Was ist neu

Bullshit

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02.01.2011
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Bullshit

Heer kommt mit diesem Neuen auf den Weihnachtsmarkt gelaufen, zu den Treppenstufen vor Nordsee, auf denen wir sitzen. Er ist erst dreizehn, sagt Heer, und gerade frisch aus dem Heim getürmt; und als ich dem Typen ins Gesicht blicke, habe ich für eine Sekunde das Gefühl, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben: Auf der einen Backe hat er diese lange, breite Narbe, vom Kinn bis zur Wange, und außerdem ist sein rechtes Auge blau und zugeschwollen. Ich frage ihn, was mit seinem Gesicht los is’, und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße, dann blickt er mir scharf in die Augen und sagt, ihn hätte früher irgend ’ne Erzieherin mal mit dem Gesicht gegen ’ne Heizung gedrückt, ’ne halbe Stunde lang; und dann wird er pissig, der Typ, dann blickt er an mir vorbei und sagt, was ich so neugierig bin, »Neugierige leben kurz«, sagt er.
Ich sitze noch auf meiner Decke, ziehe meine Jacke zu, rauche und spucke auf die Pflastersteine neben mir. »Bin halt ’ne neugierige Seele«, sage ich, »ansonsten nix.«

Fünf Minuten später sind wir auf dem Weg zum CityMarkt, ein paar Bier ziehen, ich zähle die Münzen in meinem Handschuh: Über sechs Euro, Weihnachtszeit ist beste Zeit. Heer hat den neuen Typen mitgeschleppt, und der wirft mir so Blicke zu, als ob er denkt, dass ich ihm gleich das Bier zahlen würde.

Am meisten fickt mich die Kälte. Klingt bescheuert, aber es gibt Leute, die gehen zugrunde, weil sie zu viel Blut sehen, oder weil sie in einem Hausflur aufwachen und ihren Nebenmann grau und tot sehen, mit dem sie noch am Abend zuvor rumgefeixt und Shit geraucht haben. Und ich gehe eben drauf, weil mir literweise der Rotz aus der Nase läuft, und weil ich nächtelang meine Füße und Beine nicht mehr fühle, obwohl ich Hundert Paar Socken und Hosen anhabe. Heer sagt, er spürt sie gar nicht mehr, die Kälte, Heer sagt, er würde sie nach einiger Zeit einfach vergessen; und tatsächlich läuft er schon wieder mit fast nichts als ein, zwei Lagen unter seinem grauen Woll-Parka herum, der Riese, und ich zittere mit vier Schichten T-Shirts und Pullis durch die Fußgängerzone. Heer wollte früher Anwalt werden, hat er mir mal erzählt, und daran muss ich manchmal denken. Ein schlaues Gesicht hat er ja schon, und mit ’nem ordentlichen Aufzug, wer weiß. Ab und zu fischt er sich Zeitungen aus Mülleimern, und dann setzt er sich auf irgendeine Parkbank und blättert sie seelenruhig und hochkonzentriert von vorne bis hinten durch; und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Der Neue lacht und feixt mit Heer herum, aber er trägt bloß so eine dünne Trainingsjacke und zittert wie bescheuert, mit den Händen in den Hosentaschen und der Kapuze eng über den Kopf gezogen. Als wir schließlich im Supermarkt ankommen, schlendern wir möglichst lange durch die Gänge, um aufzuwärmen, aber nach fünf Minuten haben wir schon den Filialleiter im Nacken.

Irgendwas an dem Neuen passt mir nicht. Er ist okay und alles, aber da ist was an ihm, was mir Kopfschmerzen macht. Heer und ich geben ihm eins unserer Biere ab, weil er fast losheult, als ich ihm sage, dass wenn er was saufen will, er sich selber Cash ranschaffen soll. Wir stehen ein bisschen vor dem CityMarkt, trinken und blicken den Leuten und Kindern und Taxen hinterher, aber die Flaschen sind kalt und der Kleine fängt wieder so sehr das Frösteln und Zittern an, dass ich Heer anblicke und sage: »Wird Zeit für ’ne Bahn oder?«

Bahnfahren könnten Heer und ich den ganzen Tag, nur die Kontrolleure stehen zwischen uns und der unbegrenzten Heizung. Ich liege halb in meinem Sitz, meine Wangen werden heiß vom plötzlichen Temperaturumschwung, ich blicke aus dem Fenster: Straßen, Autos, LKWs; graue, gelbe, braune Wohnblöcke, schicke Cafés, Handyläden, Ein-Euro-Shops und Bäcker. Der Neue sitzt mir auf dem Vierer gegenüber, und als ich zu ihm rüberblicke, sehe ich, dass er mich anstarrt.
»Wie heißt du«, sage ich.
»Was?«, sagt er.
»Wie du heißen.«
Er überlegt einen Augenblick, dann sage ich: »Kein Grund für Schaum vorm Mund, okay?«
Er nippt an der Flasche, dann blickt er aus dem Fenster und sagt: »Nikolaj.«
»Siehste«, sage ich, »is’ doch schon mal was. Jaden heiß’ ich«, sage ich, und er nickt, ohne mich anzusehen. Heer reibt sich die Hände in den Fäustlingen und blickt den Gang auf und ab: Vor ein paar Wochen wurden wir geschnappt, von den Kontrolleuren, und dann hieß es für jeden von uns: Bullen, Jugendamt, Papierkram, und anschließend ’ne Nacht in einem dieser beschissenen Notwohnheime, von denen man am nächsten Tag erst mal wieder zurück in die Stadt kommen muss. Warm ist es da, ja; aber nüchtern musst du sein, den ganzen Tag, ständig kommen sie mit ihren Piss- und Blastests – und was mir nüchtern in den Kopf steigt, ist so was wie die eisigste Kälte, die ich mir verfickt noch mal vorstellen kann.

Wir steigen an der Dreiundvierzig aus, weil wir unser Glück nicht zu arg rausfordern wollen, und weil wir da eine Telefonzelle kennen, die so hinüber ist, dass man bloß ein paar Mal an der richtigen Stelle ordentlich draufschwatten muss, und schon kann man hintelefonieren, wohin man will. Ist ’n richtiger Mythos, diese Telefonzelle, ein paar der klauenden Rumänenkinder vom Bahnhof hatten uns das vor ’ner Ewigkeit erzählt, als sie ’nen guten Tag hatten, und auch ganz genau, wie und wo man draufschlagen muss, damit das Teil funktioniert. Heer kommt seit über ’nem halben Jahr jede Woche hierher und telefoniert mit dem Jugendamt, weil er wissen will, wie’s jetzt mit seinem Zimmer aussieht, betreutes Einzelwohnen, aber immer wieder halten sie ihn hin und sagen, er soll sich wieder melden. Als Heer in die Zelle biegt und anfängt, auf dem Kasten rumzuhämmern, bleiben Nikolaj und ich in der S-Bahn-Haltestelle sitzen und machen den Wodka und die Ja!-Limo auf. Wir nehmen jeder einen Schluck vom Wodka, dann Limo, und Nikolaj fröstelt wieder, und meine Nase ist bis oben hin zu und die Kälte kriecht auch mir beißend in die Schuhe. Ich blicke die Straße abwärts und erkenne die großen, roten asiatischen Schriftzeichen des Vietnamesen, vor dem ich meine Mutter das letzte Mal gesehen habe. Fast zwei Jahre muss das her sein. Mit zwölf hat sie mich rausgeschmissen, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hat: Ich würde aussehen wie mein Vater, jeden Tag mehr, hat sie immer wieder gesagt. Auf eine komische Art nehm ich’s ihr auch gar nicht übel. Er war ein Schwein, mein Vater.
»Was macht der’n da ewig?«, sagt Nikolaj mit den Händen in den Jeanstaschen und nickt zitternd in Richtung Heer.
»Geschäftliches«, sage ich.
»Drogen oder was«, sagt Nikolaj, und ich schüttle den Kopf, nehme noch einen Schluck Wodka und dann Limo hinterher.
»Er’s Anwalt«, sage ich.

Am meisten hasse ich mich selbst. Wenn ich nicht dicht bin, ertrag’ ich dieses Gefühl schon gar nicht mehr, dann brauche ich bloß über eine Brücke oder an ’ner Straße entlang zu gehen, und sehe mich schon überall runter- oder vor den nächstbesten LKW springen. Manchmal tut’s auch gar nicht gut, zu viel zu saufen oder zu rauchen, weil ich dann plötzlich das Heulen anfange und gar nicht mehr aufhören kann, weil’s mich innerlich so hart zerreißt. Heer weiß genau, wovon ich rede, und ’ne ganze Menge anderer tun’s auch.
Meine Mutter hatte sich damals einfach ’ne neue Wohnung gesucht, ohne mir Bescheid zu geben. Ich war in der siebten, und auch schon draußen unterwegs, aber auch noch öfters in der Schule. Irgendwann bin ich dann nach Hause gekommen, und weg war sie, ohne Zettel, ohne nichts, der Schlüssel hat einfach nicht mehr gepasst, und ihr Name stand zwar noch an der Klingel, aber ich hab’s sofort gecheckt, was los ist. Als ob ich’s hatte kommen sehen. Es war Sommer, und ich hab dann mit den anderen draußen gezeltet oder auf Wiesen geschlafen, und bin sogar noch ’n paar Mal in die Schule gegangen – natürlich ohne Bücher oder sowas, einfach der Gewohnheit wegen.
Als ich sie dann das letzte Mal gesehen habe, meine Mutter, vor dem Vietnamesen, war ich schon ein Sommer und ein Winter draußen, Platte machen; und sie ist einfach schreiend vor mir weggerannt, meine Mutter, hat die halben Einkäufe und alles fallen lassen, als sei ich ein scheiß Gespenst oder sowas.

Heer ist ganz bleich, als er aus der Telefonzelle kommt. Er sagt, da sei schon wieder ein neuer Sachbearbeiter, und der meint, er kümmere sich, aber was das heißt, könne ich mir ja denken. Heer setzt sich neben uns auf den Gittersitzplatz, legt den Kopf in seine Hände und sagt keinen Ton. Es tut mir fürchterlich leid, ihn so zu sehen. Manchmal bestellen sie ihn einfach rein, in das Jugendamt, und irgendeine neue, bescheuerte Schnalle fragt ihn dann ’ne halbe Stunde aus, wieso er aus dem Heim abgehauen ist, und ob und wie ihn da jemand angefasst hat, und drei Wochen später sitzt da wieder ein Anderer und fragt den gleichen Scheiß. Ein Zimmer haben sie trotzdem nie. Was soll das?

Schon als wir in die S-Bahn zurück zum Weihnachtsmarkt steigen, merke ich, wie sehr der Neue schwankt. Heer fragt, wie viel er denn drin hat, ich zucke mit den Schultern, und fast hätte ich vergessen, dass er ja erst dreizehn ist.
Kein Platz mehr in der verfickten Bahn. Wir schieben Nikolaj auf einen Zweier ans Fenster, aber selbst im Sitzen taumelt er schon, er ist ganz grau und blickt bloß auf den Boden. Heer setzt sich neben ihn, und es dauert keine zwei Stationen, da fängt der Junge schon das Kotzen an, die gelbe Limo schwappt ihm in Schüben aus dem Mund, es riecht stechend scharf nach Galle und Vodka, und die Leute um uns rum stöhnen, schauen weg und halten sich angeekelt die Hand vor den Mund. Eine aufgetakelte Alte mit angeleinter Katze auf dem Schoß sagt: »Muss das sein! So früh am Tag! Schämen solltet ihr euch!«, und Nikolaj würgt und schwankt im Sitzen, und Heer steht schon neben mir, drückt den Stop-Knopf und wartet nervös auf die nächste Haltestelle.

