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- 02.01.2011
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Bullshit
Heer kommt mit diesem Neuen auf den Weihnachtsmarkt gelaufen, zu den Treppenstufen vor Nordsee, auf denen wir sitzen. Er ist erst dreizehn, sagt Heer, und gerade frisch aus dem Heim getürmt; und als ich dem Typen ins Gesicht blicke, habe ich für eine Sekunde das Gefühl, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben: Auf der einen Backe hat er diese lange, breite Narbe, vom Kinn bis zur Wange, und außerdem ist sein rechtes Auge blau und zugeschwollen. Ich frage ihn, was mit seinem Gesicht los is’, und der Junge spuckt mir erst einen dicken Rotzfaden vor die Füße, dann blickt er mir scharf in die Augen und sagt, ihn hätte früher irgend ’ne Erzieherin mal mit dem Gesicht gegen ’ne Heizung gedrückt, ’ne halbe Stunde lang; und dann wird er pissig, der Typ, dann blickt er an mir vorbei und sagt, was ich so neugierig bin, »Neugierige leben kurz«, sagt er.
Ich sitze noch auf meiner Decke, ziehe meine Jacke zu, rauche und spucke auf die Pflastersteine neben mir. »Bin halt ’ne neugierige Seele«, sage ich, »ansonsten nix.«
Fünf Minuten später sind wir auf dem Weg zum CityMarkt, ein paar Bier ziehen, ich zähle die Münzen in meinem Handschuh: Über sechs Euro, Weihnachtszeit ist beste Zeit. Heer hat den neuen Typen mitgeschleppt, und der wirft mir so Blicke zu, als ob er denkt, dass ich ihm gleich das Bier zahlen würde.
Am meisten fickt mich die Kälte. Klingt bescheuert, aber es gibt Leute, die gehen zugrunde, weil sie zu viel Blut sehen, oder weil sie in einem Hausflur aufwachen und ihren Nebenmann grau und tot sehen, mit dem sie noch am Abend zuvor rumgefeixt und Shit geraucht haben. Und ich gehe eben drauf, weil mir literweise der Rotz aus der Nase läuft, und weil ich nächtelang meine Füße und Beine nicht mehr fühle, obwohl ich Hundert Paar Socken und Hosen anhabe. Heer sagt, er spürt sie gar nicht mehr, die Kälte, Heer sagt, er würde sie nach einiger Zeit einfach vergessen; und tatsächlich läuft er schon wieder mit fast nichts als ein, zwei Lagen unter seinem grauen Woll-Parka herum, der Riese, und ich zittere mit vier Schichten T-Shirts und Pullis durch die Fußgängerzone. Heer wollte früher Anwalt werden, hat er mir mal erzählt, und daran muss ich manchmal denken. Ein schlaues Gesicht hat er ja schon, und mit ’nem ordentlichen Aufzug, wer weiß. Ab und zu fischt er sich Zeitungen aus Mülleimern, und dann setzt er sich auf irgendeine Parkbank und blättert sie seelenruhig und hochkonzentriert von vorne bis hinten durch; und das sind Momente, in denen ich mich frage, was eigentlich passiert ist, und wieso Heer in dieser Welt kein Anwalt ist; und ob man sich das eigentlich aussuchen kann, wer man ist, oder ob das nicht schon immer in einem drin ist, und ob Heer nicht auf irgendeine Art doch ein Anwalt ist, eben den Umständen entsprechend, Plattenanwalt vielleicht, aber das ist totaler Bullshit, glaube ich.
Der Neue lacht und feixt mit Heer herum, aber er trägt bloß so eine dünne Trainingsjacke und zittert wie bescheuert, mit den Händen in den Hosentaschen und der Kapuze eng über den Kopf gezogen. Als wir schließlich im Supermarkt ankommen, schlendern wir möglichst lange durch die Gänge, um aufzuwärmen, aber nach fünf Minuten haben wir schon den Filialleiter im Nacken.
