chiara und Gaia. Seit ihrer Taufe habe ich die beiden nicht gesehen – auf Tonis Display zwar schon tausendmal, aber eben nicht wirklich.
Sie verzichtet darauf, ihre Mädchen wie sonst bei Zwillingen üblich gleich zu kleiden.
„Hallo, ihr beiden!“, sage ich etwas unbeholfen. „Wie geht’s euch?“
Fiona schiebt die zwei ein bisschen zu mir: „Sagt mal ‚Hallo’!“.
Wie durch den Sucher einer alten Kamera blicke ich auf die beiden. Weitwinkel, Großaufnahme, der kleine Leberfleck am Ohr, die wachen Augen und dunklen Locken ihrer Mutter.
„Hallo“, sagt die mit dem Pferdeschwänzchen, das ist Chiara, das weiß ich – und streckt die Hand aus. Ich drücke sie vorsichtig. Ein unbeschreiblicher Augenblick, mir wird ganz komisch.
Gaia schaut mich nur an. Ich reiche ihr meine Hand, doch die will sie nicht. Ein Hauch von Eigensinn. Etwas würgt in meinem Hals. Mir fällt nur ein: „Wie alt seid ihr denn?“
Chiara sagt: “Drei Jahre“. Ich muss einen Schluck trinken, es kratzt fürchterlich. Es steigt in die Augen.
„Und du, Gaia? Wie alt bist du?“ Sie sagt noch immer nichts, zeigt mir aber zwei Finger.
‚Nur zwei?’ will ich fragen, habe keine Zeit, ein Taschentuch zu ziehen, halte blitzschnell die Serviette vors Gesicht und huste und niese, was das Zeug hält, um den Tränenschwall zu kaschieren. Toni ist zur Stelle und klopft mir fürsorglich auf den Rücken. Er denkt, dass ich mich verschluckt habe.
Das kam zu schnell über mich.
Fiona hat ihre Töchter wieder an die Hand genommen und sagt: „So, jetzt gehen wir noch in die Küche und dann geht’s nach Hause. Ihr seht euch noch öfter – dann bis zum nächsten Mal.“
Auf der Toilette mache ich mich frisch. Das kalte Wasser strafft mein Gesicht und ich bekomme klare Augen. Bin ziemlich durcheinander. Wieder am Tisch, nehme ich einen kräftigen Schluck. Der Alkohol durchströmt mich wohlig und schmeichelnd. Das sind zwei Hübsche – unsere Töchter! Ich hätte nicht gedacht, dass es mich so beuteln würde. Plötzlich erscheint alles, was ich über die beiden weiß, wie eine seelenlose Information – als sie vor mir stehen, wunderbar und ergreifend, in dieser Wahrhaftigkeit gar nicht zu fassen.
Ein großer Tag, ich bin dankbar.
Und glücklich? Ich weiß nicht. Denke aber, diese Frage kann unbeantwortet bleiben. Ein bisschen verrückt bin ich auf jeden Fall.
Ich schaue mich um; beobachte, wer kommt, wer geht.
Toni erzählt seinen Gästen ganz im Vertrauen, dass die italienischen Lieferanten, mit denen er selbstverständlich per du ist, schon seine Eltern beliefert hätten, stets nur allererste Qualität. Da muss man heute lange suchen! Und natürlich hat das seinen Preis.
Er kennt die Tomatenbauern persönlich, sein Onkel presst das Olivenöl aus eigenem Anbau – Bio, versteht sich; ein Vetter betreibt Salinen am Golf von Siracusa, denn die Basis einer guten Küche ist das richtige Salz. Und der Wein stammt von seinem Cousin, einem der besten Winzer Siziliens.
Ja, sie machen alles selbst, in mühseliger Handarbeit. All die Ravioli, Canneloni, Tagliatelle und Penne. Auch die Suppen, die Pesti und Sughi, die drei Stunden langsam vor sich hinköcheln müssen. Ein Hoch auf die alten Rezepte! Eine Heidenarbeit, doch nur so ist Qualität zu erreichen.
Aber deswegen sitze ich heute Abend nicht schon wieder hier. Ich sehe ja, was Toni einkauft. Hausgemachte Pasta? Da müsste er neun Schwiegermütter haben, die Tag und Nacht im Hintergrund kneten, walzen, formen und schneiden – und deshalb würde er mir diese Märchen auch nicht auftischen. Mir geht es um das Klima dieses Ortes. Hier sprühen Ätna und Vesuv als Wunderkerzen auf der grün-weiß-roten Eisbombe, duften Rosmarin und frisch geriebener Parmesan, rieselt Lebensfreude wie Konfetti. Heiter und turbulent geht es zu, ein gut trainierter Zirkus gibt seine Vorstellung, mit einer Menge freundlicher Worte, freundlicher Blicke und Gesten.
Über die Zeit habe ich gelernt, mich darauf einzulassen – und habe gemerkt, dass ich davon profitiere. Bei jedem Besuch in Tonis Ristorante geht es mir gut. Man lässt mich spüren, dass ich existiere, dass man mich mag.
Toni nimmt Kurs auf mein Tischchen. Er wird wissen wollen, wie mir seine Töchter gefallen.
Kann ich ihm in die Augen schauen oder muss ich seinem Blick ausweichen?
Nein, muss ich nicht. Ich werde ihm sagen, dass die beiden Mädchen bildhübsch sind und seine klugen Augen haben. Und das mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der er seinen Gästen versichert, dass alles, alles hausgemacht ist.