Wir müssen den Kleinen eine Dreiviertelstunde durch die halbe Stadt schleppen, Heer hat sich links von ihm eingehakt, und ich rechts, er stinkt fürchterlich nach Vodka und Kotze, seine Hose ist voller weißer Brocken und Flüssigkeit. Ab und zu halten wir an, und Nikolaj spuckt und atmet, aber es kommt nichts mehr.
»So können wir nich’ auf den Weihnachtsmarkt«, sagt Heer, und ich nicke und sage: »Aber auch nicht zur Penne«, und ich höre Heer bloß schnaufen und: »Mhm« murmeln.
»Vergisses«, sage ich, »so dicht lassen die ihn nie rein«, sage ich, »die holen die Bullen.«
Ich sehe den Jungen an, und er ist einen halben Kopf kleiner als ich, und er hat die graue Kapuze fest über den Kopf gezogen, und auf seiner dunklen Trainingsjacke liegen frische, einzelne Schneeflocken, und der Schritt seiner Jeans ist dunkel vor Nässe, und einzelne Brocken kleben ihm dort, Reis vielleicht, ich weiß es nicht. Er ist immer noch blass, Nikolaj, grau-blass, bloß die breite Narbe leuchtet rot dort an seiner Backe, als sei sie etwas, das nicht zu ihm gehört, ein Fremdkörper, der erst scharf zu glühen beginnt, wenn alles andere abstirbt. Nein, er stirbt nicht, sage ich mir, und als wir an einer Kreuzung wieder kurz anhalten, Heer links und ich rechts von ihm, blickt mich Nikolaj an und reißt die Augen auf, als würde er gerade aus drei Monaten Schlaf aufwachen – und sein linkes Auge ist noch dunkel und zugeschwollen, aber plötzlich fällt da für eine Sekunde etwas von ihm, und er blickt mich an – und ich sehe für diesen kurzen Moment einem Kind in die Augen, einem ängstlichen, vollgeheulten, verlorenen Kind.

Wir laufen trotzdem zur Penne, obwohl wir wissen, dass das mit diesem Besoffski nichts wird. Nikolaj sagt den ganzen Weg über nichts, bloß einmal will er anhalten und rauchen, und obwohl die Temperaturen immer weiter fallen, zittert er nicht mehr; im Gegenteil: Schweißperlen glänzen ihm im kotzbleichen Gesicht, und ich denke mir noch, wie komisch das ist, dass ein Körper bei so einer Kälte dermaßen schwitzen kann.
Nikolaj ist nicht weniger nüchtern, als wir an der Notschlafstelle ankommen – er kann kaum mehr die Augen offen halten, wir schleppen ihn halb, und ständig jammert er rum und fährt sich mit der Hand durchs schweißnasse Gesicht, dass er pennen will, dass er einfach nur pennen will.
»Du kannst hier draußen nicht pennen«, sage ich, »da bist du schneller verreckt, als du zählen kannst«, sage ich.
Die Notunterkunft ist ein betongraues, einstöckiges Gebäude im Hafen, mit einer großen Sonnenblume an der Außenwand gesprayt, gepflastertem Vorhof und hohem Zaun mit elektrischer Türöffnung. Als Minderjähriger kann man hier im Winter maximal zwölf Nächte übernachten, sie öffnen um 21 Uhr, dann hat man zehn Stunden ein Bett für sich, plus warmes Essen und frischer Kleidung.
Ich blicke zu Heer und sage: »Der kommt nie rein«, ich sage: »Die holen die Bullen, wenn die den so sehen.«
Beim Wort »Bullen« schreckt der Junge auf, blickt mich panisch an und löst sich aus unserem Griff.
»Niemand holt hier die Bullen«, sagt Heer beruhigend, klopft dem Kleinen auf die Schulter und steckt sich eine Kippe an.
»Keine Bullen«, sagt Nikolaj, und zieht sich seine Mütze in die Stirn. Wir klingeln, und als Elke ans Tor kommt, schüttelt sie den Kopf und stemmt sich die Hände in die Hüfte. Sie reicht mir gerade mal bis zur Nase, ist rundlich, und ihre braun-grauen, langen Locken stehen ihr wie Korkenzieher vom Kopf.
»Gott, wie alt bist du denn?«, sagt sie, und blickt erst Nikolaj, dann Heer und mich an.
»Sechzehn«, sagt Heer, und zieht an der Zigarette.
Elke schüttelt den Kopf. »Im Leben nicht«, sagt sie. Sie sagt: »So kommt ihr hier nicht rein, das wisster, oder?« Sie sagt: »Der ist ja stockbesoffen. Was hat der denn alles genommen? Wenn der hier rein kommt, hol ich ihm gleich ’nen Krankenwagen, das sag ich euch, Jungs!«
Nikolaj stellt sich sofort wieder gerade hin, schwankt zwar stark, aber sagt laut und deutlich: »Nje!«, und positioniert seine Mütze wieder richtig auf dem Kopf, die Augen schielend, halb geschlossen. Heer sagt etwas auf Polnisch zu ihm, und ich überlege kurz, spüre die Kälte in meinem Gesicht, meine Hände und Füße beißen. Der Nachthimmel über uns ist tiefschwarz, Wind weht, der Boden glitzert gefroren, meine Nase ist vollkommen dicht, ich kann bloß durch den Mund atmen.
Elke sagt: »Entweder hol’ ich jetzt ’nen Krankenwagen, oder ihr geht und bleibt bei ihm. Aber so kommt ihr nicht rein, ihr kennt doch die Regeln.«
»Und ich könnte nicht rein?«, sage ich, aber kaum habe ich gecheckt, was ich da eben gesagt habe, ist Nikolaj schon weggerannt, die Straße entlang – und ich wundere mich, wie schnell er ist.
»Geht!«, sagt Elke, und fuchtelt mit den Händen herum. »Passt auf den auf, aber so besoffen kommt der hier nicht rein, das wissta doch!«
Wir gehen schon die Straße abwärts, da ruft uns Elke noch hinterher: »Und wenn was is’, kommter hierher, dann ruf ich ’nen Krankenwagen!«
Heer bleibt nach ein paar Metern abrupt stehen und schlägt sich gegen die Stirn. »Hosen!«, sagt er, und sieht mich an. »Und ’ne Jacke braucht er!«

Zum Glück hat Heer an die Hosen gedacht, sonst hätten wir hier neben einem Vollgekotzten pennen müssen. Nikolaj haben wir nach ein paar Minuten schon gefunden, zwei Straßen weiter auf einer Parkbank sitzend, den Kopf in die Hände gelegt, vollkommen tief pennend. Hat ’ne ganze Ecke gedauert, ihn wach zu kriegen, und noch mal bestimmt ’ne Stunde, bis wir bei den Zelten auf der Platte waren. Ist natürlich kein Arsch hier außer uns, bei diesen Temperaturen. Wir schlafen zu dritt im Zelt, neben uns Plastiktüten, Flaschen, Dosen, irgendwo auch ein Kochtopf und eine Glasbong. Draußen weht der Wind, ich höre die Äste und Blätter des kleinen Waldstücks rascheln, in das wir unsere Platte aufgeschlagen haben. Ich zittere die ganze Zeit, und auch Heer fröstelt, und hat sich in drei Decken eingerollt. Ich nehme einen Schluck vom Vodka und überlege, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn wir irgendwo einen Hausflur oder ein öffentliches Klo gesucht hätten, aber mit dem Kleinen – unmöglich. Ein paar Mal denke ich daran, einfach zurück zum Blumenhaus zu gehen, aber die machen Mitternacht zu, und ich glaube, wir sind schon weit drüber. Nikolaj ist der einzige von uns dreien, der tief und fest durchpennt, er schnarcht fürchterlich. Irgendwann nachts sagt Heer: »Morgen gehn wir zur Oma«, und ich nicke, hauche in meine Hände und sage: »Aber sowas von zur Oma.«

Die Oma ist sowas wie der schönste Ort für mich, ich kann’s gar nicht anders beschreiben. Wir haben sie vorletzten Herbst kennengelernt, an einem Morgen im CityMarkt, als Wadim, Heer, Tetra und ich wie die kaputtesten Gestalten voll auf Speed durch die Gänge gestrahlt sind, bisschen Knabberzeug und was für die Hunde kaufen. Die Oma schob den Einkaufswagen zu uns, und dann hat sie den Kopf geschüttelt und gesagt, Kinder wie wir müssten doch ordentlich essen, nicht immer bloß trinken; und dann hat sie uns den halben Wagen vollgemacht, Brot, Marmelade, sogar Schokolade und Cracker, und später haben wir das alles zur Platte geschleppt, und uns ordentlich den Bauch vollgeschlagen. Davor haben wir aber der Oma die Einkäufe nach Hause getragen, weil, sie kann ja selbst kaum mehr laufen, und wohnt im ersten Stock, ganz ohne Aufzug; und wir haben der Oma die Einkäufe in die Schränke geräumt, und dann hat sie uns Kaffee und heiße Schokolade aufgekocht; und es war komisch, aber als wir gingen, stiegen mir wieder diese tausend schwarzen Bullshit-Bubbels in den Kopf, und ich hab den ganzen Tag und die ganze Nacht durchgeheult, und ich dachte, das war’s jetzt, jetzt sterbe ich – da konnte ich so viel Shit rauchen und Vodka saufen wie ich wollte; und es ist komisch, warum ein so schöner Nachmittag einen dermaßen killen kann, aber manchmal ist das so, manchmal ist es nicht das Hässliche, das Furchtbare, das man sehen muss, sondern der Anblick von etwas so Schönem, der einen vollkommen zerlegt.

Es ist Morgen, halb neun vielleicht, der Himmel strahlend blau, die Kälte eisig und beißend, und kaum sind wir von der Platte durch die ganzen Bäume und Gebüsche gestampft, sind meine Füße schon Eiszapfen, und meine Nase ist so dicht, als hätte ich sie mir mit Watte ausgestopft, mein Hals brennt und in meinem Kopf sticht es. Sogar Heer, der Riese, fröstelt jetzt, und zieht sich den Mantel bis oben hin zu – bloß Nikolaj ist seltsamerweise fit, rennt durch das Unterholz vor uns, lacht und wirft Schneebälle mit zu viel Erde nach uns; wir ducken uns weg, und Heer schreit ihm irgendwelche polnischen Flüche zu, die ich nicht kenne.

Die Oma braucht ewig, um aufzumachen, aber hier im Treppenhaus höre ich durch die Tür hindurch ihre Schritte: das gleichmäßige Schlurfen ihrer Hausschuhe auf dem Linoleum, ihr Schnaufen und Ächzen. Durch das Milchglas sehe ich ihre kleine Gestalt, die lila-blauen Haare zur Dauerwelle, und wie sie sich nach jedem Schritt mit der Hand an der Wand abstützt.
Als sie schließlich die Tür öffnet, lacht sie und sagt: »Ach, ihr Kinder seid es!«
»Ja, wir wollten fragen, ob –«, fange ich an, aber dann winkt die Oma schon nach drinnen, sagt: »Rein, rein! Rein in die gute Stube!«
Sie lacht und ich sehe ihre Knopfaugen hinter den dicken Brillengläsern mit dem goldenen Drahtrahmen. Ihre Beine und ihr Kopf zittern auf diese komische Art, als ob man sie ununterbrochen schütteln würde, und sie trägt diesen grauen Jogginganzug, den sie immer trägt. Schon im Gang höre ich den Fernseher laufen, ein kleiner, aufklappbarer Plastiktisch steht mit dem Sessel keine Armlänge vor dem Bildschirm, darauf ein Teller mit Brot, ein Marmeladenglas und eine Tasse.
»Hab ich mir gerade angeschaut«, sagt die Oma, und läuft schlürfend und keuchend zum Sessel, nimmt die Fernbedienung in die Hand und schaltet das Gerät leiser. »Frühstücksfernsehen«, sagt sie, und sieht uns lächelnd an, »da kommen gleich Musiker, Böhmische Blasmusik, und ihr wisst ja, ich bin eine alte Musikerin!«

Ich darf zuerst baden. Drüben höre ich den Fernseher lauter werden, ich höre den Moderator reden und dann lachen, schließlich Trompeten, Blasmusik. Ich ziehe all meine Klamottenschichten aus, bis ich ganz nackt bin. Ich habe das Wasser ganz heiß eingelassen, und schaue mich noch einen Moment im Spiegel an, bevor ich einsteige: mein Gesicht, meine krumme, breite Nase, meine hervorstehenden, übergroßen Schneidezähne, meine blasse, dünne Brust, die Segelfliegerohren, der blonde Flaumbart, die Pickel. Ich denke nichts in diesem Augenblick, ich sehe bloß mich an, wie ich bin, nackt, und es ist seltsam, aber fast kommt es mir vor, als würde ich einem Fremden in die Augen blicken; als würde ich Nikolaj in die Augen blicken, so wie er mich gestern Abend in dieser einen Sekunde angeblickt hat, als wir ihn zum Sonnenblumenhaus geschleppt haben.
Als die Trompeten richtig einsetzen, lege ich mich ins heiße Wasser, und kurz sehe ich noch die weißen Kacheln im Badezimmer, das verschmierte Waschbecken und den kleinen, runden Spiegel darüber; dann atme ich tief ein, schließe die Augen, und plötzlich ist da bloß noch Wärme um mir, und nichts als Dunkelheit, Lichtflecken, Hitze: Als ob ich schweben würde, als ob sich alles um mich herum auflöst, und gleich wache ich in einem fernen Land, in einem fernen Badezimmer, bei einer fernen Tante und einem fernen Onkel auf – oder in meinem eigenen Badezimmer, in meinen eigenen vier Wänden, und alles würde ich penibel sauber halten, und morgens würde ich auf der Couch unter einer Decken liegen und bis Mittag Frühstücksfernsehen gucken – als ob ich nur lange genug hier bei der Oma unter Wasser die Luft anhalten müsste, und alles wäre möglich.