Irgendwas an dem Neuen passt mir nicht. Er ist okay und alles, aber da ist was an ihm, was mir Kopfschmerzen macht. Heer und ich geben ihm eins unserer Biere ab, weil er fast losheult, als ich ihm sage, dass wenn er was saufen will, er sich selber Cash ranschaffen soll. Wir stehen ein bisschen vor dem CityMarkt, trinken und blicken den Leuten und Kindern und Taxen hinterher, aber die Flaschen sind kalt und der Kleine fängt wieder so sehr das Frösteln und Zittern an, dass ich Heer anblicke und sage: »Wird Zeit für ’ne Bahn oder?«
Bahnfahren könnten Heer und ich den ganzen Tag, nur die Kontrolleure stehen zwischen uns und der unbegrenzten Heizung. Ich liege halb in meinem Sitz, meine Wangen werden heiß vom plötzlichen Temperaturumschwung, ich blicke aus dem Fenster: Straßen, Autos, LKWs; graue, gelbe, braune Wohnblöcke, schicke Cafés, Handyläden, Ein-Euro-Shops und Bäcker. Der Neue sitzt mir auf dem Vierer gegenüber, und als ich zu ihm rüberblicke, sehe ich, dass er mich anstarrt.
»Wie heißt du«, sage ich.
»Was?«, sagt er.
»Wie du heißen.«
Er überlegt einen Augenblick, dann sage ich: »Kein Grund für Schaum vorm Mund, okay?«
Er nippt an der Flasche, dann blickt er aus dem Fenster und sagt: »Nikolaj.«
»Siehste«, sage ich, »is’ doch schon mal was. Jaden heiß’ ich«, sage ich, und er nickt, ohne mich anzusehen. Heer reibt sich die Hände in den Fäustlingen und blickt den Gang auf und ab: Vor ein paar Wochen wurden wir geschnappt, von den Kontrolleuren, und dann hieß es für jeden von uns: Bullen, Jugendamt, Papierkram, und anschließend ’ne Nacht in einem dieser beschissenen Notwohnheime, von denen man am nächsten Tag erst mal wieder zurück in die Stadt kommen muss. Warm ist es da, ja; aber nüchtern musst du sein, den ganzen Tag, ständig kommen sie mit ihren Piss- und Blastests – und was mir nüchtern in den Kopf steigt, ist so was wie die eisigste Kälte, die ich mir verfickt noch mal vorstellen kann.
Wir steigen an der Dreiundvierzig aus, weil wir unser Glück nicht zu arg rausfordern wollen, und weil wir da eine Telefonzelle kennen, die so hinüber ist, dass man bloß ein paar Mal an der richtigen Stelle ordentlich draufschwatten muss, und schon kann man hintelefonieren, wohin man will. Ist ’n richtiger Mythos, diese Telefonzelle, ein paar der klauenden Rumänenkinder vom Bahnhof hatten uns das vor ’ner Ewigkeit erzählt, als sie ’nen guten Tag hatten, und auch ganz genau, wie und wo man draufschlagen muss, damit das Teil funktioniert. Heer kommt seit über ’nem halben Jahr jede Woche hierher und telefoniert mit dem Jugendamt, weil er wissen will, wie’s jetzt mit seinem Zimmer aussieht, betreutes Einzelwohnen, aber immer wieder halten sie ihn hin und sagen, er soll sich wieder melden. Als Heer in die Zelle biegt und anfängt, auf dem Kasten rumzuhämmern, bleiben Nikolaj und ich in der S-Bahn-Haltestelle sitzen und machen den Wodka und die Ja!-Limo auf. Wir nehmen jeder einen Schluck vom Wodka, dann Limo, und Nikolaj fröstelt wieder, und meine Nase ist bis oben hin zu und die Kälte kriecht auch mir beißend in die Schuhe. Ich blicke die Straße abwärts und erkenne die großen, roten asiatischen Schriftzeichen des Vietnamesen, vor dem ich meine Mutter das letzte Mal gesehen habe. Fast zwei Jahre muss das her sein. Mit zwölf hat sie mich rausgeschmissen, weil sie es einfach nicht mehr ausgehalten hat: Ich würde aussehen wie mein Vater, jeden Tag mehr, hat sie immer wieder gesagt. Auf eine komische Art nehm ich’s ihr auch gar nicht übel. Er war ein Schwein, mein Vater.