Warmer Toast, Butter, Eier, alles mögliche hat die Oma aufgetischt, und in der ganzen Wohnung hängt dieser Geruch, der nur in Wohnungen von Omas hängt. Ich sitze auf der Eckbank am Tisch, die Katze mit dem weißen, langen Fell schlängelt sich durch meine Beine, ich höre, wie Heer im Bad das Wasser einlässt, und Nikolaj liegt drüben im Sessel, mit der Rücklehne ganz nach hinten geklappt, und starrt auf den Bildschirm: Blasmusik, Berge und Wiesen. An den Wänden hängen tausende Fotos in Bilderrahmen, auf den Kommoden stehen goldene und silberne Pokale, dazwischen Holzkästchen mit irgendwelchem Grusch drin.
»Musiker waren wir früher alle«, sagt die Oma, und sieht mich lächelnd an, wie ich in einen Toast beiße. Ihr Kopf und ihre Hände zittern, mir fällt der Name der Krankheit nicht ein. »Mein Jüngster, Klaus, hat dann auch in Amerika gespielt, haben eine T-ou-r-n-ee gemacht, den Mississippi rauf, und bis nach Kanada. Alles Blasmusiker«, sagt sie, und lehnt sich im Stuhl zurück. »Alle haben wir Musik gespielt, alles Musiker in der Familie. Louis, mein Ältester, wohnt jetzt in, ähm, Cottbus, und hat dort einen Mu-sik-la-den, oben in Cottbus. Und junge Leute wie ihr, dass ihr so leben müsst«, sagt sie, und dann schüttelt sie den Kopf und fuchtelt entsetzt mit der Hand herum, »das hätt’s früher nicht gegeben, eine Schande ist das. So liebe, nette, junge Menschen«, sagt sie.

Als wir später gehen, bin ich schon ganz affig, weil ich dringend was zu saufen brauche. Heer drückt die Oma lang und innig, und als ich sie umarme, kommt mir plötzlich wieder dieser ganze Bullshit in den Kopf, und ich brauche noch dringender was zu saufen.
»So gute Jungs seid ihr«, sagt sie, mit dem Arm an der Wand abgestützt, und jetzt fährt sie sich plötzlich mit der Hand über die Augen. »Eine Schande ist das!«, sagt sie. »Und ihr passt mir auf euch auf«, sagt sie, und hebt den Finger. »Immer warm und ordentlich bleiben, und wenn was ist, wisst ihr, wo ihr die Oma findet!«, sagt sie. »Und passt auf den Oskar auf, dass der nicht mit rausrennt.« Sie deutet auf die Katze, die sich durch unsere Beine schlängelt.
Als wir unten aus dem Wohnhaus gehen, sagt Heer: »Lass Voddi kaufen und zum Blumenhaus gehen, die machen heute früher auf, wegen Advent oder so«, und wir sind alle einverstanden.

Draußen ist es wieder eisig, und im CityMarkt sprüht sich Heer bei den Toilettenartikeln Deo unter die Achseln und ich habe den Vodka und die Mische in der Hand.
»Wo ist ’n Nikolaj?«, sage ich und blicke den Gang auf und ab, ich kann ihn nirgends sehen.
»Der wollte noch mal zurück«, sagt Heer, und sprüht sich noch einen Schwall auf den Hals.
»Zur Oma?«, sage ich ungläubig. Heer nickt. »Hat irgendwas dort vergessen«, sagt er. Er streift sich die langen, braunblonden Haare aus dem Gesicht und grinst mich an. »Vermisst du ihn jetzt schon oder was?«, sagt er und lacht.

Ich habe fast mein ganzes Geld für Voddi und Mische ausgegeben, und Heer hat sich mal wieder sämtliche Taschen und Parka-Öffnungen mit Süßigkeiten und Kleinscheiß vollgesteckt. Es schneit, die Straße glitzert gefroren und wir stehen vor dem CityMarkt, auf dem Gehsteig. Mein Hals brennt, meine Nase ist dicht, ich nehme einen Schluck Vodka und Limo hinterher und fühle mich gleich besser.
»Wo bleibt der denn?«, sage ich und blicke den Gehsteig auf und ab.
»Keine Ahnung«, sagt Heer, nippt vom Vodka und spuckt auf die Straße. »Der wollte wiederkommen, hat er gesagt.«
Irgendwas stimmt nicht mit mir, und als wir fast zehn Minuten gewartet haben, sage ich: »Wir gehen noch mal zur Oma«, und Heer stöhnt und protestiert, weil es genau in der entgegengesetzten Richtung zum Blumenhaus liegt, aber ich denke bloß an Nikolajs blaues Auge, an diese Narbe in seinem Gesicht, an diese seltsam aggressive Art, und ich hab einfach nur ein verdammtes Scheißgefühl.

Wir laufen die Straße zurück, über die Brücke, und es dauert keine fünf Minuten, als wir Nikolaj plötzlich sehen, an der Ampel zu einer Kreuzung, eine Straße von der Oma entfernt.
»Das isser doch«, sagt Heer, und ich sage: »Komm!«
Als uns der Junge sieht, läuft er plötzlich die Straße entlang, weg von uns; er beginnt schneller zu laufen, dreht sich um und ruft: »Ich komm nich mit!«, und läuft weiter. »Ich komm doch nicht mit in dieses Haus!«, ruft er.
Wir rennen, und jetzt rennt auch Nikolaj, und er hält seine Jacke so komisch, wie ein schwer beladenes Kamel. Wir sind nur etwas über eine Ecke von der Oma entfernt, und als Nikolaj über eine rote Ampel rennen will, fällt ihm das erste Zeug aus der Jacke heraus: ein silberer Pokal.
»Ey!«, schreie ich, und ein paar Türken vor einer Spielo drehen sich nach uns um, schütteln den Kopf und blicken uns hinterher.
Als wir an Nikolaj dran sind, stolpert er und fällt hin, und eine Holzkiste rutscht aus seiner Jacke, die Klappe geht auf, Ringe und Ketten klimpern über den Gehsteig.
»Du Wichser!«, schreie ich, und trete ordentlich auf ihn ein. »Die Oma!«, schreie ich, und Heer schreit auch etwas, auf Polnisch, zieht den Jungen mit seinem Riesenkörper hoch, und ich fische die Ringe und Ketten von der Straße.

»Nein!«, wimmert Nikolaj, »lasst mich!« Der Junge wiegt keine fünfzig Kilo, und wir zerren ihn den Gehsteig entlang, an einer S-Bahnstation vorbei und dann um die Ecke, und schließlich stehen wir wieder vor dem gelben Wohnhaus der Oma. »Du blöder Spasti!«, sage ich, und schlage ihm auf den Hinterkopf. Unten im Treppenhaus ist die Tür auf Kipp, wie immer. Als wir drinnen im Treppenhaus stehen, drückt sich Nikolaj gegen die Wand und hebt die Hände, seine Augen sind rotgeheult, der Rotz läuft ihm aus der Nase und sein Kinn zittert. »Bitte!«, sagt er, »lasst mich!« Mir fällt wieder das blaue, zugeschwollene Auge in seinem Gesicht auf, und plötzlich wundert mich gar nichts mehr. »Du blöder Wichser!«, sage ich, und gebe ihm eine Schelle. Als er wieder versucht, wegzurennen, tritt ihm Heer in die Beine, und der Junge fällt mit einem Schrei auf den Boden.
»Jetzt bist du dran«, sagt Heer, und ich reiße Nikolajs Jacke auf, Heer durchwühlt seine Taschen – wir holen die Schmuckkästchen, Pokale, Ketten und Ringe heraus.
»Bleib bei ihm«, sage ich zu Heer, und deute auf Nikolaj – aber als ich die ersten Treppenstufen hinaufgehe, bleibe ich plötzlich stehen; oben sehe ich die Tür der Oma, wie sie halb geöffnet steht; ich sehe das Milchglas, und ich höre den Fernseher noch laufen: Werbung, Kinder lachen, eine Männerstimme sagt etwas, dann quietschende Reifen, und wieder lachen alle. Ich höre die Katze drinnen wie verrückt miauen. Ich atme tief ein und aus, und plötzlich verschwimmt alles um mich herum.
»Nein«, sagt Heer, und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter liegen. »Ich mach das«, sagt er, »bleib hier.«
Ich sehe Heer hochgehen, mit den Pokalen und Kästchen in die Wohnung einbiegen; ich höre das Lachen der Kinder, die Geräusche des Fernsehers. Die Katze steht jetzt oben in der Tür, sieht mich auf den Treppenstufen stehen und miaut. Sie hält die vordere Pfote hoch, und sie ist nicht schneeweiß wie ihr restliches Fell, sondern blutrot. Ich gehe runter zu Nikolaj. Er liegt heulend auf dem Boden, und jetzt zieht er sich hoch und wischt sich über die Nase, greift nach dem Türgriff – da bin ich plötzlich an ihm dran, da trete ich ihm von hinten in die Kniekehlen – und er fällt hin, schreit wieder; und dann trete ich auf ihn ein, auf diesen Wichser, auf diesen kleinen Hurensohn, dann trete ich zu, wieder und wieder, und ich höre ihn stöhnen und schreien.
Ich schreie: »Die Oma!«, und als ich ihm gegen den Kopf trete, wird er plötzlich ganz stumm – und ich hole aus, und ballere ihm mit aller Kraft noch mal die Spitze meines Schuhs in die Fresse – und sein Hinterkopf knallt mit voller Wucht gegen die Wand des Treppenhauses, ich höre es knacken – alles wird still, sein Gesicht ist rot, blutüberströmt, und er bewegt sich nicht mehr; ganz schlaff liegt er da, mit den Augen zuckend in seinen Schädel gedreht, sein Mund steht offen. Heer kommt die Treppe heruntergelaufen, mit Tränen in den Augen, schaut mich an und schüttelt den Kopf. »Geh nicht hoch«, sagt er.

Wir rennen weg, die Straße entlang, vorbei an Bäckern, Dönerbuden, Spielos, hohen Wohnhäusern und Cafés; irgendwann kann ich nicht mehr. Ich halte an, gehe in die Hocke und atme schnell ein und aus, Tränen laufen mir übers Gesicht. An meinem rechten Schuh klebt vorne Blut, es ist eher schwarz als rot. »Stopp«, sage ich zu Heer, »Pause!« Ich heule wieder, ich kann gar nicht aufhören. »Die Oma«, sage ich, und jetzt spüre ich Heer mich von oben umarmen, auch sein ganzer Körper bebt, und er heult ganz furchtbar. »Ja«, sagt er, »ja.«

Wir trinken fast den ganzen Voddi, und dann sitzen wir vor dem hohen Tor des Blumenhauses und warten, dass sie öffnen. Ich fahre mir über die Nase und rauche. Ich friere und in meinem Kopf sticht es wieder brutal, mein Hals brennt bei jedem Zug. Wir sagen kein Wort. Wir heulen nicht.

Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Mir ist kotzschlecht und ich liege in unserem Zimmer im Blumenhaus, Heers Bett gegenüber ist leer, er ist drüben im Gemeinschaftsraum, sie essen Kartoffelbrei mit Gulasch. Ich drehe mich zur Wand und will nicht mehr. Die Oma ist tot. Ich weiß nicht, ob sie tot ist, ich habe Heer einfach nicht gefragt. Ich stelle es mir vor, wie sie blutüberströmt im Gang liegt und sich nicht mehr rührt. Ich will es nicht wissen. Ich bin so besoffen. Ich will nicht mehr. Mir ist kotzschlecht. Hoffentlich sterbe ich bald. Es ist besser, wenn ich sterbe. Ich will irgendwo runter springen, vor einen Laster. Hoffentlich ist der Junge tot! Wie konnte ich ihn mit zur Oma nehmen? Ich hasse mich so sehr, und ich hasse die ganze Welt, und vor allem hasse ich den Jungen! Ich wünschte, ich wäre sofort tot! Ich wünschte, mein Vater hätte mich damals umgebracht, als er ausgetickt ist, und erst meine Mutter kaputtgeschlagen hat, und dann mich, als ich ihn von ihr wegziehen wollte. Sie ist damals mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt, und seitdem hatte sie diese Krampfanfälle, meine Mutter, ist ständig zappelnd auf den Boden gefallen, die Augen haben sich nach oben gedreht und ihr ist der Schaum vor den Mund gestiegen. Ich wünschte, er hätte uns beide umgebracht, nein, ich wünschte, ich hätte ihn umgebracht, damals, ich hätte ihn einfach kaputt geschlagen, von hinten, mit einem Hammer auf den Schädel, bumm, und tot!
»Jaden?« Elke steht in der Tür, von draußen scheint das grelle, weiße Licht des Gangs herein. »Hier sind ein paar Männer von der Polizei, und die haben ein paar Fragen an dich.«
Heer sehe ich hinter Elke und den Polizisten stehen, und mich mit diesem Blick ansehen: Und ich denke daran, wie er auf dieser Parkbank bei den Enten-Seen sitzt, und wie er sich eine der Zeitungen aus dem Mülleimer zieht und sie von oben bis unten seelenruhig durchliest; und ich denke an die Augen des Jungen, wie sie zuckend in den Schädel gedreht sind, sein blutrotes Gesicht, das Zucken der Oma, das Zucken meiner Mutter, wenn ihr der Schaum vor den Mund gestiegen ist und sie krampfend auf den Boden gefallen ist; mir ist so kalt, so kalt; und ich sehe die Polizisten auf mich zukommen, mich etwas fragen; und ihre Stimmen sind weit weg, und ich bin weit weg; und plötzlich schlage und trete ich um mich, dort im Bett, alles rast in mir, alles dreht sich in mir, sie wollen mich packen, aber sie kriegen mich nicht, und ich bin so besoffen, und dort, im Blumenhaus-Bett gegen zwei Polizisten schlagend und tretend, habe ich das seltsame Gefühl zu fallen: Als ob ich plötzlich in ein endlos tiefes schwarzes Loch fallen würde; und Heers Stimme, sein Schreien ist da irgendwo dumpf hinter mir, und ich falle, falle, und trete, trete, und ich wünschte, ich würde endlich aufknallen, ich wünschte, ich wäre endlich tot.

*​

Elke sehe ich erst fast ein dreiviertel Jahr später wieder, es ist schon Sommer. Durch die dicken Glasscheiben der Fenster sehe ich das grelle, orangene Sonnenlicht in den Besucherraum brechen. Sie trägt einen langen Rock und ein weinrotes T-Shirt, ich meinen Adidas-Jogging-Anzug. Sie war bei keinem der Verhandlungstage im Gericht gewesen. Sie sagt, sie hätte gehört, wie alles ausgegangen sei, und dass sie, wenn ich will, jetzt öfter kommen würde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll – da ist etwas in mir, das sie wegschubsen will, aber gleichzeitig will ich, dass sie mir zuhört, mich in den Arm nimmt. Ich nicke vage mit meinem Kopf. Ich sitze zwar ein, aber bin noch immer nicht nüchtern, Aufgesetzter und Dope kriegt man hier an jeder Ecke, wenn man nur bereit ist, mit etwas zu zahlen: mit sich selbst oder mit Geld, wenn man es hat. Ich denke nicht mehr oft an den Jungen. Ich habe seitdem nie wirklich an ihn gedacht. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt. Manchmal wache ich nachts schreiend und schwitzend auf, und dann sehe ich sein Gesicht vor mir, das viele Blut auf dem Boden, sein Blick, und ich habe Angst vor dem, was da kommt; aber kaum bin ich fünf Minuten wach, habe ich ihn schon wieder fast vergessen.
Elke und ich reden ein bisschen, aber ich bin kaltschnäuzig und abweisend, ich kenne das von mir. Als sie aufsteht und gehen will, frage ich noch schnell: »Und was ist mit Heer?«, und Elke blickt mich einen langen Moment ernst an, dann sagt sie, sie hätte ihn nicht gesehen, seit Monaten schon; und dass sie mir Bescheid gibt, wenn sie etwas von ihm hören würde. Ich nicke, und dann stehe auch ich auf, nicke ihr zu und gehe zurück zur Schranke. Manchmal habe ich Angst vor all der Zeit, die da noch vor mir liegt; der Psychologe fragte mich neulich, was ich machen wolle, wenn ich wieder raus käme; und ich habe lange nachgedacht, und schließlich gesagt, dass ich es nicht wisse. Aber in Wirklichkeit habe ich an diese kleine Wohnung gedacht, meine Wohnung; und alles würde ich penibel sauber halten, und morgens würde ich auf der Couch unter einer Decke liegen und bis Mittag Frühstücksfernsehen schauen. Und als ich an all das denke, steigt mir schon wieder dieser ganze Bullshit in den Kopf, und ich weiß, dass wenn ich mich jetzt zurück ins Bett lege, ich wieder Tag und Nacht durchheulen könnte; aber ich beiße die Zähne zusammen und schlucke es hinunter, das Gefühl, hinunter zu all den anderen Dingen, die da irgendwo tief in mir liegen und nur in meinen Träumen zu mir aufsteigen.

 
Zuletzt bearbeitet:

Hey @zigga

Jetzt komme ich endlich dazu, dir eine Kleinigkeit zu deiner Geschichte dazulassen. Auch wenn sie dir wahrscheinlich nicht viel bringt, aber es ist mir ein inneres Befürfnis (ja, das kann ruhig dramatisch klingen). Ich fand Greeny schon richtig gut und wollte deswegen unbedingt mal wieder was von dir lesen. Es gibt hier für mich ein paar Autoren, deren Stil ich über die Jahre verfolge und immer mehr schätze. Eine Wiedererkennung. Texte, die mir irgendwie gut tun. Bei deinen Texten geht mir das auch immer mehr so.

Sätze wie
Ich frage ihn, was mit seinem Gesicht los is’, und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße, dann blickt er mir scharf in die Augen und sagt, ihn hätte früher irgend ’ne Erzieherin mal mit dem Gesicht gegen ’ne Heizung gedrückt, ’ne halbe Stunde lang; und dann wird er pissig, der Typ, dann blickt er an mir vorbei und sagt, was ich so neugierig bin, »Neugierige leben kurz«, sagt er.
kriegen mich einfach. Es gibt lange Sätze, die gehen mir auf den Keks, weil sie sich selbst zu ernst nehmen, zu verkünstelt klingen, zu gewollt. Bei dir geht es mir so, dass mich diese Art von langen Sätzen reinzieht ins Geschehen. Das hat was Unmittelbares, Ruheloses, wo ich voll dabei bin. Was ich sagen will: Das macht für mich persönlich deinen Stil aus. Diese Art der langen Sätze, die sich anfühlen, als erzähle dir der Protagonist die Geschichte gerade face to face. Gefällt mir sehr!

Genauso hier:
Ab und zu fischt er sich Zeitungen aus Mülleimern, und dann setzt er sich auf irgendeine Parkbank und blättert sie seelenruhig und hochkonzentriert von vorne bis hinten durch; und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Das berührt mich. Wirklich. Das ist richtig schön. Schön in seiner Melancholie, Naivität.

und was mir nüchtern in den Kopf steigt, ist so was wie die eisigste Kälte, die ich mir verfickt noch mal vorstellen kann.
Dieser Satz hier, der sitzt auch perfekt. Er ist grob, aber gleichzeitig traurig und weich. Sowas mag ich sehr. Diese gewisse Schönheit, die sich hinter harter Sprache verstecken kann. Die dann viel heller hervorsticht, als wenn man mit den tollsten Worten umherschwurbelt.

Ich würde aussehen wie mein Vater, jeden Tag mehr, hat sie immer wieder gesagt. Auf eine komische Art nehm ich’s ihr auch gar nicht übel. Er war ein Schwein, mein Vater.
Für meinen Geschmack könnte der unterstrichene Satz weg. Das erschließt sich auch so. Und dein Text funktioniert so gut ohne das offensichtliche Aussprechen der Dinge, dass ich hier an dieser Stelle gestolpert bin, weil es mir zu plakativ erscheint.

Als ich sie dann das letzte Mal gesehen habe, meine Mutter, vor dem Vietnamesen, war ich schon ein Sommer und ein Winter draußen
Ist das Absicht, dass du hier "ein" anstatt "einen" Sommer/Winter schreibst? Jaden spricht ja sonst eigentlich fehlerfrei, wenn auch umgangssprachlich.

Ein Zimmer haben sie trotzdem nie. Was soll das?
Die Frage würde ich streichen. Ist vielleicht nur mein Empfinden, du entscheidest natürlich, aber für mich passt dieses Fragen-in-den-Raum-Stellen nicht zu dem restlichen Tonfall des Textes.

und es ist komisch, warum ein so schöner Nachmittag einen dermaßen killen kann, aber manchmal ist das so, manchmal ist es nicht das Hässliche, das Furchtbare, das man sehen muss, sondern der Anblick von etwas so Schönem, der einen vollkommen zerlegt.
Das ist für mich der schönste und schmerzhafteste Satz im ganzen Text.

und meine Nase ist so dicht
Das wird auffallend oft wiederholt.

mein Gesicht, meine krumme, breite Nase, meine hervorstehenden, übergroßen Schneidezähne, meine blasse, dünne Brust, die Segelfliegerohren, der blonde Flaumbart, die Pickel.
Wäre entbehrlich, finde ich.

und plötzlich ist da bloß noch Wärme um mir
"um mir" klingt falsch. Würde ich einfach streichen.

und ich falle, falle, und trete, trete, und ich wünschte, ich würde endlich aufknallen, ich wünschte, ich wäre endlich tot.
Auch hier eine zweite Stelle, wo es mir zu plakativ wird. Das Unterstrichene würde ich streichen, das erschließt sich mir schon lange vorher, ohne dass du es aussprichst.

Für mein Empfinden könntest du genau hier rausgehen. Ich brauche diese Gefängnisszene nicht, sie wiederholt eigentlich nur das, was ich schon weiß und fühlt sich in dem ganzen Sog, den deine Geschichte auf mich hat, eher ausbremsend und erklärend an. Aber auch hier: Du bist der Chef, streich diese Anmerkung, wenn du anders denkst :)

Oma, als Inbegriff von Wärme, Zuflucht, Fürsorglichkeit muss sterben, weil der Neue in seiner Verzweiflung meint, er muss die Situation dermaßen ausnutzen, dass sie eskaliert. Ich weigere mich ihn als schlichtweg "böse" zu betrachten. Er hat die Bindung zu Oma nicht, die die anderen beiden haben, daher ist er skrupelloser, denkt nur daran, wie er aus seiner beschissenen Lage rauskommen kann. Ja, ist scheiße, aber irgendwie ist in dieser Geschichte nichts einfach schwarz/weiß oder gut/böse - naja, bis auf Oma vielleicht.

Bullshit für mich als Inbegriff von allem, was mit Träumen, Wünschen, Gefühlen zu tun hat. Alles, was einen sentimental macht. Ich musste oft schmunzeln, weil ich manchmal Gefühlsduselei auch als "Bullshit" abtue - natürlich ist das ein reiner Schutzmechanismus. Da konnte ich mich sehr gut in Jaden hineinversetzen.

Ach, zigga, was soll ich dir sagen ... eine tolle Geschichte erzählst du da, so traurig sie auch ist.

Liebe Grüße
RinaWu


P.s.: Sehe gerade, dass du aus Nürnberg kommst. Wir haben uns beim neu entstehenden Münchner Stammtisch mal den 10.10. für das erste Treffen notiert ... Willst du da nicht auch mal lang kommen? Oder vielleicht 12.10., da Freitag? Sag Bescheid, würde mich freuen!

 

Liebe @RinaWu,

Jetzt komme ich endlich dazu, dir eine Kleinigkeit zu deiner Geschichte dazulassen.
Und ich komme endlich dazu, dir zu antworten!

Ich fand Greeny schon richtig gut und wollte deswegen unbedingt mal wieder was von dir lesen. Es gibt hier für mich ein paar Autoren, deren Stil ich über die Jahre verfolge und immer mehr schätze. Eine Wiedererkennung. Texte, die mir irgendwie gut tun. Bei deinen Texten geht mir das auch immer mehr so.
Das ist ein großes Kompliment! Vielen Dank :)

Sätze wie
Ich frage ihn, was mit seinem Gesicht los is’, und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße, dann blickt er mir scharf in die Augen und sagt, ihn hätte früher irgend ’ne Erzieherin mal mit dem Gesicht gegen ’ne Heizung gedrückt, ’ne halbe Stunde lang; und dann wird er pissig, der Typ, dann blickt er an mir vorbei und sagt, was ich so neugierig bin, »Neugierige leben kurz«, sagt er.
kriegen mich einfach. Es gibt lange Sätze, die gehen mir auf den Keks, weil sie sich selbst zu ernst nehmen, zu verkünstelt klingen, zu gewollt. Bei dir geht es mir so, dass mich diese Art von langen Sätzen reinzieht ins Geschehen. Das hat was Unmittelbares, Ruheloses, wo ich voll dabei bin. Was ich sagen will: Das macht für mich persönlich deinen Stil aus. Diese Art der langen Sätze, die sich anfühlen, als erzähle dir der Protagonist die Geschichte gerade face to face. Gefällt mir sehr!
Merci! Interessant, deine Leseeinschätzung, was meinen Stil angeht und dass du es face to face empfindest. Bringt mir natürlich was!