»Was macht der’n da ewig?«, sagt Nikolaj mit den Händen in den Jeanstaschen und nickt zitternd in Richtung Heer.
»Geschäftliches«, sage ich.
»Drogen oder was«, sagt Nikolaj, und ich schüttle den Kopf, nehme noch einen Schluck Wodka und dann Limo hinterher.
»Er’s Anwalt«, sage ich.
Am meisten hasse ich mich selbst. Wenn ich nicht dicht bin, ertrag’ ich dieses Gefühl schon gar nicht mehr, dann brauche ich bloß über eine Brücke oder an ’ner Straße entlang zu gehen, und sehe mich schon überall runter- oder vor den nächstbesten LKW springen. Manchmal tut’s auch gar nicht gut, zu viel zu saufen oder zu rauchen, weil ich dann plötzlich das Heulen anfange und gar nicht mehr aufhören kann, weil’s mich innerlich so hart zerreißt. Heer weiß genau, wovon ich rede, und ’ne ganze Menge anderer tun’s auch.
Meine Mutter hatte sich damals einfach ’ne neue Wohnung gesucht, ohne mir Bescheid zu geben. Ich war in der siebten, und auch schon draußen unterwegs, aber auch noch öfters in der Schule. Irgendwann bin ich dann nach Hause gekommen, und weg war sie, ohne Zettel, ohne nichts, der Schlüssel hat einfach nicht mehr gepasst, und ihr Name stand zwar noch an der Klingel, aber ich hab’s sofort gecheckt, was los ist. Als ob ich’s hatte kommen sehen. Es war Sommer, und ich hab dann mit den anderen draußen gezeltet oder auf Wiesen geschlafen, und bin sogar noch ’n paar Mal in die Schule gegangen – natürlich ohne Bücher oder sowas, einfach der Gewohnheit wegen.
Als ich sie dann das letzte Mal gesehen habe, meine Mutter, vor dem Vietnamesen, war ich schon ein Sommer und ein Winter draußen, Platte machen; und sie ist einfach schreiend vor mir weggerannt, meine Mutter, hat die halben Einkäufe und alles fallen lassen, als sei ich ein scheiß Gespenst oder sowas.
Heer ist ganz bleich, als er aus der Telefonzelle kommt. Er sagt, da sei schon wieder ein neuer Sachbearbeiter, und der meint, er kümmere sich, aber was das heißt, könne ich mir ja denken. Heer setzt sich neben uns auf den Gittersitzplatz, legt den Kopf in seine Hände und sagt keinen Ton. Es tut mir fürchterlich leid, ihn so zu sehen. Manchmal bestellen sie ihn einfach rein, in das Jugendamt, und irgendeine neue, bescheuerte Schnalle fragt ihn dann ’ne halbe Stunde aus, wieso er aus dem Heim abgehauen ist, und ob und wie ihn da jemand angefasst hat, und drei Wochen später sitzt da wieder ein Anderer und fragt den gleichen Scheiß. Ein Zimmer haben sie trotzdem nie. Was soll das?
Schon als wir in die S-Bahn zurück zum Weihnachtsmarkt steigen, merke ich, wie sehr der Neue schwankt. Heer fragt, wie viel er denn drin hat, ich zucke mit den Schultern, und fast hätte ich vergessen, dass er ja erst dreizehn ist.
Kein Platz mehr in der verfickten Bahn. Wir schieben Nikolaj auf einen Zweier ans Fenster, aber selbst im Sitzen taumelt er schon, er ist ganz grau und blickt bloß auf den Boden. Heer setzt sich neben ihn, und es dauert keine zwei Stationen, da fängt der Junge schon das Kotzen an, die gelbe Limo schwappt ihm in Schüben aus dem Mund, es riecht stechend scharf nach Galle und Vodka, und die Leute um uns rum stöhnen, schauen weg und halten sich angeekelt die Hand vor den Mund. Eine aufgetakelte Alte mit angeleinter Katze auf dem Schoß sagt: »Muss das sein! So früh am Tag! Schämen solltet ihr euch!«, und Nikolaj würgt und schwankt im Sitzen, und Heer steht schon neben mir, drückt den Stop-Knopf und wartet nervös auf die nächste Haltestelle.