Genauso hier:
Ab und zu fischt er sich Zeitungen aus Mülleimern, und dann setzt er sich auf irgendeine Parkbank und blättert sie seelenruhig und hochkonzentriert von vorne bis hinten durch; und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Das berührt mich. Wirklich. Das ist richtig schön. Schön in seiner Melancholie, Naivität.

und was mir nüchtern in den Kopf steigt, ist so was wie die eisigste Kälte, die ich mir verfickt noch mal vorstellen kann.
Dieser Satz hier, der sitzt auch perfekt. Er ist grob, aber gleichzeitig traurig und weich. Sowas mag ich sehr. Diese gewisse Schönheit, die sich hinter harter Sprache verstecken kann. Die dann viel heller hervorsticht, als wenn man mit den tollsten Worten umherschwurbelt.

Genauso hier! Ich kann mir nur bedanken für deine netten Worte und dir sagen, dass es mich natürlich freut, zu lesen, dass der Text da draußen jemandem gut gefällt!

und es ist komisch, warum ein so schöner Nachmittag einen dermaßen killen kann, aber manchmal ist das so, manchmal ist es nicht das Hässliche, das Furchtbare, das man sehen muss, sondern der Anblick von etwas so Schönem, der einen vollkommen zerlegt.
Das ist für mich der schönste und schmerzhafteste Satz im ganzen Text.
Ich mag ihn auch äußern gerne.
und plötzlich ist da bloß noch Wärme um mir
"um mir" klingt falsch. Würde ich einfach streichen.
Du hast recht

Ist das Absicht, dass du hier "ein" anstatt "einen" Sommer/Winter schreibst? Jaden spricht ja sonst eigentlich fehlerfrei, wenn auch umgangssprachlich.
Nein, ist ein Tippfehler, die Rechtschreibung wirklich einzuhalten ist wirklich hart für mich :D

und ich falle, falle, und trete, trete, und ich wünschte, ich würde endlich aufknallen, ich wünschte, ich wäre endlich tot.
Auch hier eine zweite Stelle, wo es mir zu plakativ wird. Das Unterstrichene würde ich streichen, das erschließt sich mir schon lange vorher, ohne dass du es aussprichst.
Yep, ist schon eine Kunst für sich, ganz genau v.a. bei den eigenen Texten (weil man zu ihnen oft die nötige Distanz verliert, zumindest geht es mir so) genau zu wissen, was geht, was ist drüber. Peeperkorn hat mir schon einige solche Dinge ausgeredet und ich schreib sie mir auf und versuche drauf zu achten Also danke für die Anmerkung, auch die anderen Plakativitäten werden überprüft!

Für mein Empfinden könntest du genau hier rausgehen. Ich brauche diese Gefängnisszene nicht, sie wiederholt eigentlich nur das, was ich schon weiß und fühlt sich in dem ganzen Sog, den deine Geschichte auf mich hat, eher ausbremsend und erklärend an.
Das hatten schon einige angemerkt! Hätte ich nicht erwartet, aber immer wieder aufschlussreich, was die Leute hier kommentieren. Ich hab irgendwie gar kein Problem mit der Szene, als Leser und auch als Autor hatte ich richtig Bock noch mal zu sehen, was da kommt, wie Jaden sich in genau der Situation verändert oder eben auch nicht, deswegen noch die Szene, die zuvor auch nicht wirklich geplant war. Aber ich werde es im Hinterkopf behalten und in ein paar Wochen noch mal drüberlesen und schauen, ob ihr nicht doch recht habt

Oma, als Inbegriff von Wärme, Zuflucht, Fürsorglichkeit muss sterben, weil der Neue in seiner Verzweiflung meint, er muss die Situation dermaßen ausnutzen, dass sie eskaliert. Ich weigere mich ihn als schlichtweg "böse" zu betrachten. Er hat die Bindung zu Oma nicht, die die anderen beiden haben, daher ist er skrupelloser, denkt nur daran, wie er aus seiner beschissenen Lage rauskommen kann. Ja, ist scheiße, aber irgendwie ist in dieser Geschichte nichts einfach schwarz/weiß oder gut/böse - naja, bis auf Oma vielleicht.
Freut mich, dass für dich die Story nicht schwarz/weiß gut/böse ist! Ist schon eine Art Ziel von mir, dass ich es mag, Figuren usw. ambivalent darzustellen, hier war ich mir nicht sicher, ob das nicht etwas Schlagseite hat, aber super, dass es für dich so klappt.

Bullshit für mich als Inbegriff von allem, was mit Träumen, Wünschen, Gefühlen zu tun hat. Alles, was einen sentimental macht. Ich musste oft schmunzeln, weil ich manchmal Gefühlsduselei auch als "Bullshit" abtue - natürlich ist das ein reiner Schutzmechanismus. Da konnte ich mich sehr gut in Jaden hineinversetzen.
Haha :D Ich kenne auch jemanden, der das macht!

Ach, zigga, was soll ich dir sagen ... eine tolle Geschichte erzählst du da, so traurig sie auch ist.
Danke!

P.s.: Sehe gerade, dass du aus Nürnberg kommst. Wir haben uns beim neu entstehenden Münchner Stammtisch mal den 10.10. für das erste Treffen notiert ... Willst du da nicht auch mal lang kommen? Oder vielleicht 12.10., da Freitag? Sag Bescheid, würde mich freuen!
Ai, vielen Dank auf jeden Fall für die persönliche Einladung, Rina! Leider schaffe ich es dieses Jahr aus diversen Gründen nicht, im nächsten bin ich eventuell mal dabei!

RinaWu, ich danke dir fürs Lesen und Kommentieren und das große Lob!

zigga

 

Hej zigga,

ich freu mich ja immer, wenn ich eine Geschichte von Dir hier finde, und weil ich es oft nicht schaffe, sie gleich zu lesen, hab ich sie mir zur Seite gelegt.
Eben gelesen und es nicht bereut.

Einmal ist das ein spannendes Thema, nach meinem Wissen ziemlich aktuell. Es gibt wohl tatsächlich immer weniger Möglichkeiten für Jugendliche in solchen Situationen.

Zum anderen mag ich, wie Du Dich an das Thema heran tastest, was zwar irgendwie auch heisst, dass man der Geschichte hier und da das Tasten anmerkt, was in meinen Augen aber eben auch bedeutet, dass die Richtung stimmt und die lese ich ja auch und vor allem.

Was ich der Geschichte tatsächlich wünschen würde, wären Kürzungen. Die ömmeln mir eingangs aber auch zwischendurch oft zu lange rum. Und ich stelle fest, dass ich massenhaft gute Sätze finde (also nimm diese guten Sätze mal gedanklich aus der Kritik raus ;) ), die sich ebenfalls als Einstieg eignen und bei denen mir nicht wesentlich was fehlt, bzw nach denen ich mir inhaltlich dieselben Geschichte vorstellen kann, z.B.

Am meisten fickt mich die Kälte.
wenn man so derb einsteigen wollte, oder
Irgendwas an dem Neuen passt mir nicht.
oder
Heer ist ganz bleich, als er aus der Telefonzelle kommt.
oder
Zum Glück hat Heer an die Hosen gedacht, sonst hätten wir hier neben einem Vollgekotzten pennen müssen.
Den Satz finde ich übrigens auch deswegen gut, weil er eine Unerfahrenheit, vielleicht etwas Kindliches verrät, was Du vielleicht so gar nicht haben willst, was aber vielleicht gut zu den beiden passt. Es klingt halt noch nicht so total abgebrüht, wenn es stört neben einem Vollgekotzten zu pennen, es klingt nicht nach absolut scheißegal.

Das sind jedenfalls in meinen Augen lauter geeignete Sätze, bei denen ich gleich in der Geschichte sitze. Es würde sich ganz anders anfühlen, so zu starten, denke ich.
Dagegen fühlt sich

Heer kommt mit diesem Neuen auf den Weihnachtsmarkt gelaufen, zu den Treppenstufen vor Nordsee, auf denen wir sitzen.
in meinen Augen eher leicht verkorkst an, mit diesem Einschub und dem nicht unbedingt nötigen "gelaufen".

Für ein paar Kürzungen würde mMn auch sprechen, dass die tatsächlich in richtig großer Not sind. Seelisch und körperlich. Und so eine Not kommt nicht wortreich daher. Ich würd ab und an einen knapperen Stil stimmiger finden. Weniger sowas

Am meisten hasse ich mich selbst. Wenn ich nicht dicht bin, ertrag’ ich dieses Gefühl schon gar nicht mehr, dann brauche ich bloß über eine Brücke oder an ’ner Straße entlang zu gehen, und sehe mich schon überall runter- oder vor den nächstbesten LKW springen. Manchmal tut’s auch gar nicht gut, zu viel zu saufen oder zu rauchen, weil ich dann plötzlich das Heulen anfange und gar nicht mehr aufhören kann, weil’s mich innerlich so hart zerreißt. Heer weiß genau, wovon ich rede, und ’ne ganze Menge anderer tun’s auch.
Das ist mir zu selbstreflektiert, dafür, dass die jede Nacht im Freien einfach erfrieren könnten, dafür dass sich das eigene Elend nur mit Alkohol ertragen lässt und Geld kaum vorhanden ist. Das ist auch zu wenig show.
Aber ... das ist auch so eine Stelle, bei der ich mir einbilde zu spüren, wie Du Dich Deinem Erzähler näherst und deswegen finde ich die trotzdem wertvoll. Nicht so stimmig, letztendlich, für die Geschichte, sondern wie eine Verbindung, von der Du nicht willst, dass man die sieht, die aber zeigt, was Du gemacht hast, vielleicht.

Noch eine Kleinigkeit:

und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße
Warum da sowas Neutrales? Wenn Du z.B. "der Scheißer" schreiben würdest, hast Du gleich einen Konflikt mit im Wort, mehr Spannung und in meinen Augen mehr Authentizität. Oder irgendetwas, was das Äußere des Neuen beschreibt, sogar "der Neue" wäre in meinen Augen geeigneter, da ist immerhin eine Distanz zu spüren. Es gibt keine guten Grund, jemanden, der sich in das Team von Heer und dem Erzähler quetscht, jemandem, der auch noch jünger und weniger gut darin ist, auf sich aufzupassen, neutral zu behandeln. Wo sind da die Emotionen, der Selbsterhaltungstrieb? Wo ist da die gerechte Wut auf alles, was zusätzlicher Störfaktor ist?

Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, weil die kritischen Anmerkungen viel länger sind als die positiven. So hat es sich nicht angefühlt. Schieb es einfach auf meine Langatmigkeit. Auf mein Ringen um Worte. ;)

Gruß
Ane

 

Hallo @zigga,

auch mich hast du mit deiner neuen Geschichte wieder gekriegt, großes Kompliment.
Du hast ja schon viel Lob von allen Seiten bekommen, und der Einfachheit halber möchte ich mich voll und ganz dem Kommentar von @RinaWu anschließen, weil sie genau die Szenen hervorgehoben hat, die mich auch am meisten berührt haben.
Ansonsten kommt jetzt nur sprachlicher Kleinkram, vielleicht auch doppelt genannt, dann sorry.

Den Eingangssatz finde ich auch sperrig, wie die meisten, und irgendwer hat dir ja auch ein paar andere, besser geeignete Sätze aus deiner eigenen Geschichte vorgeschlagen, vielleicht machst du ja noch was damit …

Heer kommt mit diesem Neuen auf den Weihnachtsmarkt gelaufen, zu den Treppenstufen vor Nordsee, auf denen wir sitzen.
Sicher hast du einen Grund, jemanden Heer zu nennen (würde mich interessieren), man gewöhnt sich auch dran, aber diesen ungewöhnlichen Namen als erstes Wort in einem ersten sperrigen Satz, das klingt echt alles zu umständlich, und das ist schade, weil deine Geschichte so einen wahnsinnigen Sog hat – warum dann nicht gleich mit dem ersten Satz?

Ich sitze noch auf meiner Decke,
warum noch?

Heer hat den neuen Typen mitgeschleppt, und der wirft mir so Blicke zu
Das steht ja schon in dem ungeliebten ersten Satz, dass Heer den mitgeschleppt hat, hier würde sicher ausreichen: Der neue Typ wirft mir ….

und tatsächlich läuft er schon wieder mit fast nichts als ein, zwei Lagen unter seinem grauen Woll-Parka herum
Wenn du das herum nach nichts stellst, fließt es besser, finde ich.

und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Das finde ich auch einen sehr berührenden Absatz. Wobei ich überlege, wie alt ist Heer denn? Doch noch lange nicht so alt, dass er in einem anderen, behüteten Leben schon Anwalt sein könnte, oder? Ich glaube, ich fände es besser, bei der fettmarkierten Stelle zu schreiben: wieso Heer … kein Anwalt werden kann. Weiter unten finde ich das dann schon okay: „ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist“, und so weiter.

weil er fast losheut
Da fehlt ein l

ich blicke aus dem Fenster: Straßen, Autos, LKWs
Das juckt mir auch immer in den Fingern, dieses s an die LKW zu hängen, meistens wird es ja auch so gesprochen, aber ausgesprochen wäre es dann trotzdem Lastkraftwagens.

Der Neue sitzt mir auf dem Vierer gegenüber, und als ich zu ihm rüberblicke, »Wie heißt du«, sage ich.
rüber blicke

Heer weiß genau, wovon ich rede, und ’ne ganze Menge anderer tun’s auch.
Fände ich ohne die andere Menge irgendwie besser.

die breite Narbe leuchtet rot dort an seiner Backe, als sei sie etwas, das nicht zu ihm gehört, ein Fremdkörper, der erst scharf zu glühen beginnt, wenn alles andere abstirbt.
Scharfes Glühen finde ich schräg, da entsteht kein Bild bei mir, auch wenn ich natürlich weiß, wie du es meinst

»Keine Bullen«, sagt Nikolaj, und zieht sich seine Mütze in die Stirn.
Vorher hast du immer von der dünnen Kapuze gesprochen, so dass ich mich jetzt wundere, wo die Mütze plötzlich herkommt. Hatte der die schon immer unter der Kapuze auf?

und sage: »Aber sowas von zur Oma.« … Die Oma ist sowas wie der schönste Ort für mich, ich kann’s gar nicht anders beschreiben.
Hier häufen sich die sowasse ziemlich …

Als die Trompeten richtig einsetzen, lege ich mich ins heiße Wasser, und kurz sehe ich noch die weißen Kacheln im Badezimmer, das verschmierte Waschbecken und den kleinen, runden Spiegel darüber; dann atme ich tief ein, schließe die Augen, und plötzlich ist da bloß noch Wärme um mir, und nichts als Dunkelheit, Lichtflecken, Hitze: Als ob ich schweben würde, als ob sich alles um mich herum auflöst, und gleich wache ich in einem fernen Land, in einem fernen Badezimmer, bei einer fernen Tante und einem fernen Onkel auf – oder in meinem eigenen Badezimmer, in meinen eigenen vier Wänden, und alles würde ich penibel sauber halten, und morgens würde ich auf der Couch unter einer Decken liegen und bis Mittag Frühstücksfernsehen gucken – als ob ich nur lange genug hier bei der Oma unter Wasser die Luft anhalten müsste, und alles wäre möglich.
So, nicht immer nur Kleingemecker! ;) Jetzt zitiere ich mal wenigstens einen Absatz von wirklich vielen, die ich absolut gelungen finde, die mich berühren, und bei denen ich mich total in deinen Prota hineinversetzen kann, mit ihm in der Badewanne abtauche!

haben eine T-ou-r-n-ee gemacht, …..Mu-sik-la-den
Warum lässt du die Oma so kompliziert reden? Weil Tournee ein Fremdwort für sie ist? Na jaaa … Vielleicht kannst du es trozdem etwas weniger zerhacken, wenn du das schon so machen möchtest: Tour-Nee oder so, denn sie spricht doch sicher nicht die Buchstaben einzeln.

ein silberer Pokal.
da fehlt ein n

und schlucke es hinunter, das Gefühl, hinunter zu all den anderen Dingen, die da irgendwo tief in mir liegen und nur in meinen Träumen zu mir aufsteigen.
Das zweite mir könnte von mir aus weg: nur in meinen Träumen aufsteigen / hochkommen.

Ansonsten würde ich mich auch denen anschließen, die die letzte Szene gar nicht brauchen … Und wenn‘s nach mir geht, braucht die Oma auch nicht zu sterben: es kommt ja letztlich für Jaden auf das Gleiche raus.
Aber egal, was und wie: eine wirklich gute, tragische Geschichte hast du geschrieben!

Viele Grüße von Raindog

 

Liebe @Ane, lieber @Raindog!
Seit zwei Wochen plagt mich ein echt schlechtes Gewissen, weil ich immer im Hinterkopf habe, euch auf eure tollen Kommentare auf jeden Fall noch antworten zu müssen. Leider hab ich es einfach nicht hingebracht, und ich wollte euch auf keinen Fall irgendeine Antwort hinschludern - ich hoffe, ihr verzeiht die lange Wartezeit.

@Ane,
ich danke dir für deinen - wie immer - sehr aufschlussreichen Kommentar. Ich hoffe, du siehst es nicht als Schleimerei an, wenn ich dir sage, dass ich nach wie vor ein wenig erzittere, wenn ich sehe, dass du kommentiert hast! :D Einfach, weil du - auf deine Forumszugehörigkeit bezogen - so ein Urgestein hier bist, und weil ich bei dir das Gefühl habe, man kann dir einfach auf keinster Weise etwas vormachen, du durchleuchtest den Text so, dass ich mich beinahe so fühle, als durchleuchtest du mich. (Positiv gemeint)

ich freu mich ja immer, wenn ich eine Geschichte von Dir hier finde, und weil ich es oft nicht schaffe, sie gleich zu lesen, hab ich sie mir zur Seite gelegt.
Eben gelesen und es nicht bereut.
Das freut mich!

Einmal ist das ein spannendes Thema, nach meinem Wissen ziemlich aktuell. Es gibt wohl tatsächlich immer weniger Möglichkeiten für Jugendliche in solchen Situationen.
Freut mich und: Ja, durchaus aktuell, und die Thematik ändert sich auch permanent, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, behaupte ich mal ...

Zum anderen mag ich, wie Du Dich an das Thema heran tastest, was zwar irgendwie auch heisst, dass man der Geschichte hier und da das Tasten anmerkt, was in meinen Augen aber eben auch bedeutet, dass die Richtung stimmt und die lese ich ja auch und vor allem.
Super

Was ich der Geschichte tatsächlich wünschen würde, wären Kürzungen. Die ömmeln mir eingangs aber auch zwischendurch oft zu lange rum. Und ich stelle fest, dass ich massenhaft gute Sätze finde (also nimm diese guten Sätze mal gedanklich aus der Kritik raus ;) ), die sich ebenfalls als Einstieg eignen und bei denen mir nicht wesentlich was fehlt, bzw nach denen ich mir inhaltlich dieselben Geschichte vorstellen kann, z.B.
Am meisten fickt mich die Kälte.
wenn man so derb einsteigen wollte, oder
Irgendwas an dem Neuen passt mir nicht.
oder
Heer ist ganz bleich, als er aus der Telefonzelle kommt.
oder
Zum Glück hat Heer an die Hosen gedacht, sonst hätten wir hier neben einem Vollgekotzten pennen müssen.
Ja ... haben auch schon ein paar andere angemerkt! Ich verstehe, was ihr meint. Ah, aber ich tue mir so schwer damit! Nicht, weil ich nicht bereit wäre, Lieblinge zu killen, sondern weil ich zum jetzigen Zeitpunkt das Gefühl habe, egal welche Kapitel ich kicken würde, es würde etwas fehlen. Aber ich notiere mir das mal und lese das Teil in 3, 4 Monaten noch mal. Meistens hat man dann einen klareren Blick auf die Dinge und versteht plötzlich Kritiken, die man nach Einstellen hier im Forum nicht ganz greifen konnte bzw. das nicht so klar gesehen hat

Das sind jedenfalls in meinen Augen lauter geeignete Sätze, bei denen ich gleich in der Geschichte sitze. Es würde sich ganz anders anfühlen, so zu starten, denke ich.
Dagegen fühlt sich
Heer kommt mit diesem Neuen auf den Weihnachtsmarkt gelaufen, zu den Treppenstufen vor Nordsee, auf denen wir sitzen.
in meinen Augen eher leicht verkorkst an, mit diesem Einschub und dem nicht unbedingt nötigen "gelaufen".
Ja, das stimmt auf jeden Fall. Den Eingangssatz fanden viele nicht gut - und ich glaube, wenn man die Story nicht schon mal davor gelesen hat, kann es echt verwirren. Werde ich drüberarbeiten

Für ein paar Kürzungen würde mMn auch sprechen, dass die tatsächlich in richtig großer Not sind. Seelisch und körperlich. Und so eine Not kommt nicht wortreich daher. Ich würd ab und an einen knapperen Stil stimmiger finden.
Das ist ein gutes Argument - ein paar andere haben schon die nicht ganz authentische Erzählstimme bemängelt, u.a. das Selbstreflektierte, das nicht ganz passt. Sehe ich absolut ein, und werde ich drüberarbeiten

Am meisten hasse ich mich selbst. Wenn ich nicht dicht bin, ertrag’ ich dieses Gefühl schon gar nicht mehr, dann brauche ich bloß über eine Brücke oder an ’ner Straße entlang zu gehen, und sehe mich schon überall runter- oder vor den nächstbesten LKW springen. Manchmal tut’s auch gar nicht gut, zu viel zu saufen oder zu rauchen, weil ich dann plötzlich das Heulen anfange und gar nicht mehr aufhören kann, weil’s mich innerlich so hart zerreißt. Heer weiß genau, wovon ich rede, und ’ne ganze Menge anderer tun’s auch.
Das ist mir zu selbstreflektiert, dafür, dass die jede Nacht im Freien einfach erfrieren könnten, dafür dass sich das eigene Elend nur mit Alkohol ertragen lässt und Geld kaum vorhanden ist. Das ist auch zu wenig show.
s.o.!

Aber ... das ist auch so eine Stelle, bei der ich mir einbilde zu spüren, wie Du Dich Deinem Erzähler näherst und deswegen finde ich die trotzdem wertvoll. Nicht so stimmig, letztendlich, für die Geschichte, sondern wie eine Verbindung, von der Du nicht willst, dass man die sieht, die aber zeigt, was Du gemacht hast, vielleicht.
Das meinte ich mit durchleuchten! :D Habe ich noch nie drüber nachgedacht, und ist natürlich jetzt auch irgendwie persönlich, aber ich fühle mich aus irgendeinem Grund schon etwas "ertappt". Nein, die Stelle bin nicht ganz ich, aber dass sich genau an der Stelle eine Annäherung stattfand, ist wirklich eine beachtliche Beobachtung, und ich denke, dass das stimmt

Noch eine Kleinigkeit:
und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße
Warum da sowas Neutrales? Wenn Du z.B. "der Scheißer" schreiben würdest, hast Du gleich einen Konflikt mit im Wort, mehr Spannung und in meinen Augen mehr Authentizität. Oder irgendetwas, was das Äußere des Neuen beschreibt, sogar "der Neue" wäre in meinen Augen geeigneter, da ist immerhin eine Distanz zu spüren. Es gibt keine guten Grund, jemanden, der sich in das Team von Heer und dem Erzähler quetscht, jemandem, der auch noch jünger und weniger gut darin ist, auf sich aufzupassen, neutral zu behandeln. Wo sind da die Emotionen, der Selbsterhaltungstrieb? Wo ist da die gerechte Wut auf alles, was zusätzlicher Störfaktor ist?
Du hast recht! Werde ich umbasteln

Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, weil die kritischen Anmerkungen viel länger sind als die positiven. So hat es sich nicht angefühlt. Schieb es einfach auf meine Langatmigkeit. Auf mein Ringen um Worte.
Alles gut! Ich bedanke mich noch mal fürs Lesen, deine Gedanken und deinen Kommentar, Ane!


@Raindog

Danke auch dir fürs Lesen, Einschätzen und Kommentieren, Raindog!

auch mich hast du mit deiner neuen Geschichte wieder gekriegt, großes Kompliment.
Danke dir und das freut mich!

Du hast ja schon viel Lob von allen Seiten bekommen, und der Einfachheit halber möchte ich mich voll und ganz dem Kommentar von RinaWu anschließen, weil sie genau die Szenen hervorgehoben hat, die mich auch am meisten berührt haben.
Super! :)

Ansonsten kommt jetzt nur sprachlicher Kleinkram, vielleicht auch doppelt genannt, dann sorry.
Alles gut. Ich finde Dopplungen nicht wirklich schlimm. Viel mehr, finde ich, ist einem das Bestätigung oder Nicht-Bestätigung, wenn drei, vier unterschiedliche Leute sich an ein und der gleichen Sache reiben; da weiß ich dann, dass an diesem Kritikpunkt mit großer Wahrscheinlichkeit was dran sein muss

Den Eingangssatz finde ich auch sperrig, wie die meisten, und irgendwer hat dir ja auch ein paar andere, besser geeignete Sätze aus deiner eigenen Geschichte vorgeschlagen, vielleicht machst du ja noch was damit …
Danke für das Feedback, und ich stimme dem mittlerweile zu. Ich werde mal schauen, wie ich das umbastle, aber ich lasse das Teil erst mal ein paar Wochen/Monate liegen, schätze ich, und arbeite dann noch mal drüber, mir fehlt gerade noch irgendwie der Abstand zum Text! Aber ist notiert.

Sicher hast du einen Grund, jemanden Heer zu nennen (würde mich interessieren), man gewöhnt sich auch dran, aber diesen ungewöhnlichen Namen als erstes Wort in einem ersten sperrigen Satz, das klingt echt alles zu umständlich, und das ist schade, weil deine Geschichte so einen wahnsinnigen Sog hat – warum dann nicht gleich mit dem ersten Satz?
Yes! In nicht-deutschen Geschichten, wenn Figuren Francois, John oder Joe heißen, klingen die Figurennamen - für mich jedenfalls - trotzdem interessant, obwohl das ja absolut geläufige Namen in den jeweiligen Ländern sind. Wenn ich in Storys Prots Peter, Susanne oder so nenne, ich weiß nicht, vielleicht ist das nur mein Empfinden, aber ich finde, das klingt dann sehr ... unpersönlich oder zu geläufig. Ich Kumpel von mir, ein Punker, hieß Heer, sein Spitzname, das fand ich irgendwie interessant und ein wenig individueller!

und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Das finde ich auch einen sehr berührenden Absatz. Wobei ich überlege, wie alt ist Heer denn? Doch noch lange nicht so alt, dass er in einem anderen, behüteten Leben schon Anwalt sein könnte, oder? Ich glaube, ich fände es besser, bei der fettmarkierten Stelle zu schreiben: wieso Heer … kein Anwalt werdenkann. Weiter unten finde ich das dann schon okay: „ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist“, und so weiter.
Du hast recht! Und super, dass es dich etwas packen konnte.

und tatsächlich läuft er schon wieder mit fast nichts als ein, zwei Lagen unter seinem grauen Woll-Parka herum
Wenn du das herum nach nichts stellst, fließt es besser, finde ich.
Werde ich ausbessern, danke

ich blicke aus dem Fenster: Straßen, Autos, LKWs
Das juckt mir auch immer in den Fingern, dieses s an die LKW zu hängen, meistens wird es ja auch so gesprochen, aber ausgesprochen wäre es dann trotzdem Lastkraftwagens.
Ich weiß! Aber ich dachte, die Figur könnte das ruhig so nennen

»Keine Bullen«, sagt Nikolaj, und zieht sich seine Mütze in die Stirn.
Vorher hast du immer von der dünnen Kapuze gesprochen, so dass ich mich jetzt wundere, wo die Mütze plötzlich herkommt. Hatte der die schon immer unter der Kapuze auf?
Shit, das stimmt

So, nicht immer nur Kleingemecker! ;) Jetzt zitiere ich mal wenigstens einen Absatz von wirklich vielen, die ich absolut gelungen finde, die mich berühren, und bei denen ich mich total in deinen Prota hineinversetzen kann, mit ihm in der Badewanne abtauche!
Haha, danke und freut mich!

haben eine T-ou-r-n-ee gemacht, …..Mu-sik-la-den
Warum lässt du die Oma so kompliziert reden?
Ist ein guter Punkt, werde ich ändern, liest sich echt etwas sperrig

Ansonsten würde ich mich auch denen anschließen, die die letzte Szene gar nicht brauchen … Und wenn‘s nach mir geht, braucht die Oma auch nicht zu sterben: es kommt ja letztlich für Jaden auf das Gleiche raus.
Aber egal, was und wie: eine wirklich gute, tragische Geschichte hast du geschrieben!
Über die letzte Szene und den Tod ... ich denke mal drüber nach, merci für deine Einschätzung. Und danke für das Kompliment! Deine anderen Anmerkungen sind natürlich auch angekommen, auch wenn ich jetzt nicht auf jedes einzelne geantwortet habe.


Danke euch!
zigga

 
Zuletzt bearbeitet:

„In den verschiedenen Etagen
Redeten die Leut verschiedne Sprachen:

Die ganz oben
Sprachen gehoben,
Die in der Mitt’
Sprachen Durchschnitt
und die gerad noch satt
Redeten einfach platt.

Die aber in den Gossen lagen
Schwiegen & träumten von bessern Tagen.“
Babbel aus „Kadingirra oder Bab-ilim ist überall“​


… Und junge Leute wie ihr, dass ihr so leben müsst«, sagt sie, und dann schüttelt sie den Kopf und fuchtelt entsetzt mit der Hand herum, »das hätt’s früher nicht gegeben, eine Schande ist das. So liebe, nette, junge Menschen«, sagt sie.

Da mag die Oma recht haben, wenn sie etwa ausblendet, dass im Dritten Reich die ganz unten ins Arbeitslager (der ursprüngliche Sinn der Konzentrationslager) gesteckt wurden zur Umerziehung. Dass das Bismarckreich in der Beziehung ein Vorläufer war, wird gerne verdrängt. Es fehlte hat nur noch die indzstrialisierte Menschenvernichtung.

Aber was für eine Weihnachtsgeschichte hastu da geschaffen,

böser, böser @zigga,

denn wer konsequent weiterdenkt, muss diese verkitschte und kommerzialisierte Vor- und Weihnachtszeit immer als Gegensatz zur Kreuzigung denken mit der gutbürgerlichen Gesellschaft in der Rolle des Pilatus, das ich in dem offensichtlichen Recht auf einen Parkplatz, nicht aber auf Obdach kennzeichnen möchte.

Was mir aber zunächst auffällt, ist die Sprache des Icherzählers, Jaden, was ich an einem kleinen Ausschnitt aufzeigen will, wenn es heißt

»Siehste«, sage ich, »is’ doch schon mal was. Jaden heiß’ ich«, sage ich, und er nickt, ohne mich anzusehen.
Die wörtl. Rede verknappt, kein Dialekt aber doch Soziolekt, wie es zu erwarten ist für ganz unten, die Schriftsprache aber zigga, wenn ich das mal so nennen darf, was sich in dem „sage“ mit dem ausklingenden unbetonten e nicht nur hier zeigt, sondern überall, wo Hochsprache ein Endungs-e klingen hören will. Ich sag da mal im Ruhrlatein, muzze ma selba kucken (wobei das harte „kucken“ das östliche – sächsische (Westfälisch) – ist, das westl. Ruhrgebiet das rheinische „gucken“ bevorzugt.)

Und auch die Bemerkung sei gestattet (ohne dass ich sie jetzt im einzelnen vorneweg belege – das wird zwischendurch immer wieder vorkommen), die Konjunktionen „und“ und „oder“ ersetzen i. d. R. ganz gut das Komma zwischen gleichrangigen Wörtern, Satzteilen bis hin zu Sätzen – ob zwischen Haupt- und/oder Nebensätzen.

Es gibt noch genug Trivialitäten zu beseitigen! Also in der Reihenfolge ihre Auftritts und direkt zu Anfang ein Konjunktiv, der Dir später, also weiter unten, durchaus gelingt

Heer hat den neuen Typen mitgeschleppt, und der wirft mir so Blicke zu, als ob er denkt, dass ich ihm gleich das Bier zahlen würde.
„als ob ...“ leitet i. d. R. eine traumhafte, eher unwirkliche denn reale Szene ein, die nach dem Konjunktiv verlangt – und zwar grundsätzliche den Konj. irrealis, wie es ja der Nebensatz in der würde-Konstruktion schon nahelegt, also besser statt denken „dächte“ (dass mir die Denglisierung der umgangssprachlichen würde-Konstruktionen nicht gefällt, sei nebenbei erwähnt. Und ich krieg jedesmal Hirn- statt Herzbluten, wenn jemand meint, man müsse die fünf Buchstaben verwenden, weil man sonst nicht verstanden werde oder Konjunktiv und Prät. verwechsele…)

Am meisten fickt mich die
Ist „ficken“ tatsächlich schon so weit in den allg. Sprachgebrauch eingedrungen? Vom Ursprung (mhd.) her bedeutet es „reiben“ und hernach "hin und her bewegen" (Duden), die Grimm Bros. haben es sogar im Niederdeutschen als Quelle ausgemacht, dort bezeichnete es die Bewegung der Feile am (mehr oder weniger frisch geschnittenen) Fingernagel, dass man es sogar als Lautmalerei abtun kann.

Aber da sieht man, welchen Unsinn die Denglisierung des „fuck“ (koitieren) bewirkt ...

..., aber es gibt , die gehen zugrunde, weil sie zu[...]viel Blut sehen[...] oder weil sie in einem Hausflur aufwachen und ihren Nebenmann ….
Heer und ich geben ihm eins unserer Biere ab, weil er fast losheu[l]t, als ich ihm sage, …

»Wie heißt du«, sage ich.
»Was?«, sagt er.
»Wie du heißen.«
Sind das nicht mehr als bloße Aussagen??

Heer kommt seit über ’nem halben Jahr jede Woche hier her und telefoniert …
hierher

Ich war in der Siebten, und auch schon draußen unterwegs, aber auch noch öfters in der Schule.
Würd ich hier eher als ein Attribut zum verkürzten „in der siebten (Klasse)“ sehen

Als ob ich’s hatte kommen sehen.
hätte, s. o. Konj.

»Muss das sein! So früh am Tag! Schämen solltet ihr euch!«, und Nikolaj würgt und schwankt im Sitzen, und Heer steht schon neben mir, drückt den Stop-Knopf und wartet nervös auf die nächste Haltestelle.
s. o. Anmerkung zum „und“ … weil der wörtl. Rede kein übergeordneter Satz des Typs "...", sagte ... folgt, anders wäre es bei einer Umstellung „…!“, würgt N. und schwankt ...
dto. hier
..., Heer hat sich links von ihm eingehakt, und ich rechts, er stinkt …

»Mhm« murmeln.
Wie spricht man das h aus, lautschriftlich wird‘s doch wie [m:] klingen und soll doch wohl eher ein [hm:] sein ...

Wir klingeln, und als Elke ans Tor kommt, schüttelt sie den Kopf und stemmt sich die Hände in die Hüfte.
s. o., wird aber hier nur noch mal aufgeführt wegen des Reflexivpronomens – wem könnte Elke sonst ihre Hände in deren/dessen Hüften stemmen?

... Polnisch zu ihm, und ich überlege kurz, spüre die Kälte in mein[em] Gesicht, meine Hände und Füße beißen.

Endlich mal was mit oder
»Entweder hol’ ich jetzt ’nen Krankenwagen, oder ihr geht und bleibt bei ihm. …
s. o.

... trinken; und dann hat sie uns den halben Wagen vollgemacht, Brot, …
geräusch- und geruchsloser „vollgepackt“

»Ich komm doch nicht mit ins dieses Haus!«, ruft er.
Eins kannstu streichen, ins oder dieses

Puh - jetzt hab ich'en leeren Kopf ... Gleichwohl, wenn man es bei dieser sozalen Tragödie überhaut sagen darf, gern gelesen vom

Friedel,
der noch ein schönes Wochenende wünscht!

 

Hallo Friedl! @Friedrichard

Ich danke dir wie immer für deinen aufschlussreichen Kommentar, und entschuldige gleichzeitig meine lange Antwortzeit.

böser, böser @zigga,
:D

Die wörtl. Rede verknappt, kein Dialekt aber doch Soziolekt, wie es zu erwarten ist für ganz unten, die Schriftsprache aber zigga, wenn ich das mal so nennen darf, was sich in dem „sage“ mit dem ausklingenden unbetonten e nicht nur hier zeigt, sondern überall, wo Hochsprache ein Endungs-e klingen hören will. Ich sag da mal im Ruhrlatein, muzze ma selba kucken (wobei das harte „kucken“ das östliche – sächsische (Westfälisch) – ist, das westl. Ruhrgebiet das rheinische „gucken“ bevorzugt.
Das ist ein guter Hinweis und ich denke mal drüber nach! Stimmt schon, kein Soziolekt. Immer, wenn ich nur ansatzweise Dialekt oder sonstiges von der Schriftsprache Abweichendes benutze, gibt es immer die eine Seite von Lesern, die sich darüber beschwert, dass sie nicht alles verstanden hätten (zurecht) und die das möglicherweise stark nervt, und die anderen, die das gut und authentisch finden. Ist immer so eine Entscheidungssache, denke ich, welche "Zielgruppe" man anvesiert mit einem Text, und welche man dann zwangsläufig damit ausschließt. Ich hab das Gefühl, mit Hochdeutsch als Konsens versteht das jeder, und man macht eben ein paar Abstriche an die Authentizität

Und auch die Bemerkung sei gestattet (ohne dass ich sie jetzt im einzelnen vorneweg belege – das wird zwischendurch immer wieder vorkommen), die Konjunktionen „und“ und „oder“ ersetzen i. d. R. ganz gut das Komma zwischen gleichrangigen Wörtern, Satzteilen bis hin zu Sätzen – ob zwischen Haupt- und/oder Nebensätzen.
Ja ja, das gute ", und", das hat schon so einigen die Fußnägel hochrollen lassen :D Ich streiche noch ein paar. Gleichwohl muss ich anmerken, dass ich glaube, dass man vor Hauptsätzen durchaus eines setzen kann (aber nicht muss). Ich hab mal drauf geachtet bei den Sachen, die ich so lese (wurden ja auch immerhin von Lektoren geprüft), und dort kommt das durchaus mal vor - aber ich will dir da in keinster Weise widersprechen!

Es gibt noch genug Trivialitäten zu beseitigen!
Danke dir dafür! Ich hab sie schon angepackt und werde da noch Weiteres nachschrauben!

Puh - jetzt hab ich'en leeren Kopf ... Gleichwohl, wenn man es bei dieser sozalen Tragödie überhaut sagen darf, gern gelesen vom
Du darfst! Danke dir fürs Lesen und Kommentieren, Friedl!


Liebe @maria.meerhaba

Du weißt, bin ne Null in Sachen Rechtschreibung, aber ist da wirklich die Konjunktion richtig? Heißt es nicht „los sei“ oder so?
Stimmt. Ich dachte mir nur: Würde ein Prot wie Jaden das wirklich sagen, "los sei"? Ich hab ja schon sehr Hochdeutsch und wenig Gossensprache hier verwendet, das nimmt natürlich so ein wenig die Authentizität, dann noch richtige Konjunktionen ... das würde ihn evtl. noch mehr nach Oberstudienrat klingen lassen! :D Aber danke für den Hinweis. (Ich hab es nicht absichtlich falsch gemacht, ich gebe es zu )

Bahnfahren könnten Heer und ich den ganzen Tag, nur die Kontrolleure stehen zwischen uns und der unbegrenzten Heizung.
Mir gefällt der Satz außerordentlich gut. Überhaupt hast du da einen echt tollen, authentischen Erzählstil drinnen, mit dem ich mich ganz schnell angefreundet habe.
Ach ja, danke

nd sie ist einfach schreiend vor mir weggerannt, meine Mutter, hat die halben Einkäufe und alles fallen lassen, als sei ich ein scheiß Gespenst oder sowas.
Weißte, lieber @zigga, den Anfang habe ich echt gern gelesen, da hatte ich meinen Spaß, doch jetzt wird mir das alles langsam doch zu eintönig und der Erzählton, der mir am Anfang gefallen hat, beginnt mich zu langweilen.
Ach Mist

Und das, verdammt noch mal, ist ein echt toller Satz!
Yess

Das wird wieder einmal für mich schwierig, lieber @zigga, denn auch wenn der Erzählton gut ist, bleibt die Geschichte selbst in meinen Augen eine 08/15er-Opfergeschichte, die ich schon oft gelesen habe. Klar, für Leute, die nicht gerade tonnenweise sowas intus haben, ist sicherlich die Geschichte heavy und hat einen Beigeschmack, an dem sie sich für Stunden austoben werden. Doch für mich endet es, wie die meisten dieser Geschichten: Ohne große Überraschung. Als die Oma ins Spiel kam, da verlor endlich die Geschichte seine eintönige Seite und ich war gespannt, wie du das machen wirst. Mir war klar, dass etwas Schlimmes passieren wird, aber ich habe doch gehofft, dass die Oma nicht bestohlen und getötet wird. Genau das passiert danach und es war klar, dass der Nikolaus daran seine Schuld hatte. Er ist der Konflikt in dieser Geschichte, der in den grausamen Alltag der beiden Freunde platzt, aber er verwandelt sich sehr schnell in ein Klischee, der aus purer Gier handelt. Ob die Oma überlebt oder nicht, spielt hier keine wichtige Rolle, sie ist nur ein weiteres Opfer, das nur für den Antrieb des Höhepunktes dient. Ich hatte wirklich gehofft, dass es anders wird, dass die Oma eine größere Rolle hat, als nur für das Diebesgut zu sorgen, aber ja, mich hat das enttäuscht und wieder: Ich habe genug solche Geschichten intus, so dass sie nicht bei mir funktionieren.

Andererseits möchte ich doch ein Beispiel nennen, das deutlich älter ist und nach so vielen Jahren keine 08/15 ist: In Les Miserable, da bestiehlt der Protagonist den Pfarrer und als Leser hat mich das damals schockiert. Andererseits wurden da die Gründe genannt, seine Abscheu gegen die Menschen, die in seinen Augen nichts Gutes verdient haben und der Pfarrer hätte selbst Schuld. Wieso lässt er auch ein Ganoven bei sich hausen? Da waren echt „gute“ Erklärungen für den Diebstahl und als er dann erfasst wird und zum Pfarrer gebracht wird, ist der außer sich und will wissen, wieso der Protagonist auch nicht die Kerzenhalter aus Silber mitgenommen hätte? Ich war baff damals. Da hatte der Autor (war es Alexander Dumas? Gott, hier funktioniert nicht mal Wikipedia und das Internet hier ist echt scheiße, so dass ich mir die Mühe nicht mache) eine 08/15er Situation umgeändert und voila. Nicht, dass ich von dir erwarte, dass die Oma nicht stirbt und toll lebt und so weiter, aber ich hätte doch erwartet, dass genau diese Schlüsselszene mehr beinhaltet hätte. Oder so. Ach, da jammere ich wieder über etwas, das ich selbst nie hinkriegen würde.
Ja, ich seh das mittlerweile ähnlich wie du. Ich war mir mit der Story schon vor dem Einstellen hier nicht sicher und hab sie lange in die Schublade geschoben, weil mir irgendwas nicht an ihr gepasst hat. Ein paar nette und neugierige Freunde haben sie dann gelesen und fanden sie irgendwie super, und dann dachte ich mir, lasse ich die Wortkrieger entscheiden. Ich kam allerdings nicht drauf, was mir an der Story nicht so recht passt. Schwierig nach wie vor für mich, eigene Sachen zu bewerten, bei Büchern oder anderen Autoren fällt mir das wesentlich leichter. Aber alles gut! :D Mir gefällt mittlerweile die Beliebigkeit und die aufgebaute Dramaturgie hier auch nicht mehr so gut. Ich finde mittlerweile, das ganze Drama und Böse in dieser Welt hätte es nicht gebraucht, wichtiger wäre es gewesen, ein Stück näher an die oder den Protagonisten zu rücken, das Drama mehr im Kleinen hätte geschehen lassen. Ein bisschen mehr aus allen Klischeekisten draußen. Das klingt jetzt sehr selbstkritisch. Ich fühle mich allerdings sehr gut dabei, weil ich mir denke, gut, dass ich durchs Forum darauf gekommen bin, ich hab das Gefühl, wieder ein wenig etwas gelernt zu haben. Ob ich das auch irgendwie umsetzen kann, in folgenden Texten, ist die andere Frage! :D

Handwerklich will ich sagen, dass die Geschichte durchaus sauber ist und ich keine Logikfehler oder so entdecken konnte. Sie ist gutgeschrieben, sie funktioniert, aber für mich ist sie halt nur eine weitere Opfergeschichte, die ich bald vergessen haben werde. Na ja, andererseits wolltest du es sicherlich so schreiben, und du hast sicherlich deinen Spaß daran gehabt und das ist doch eigentlich das Wichtigste.
Ja na ja vielleicht bin ich etwas überkritisch vielleicht auhc nicht, aber die Dramaturgie-Kiste funktioniert, wie man sie sich eben vorstellt, dass sie funktioniert und gut sei, aber anscheinend hat sie - für dich - trotz allem oder vielleicht auch gerade deswegen nicht funktioniert! Also kein Vorwurf und ich danke dir für die netten Worte zum Schluss, aber ich denke, sie funktioniert irgendwie nicht ganz für dich, was absolut ok ist.
Und: Nee, mir ist der Spaß beim Schreiben scheißegal. Deswegen tu ichs nicht. Ich will etwas Cooles schreiben, mit dem ich zufrieden bin und das einfach eine gute Geschichte ist. Wenn das hier nicht der Fall ist, will ich smir nicht schönreden, liebe Maria!

Danke dir wie immer fürs Vorbeischauen, liebe Maria, und kauf dir mal ordentliches Internet, Mädchen!!

 

ich:
Und auch die Bemerkung sei gestattet (ohne dass ich sie jetzt im einzelnen vorneweg belege – das wird zwischendurch immer wieder vorkommen), die Konjunktionen „und“ und „oder“ ersetzen i. d. R. ganz gut das Komma zwischen gleichrangigen Wörtern, Satzteilen bis hin zu Sätzen – ob zwischen Haupt- und/oder Nebensätzen.
Du
Ja ja, das gute ", und", das hat schon so einigen die Fußnägel hochrollen lassen :D Ich streiche noch ein paar. Gleichwohl muss ich anmerken, dass ich glaube, dass man vor Hauptsätzen durchaus eines setzen kann (aber nicht muss). Ich hab mal drauf geachtet bei den Sachen, die ich so lese (wurden ja auch immerhin von Lektoren geprüft), und dort kommt das durchaus mal vor - aber ich will dir da in keinster Weise widersprechen!

Nur nicht den Kopf hängen lasen (tätstu eh nich', ne?), ich geb mal Duden.de statt der Rechtschreibverordnung des Rechtschreiberates - jedes Jahr ändert sich ein wenig, letztens durch die Rinführung des ß als Großbuchstabe) zum Besten (https://www.duden.de/sprachwissen/newsletter/Der-Keilfleckbuntbarsch-und-die-Kommasetzung-Juli-2018)

"Erst einmal: Wenn selbstständige Hauptsätze durch eine nebenordnende Konjunktion wie und, oder, wie bzw. durch ein Konjunktionenpaar wie sowohl – als auch, weder – noch verbunden sind, wird vor die Konjunktion in der Regel kein Komma gesetzt. Man kann dies aber tun, um die Gliederung des ganzen Satzes zu verdeutlichen: Der Keilfleckbuntbarsch lässt sich auch in nicht extrem weichem Wasser gut halten[,] und es wird auch ein ph-Wert zwischen 6,5 und 7,5 hinreichen.
Dieses Komma ist auch dann freigestellt, wenn noch ein Nebensatz vor dem zweiten Hauptsatz eingefügt wird: Der Keilfleckbuntbarsch lässt sich auch in nicht extrem weichem Wasser gut halten[,] und solange das Wasser wenig keimbelastet ist, wird auch ein ph-Wert zwischen 6,5 und 7,5 hinreichen. Es wird aber meist gesetzt, während zwischen nebenordnende Konjunktion (und, oder etc.) und Subjunktion (solange, weil, wenn etc.) kein Komma gesetzt wird.
Kein Komma wird vor die nebenordnende Konjunktion (und, oder etc.) gesetzt, wenn einer der beiden Teilsätze elliptisch (Auslassung von Sprachelementen) ist: Der Keilfleckbuntbarsch lässt sich auch in nicht extrem weichem Wasser gut halten und wird auch mit einem ph-Wert zwischen 6,5 und 7,5 zurechtkommen." (Fett durch mich)

Bis dann, Dein

Dante Friedchen

 

Liebe Dante Friedchen,

ich danke dir für deinen erneuten Kommentar! Und gut, mal eine Art Richterspruch zu dieser Frage zu haben! Danke dir hierfür! Jetzt fühle ich mich tatsächlich etwas sicherer :D

Gruß
zigga

 

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