Wir müssen den Kleinen eine Dreiviertelstunde durch die halbe Stadt schleppen, Heer hat sich links von ihm eingehakt, und ich rechts, er stinkt fürchterlich nach Vodka und Kotze, seine Hose ist voller weißer Brocken und Flüssigkeit. Ab und zu halten wir an, und Nikolaj spuckt und atmet, aber es kommt nichts mehr.
»So können wir nich’ auf den Weihnachtsmarkt«, sagt Heer, und ich nicke und sage: »Aber auch nicht zur Penne«, und ich höre Heer bloß schnaufen und: »Mhm« murmeln.
»Vergisses«, sage ich, »so dicht lassen die ihn nie rein«, sage ich, »die holen die Bullen.«
Ich sehe den Jungen an, und er ist einen halben Kopf kleiner als ich, und er hat die graue Kapuze fest über den Kopf gezogen, und auf seiner dunklen Trainingsjacke liegen frische, einzelne Schneeflocken, und der Schritt seiner Jeans ist dunkel vor Nässe, und einzelne Brocken kleben ihm dort, Reis vielleicht, ich weiß es nicht. Er ist immer noch blass, Nikolaj, grau-blass, bloß die breite Narbe leuchtet rot dort an seiner Backe, als sei sie etwas, das nicht zu ihm gehört, ein Fremdkörper, der erst scharf zu glühen beginnt, wenn alles andere abstirbt. Nein, er stirbt nicht, sage ich mir, und als wir an einer Kreuzung wieder kurz anhalten, Heer links und ich rechts von ihm, blickt mich Nikolaj an und reißt die Augen auf, als würde er gerade aus drei Monaten Schlaf aufwachen – und sein linkes Auge ist noch dunkel und zugeschwollen, aber plötzlich fällt da für eine Sekunde etwas von ihm, und er blickt mich an – und ich sehe für diesen kurzen Moment einem Kind in die Augen, einem ängstlichen, vollgeheulten, verlorenen Kind.
Wir laufen trotzdem zur Penne, obwohl wir wissen, dass das mit diesem Besoffski nichts wird. Nikolaj sagt den ganzen Weg über nichts, bloß einmal will er anhalten und rauchen, und obwohl die Temperaturen immer weiter fallen, zittert er nicht mehr; im Gegenteil: Schweißperlen glänzen ihm im kotzbleichen Gesicht, und ich denke mir noch, wie komisch das ist, dass ein Körper bei so einer Kälte dermaßen schwitzen kann.
Nikolaj ist nicht weniger nüchtern, als wir an der Notschlafstelle ankommen – er kann kaum mehr die Augen offen halten, wir schleppen ihn halb, und ständig jammert er rum und fährt sich mit der Hand durchs schweißnasse Gesicht, dass er pennen will, dass er einfach nur pennen will.
»Du kannst hier draußen nicht pennen«, sage ich, »da bist du schneller verreckt, als du zählen kannst«, sage ich.
Die Notunterkunft ist ein betongraues, einstöckiges Gebäude im Hafen, mit einer großen Sonnenblume an der Außenwand gesprayt, gepflastertem Vorhof und hohem Zaun mit elektrischer Türöffnung. Als Minderjähriger kann man hier im Winter maximal zwölf Nächte übernachten, sie öffnen um 21 Uhr, dann hat man zehn Stunden ein Bett für sich, plus warmes Essen und frischer Kleidung.
Ich blicke zu Heer und sage: »Der kommt nie rein«, ich sage: »Die holen die Bullen, wenn die den so sehen.«
Beim Wort »Bullen« schreckt der Junge auf, blickt mich panisch an und löst sich aus unserem Griff.
»Niemand holt hier die Bullen«, sagt Heer beruhigend, klopft dem Kleinen auf die Schulter und steckt sich eine Kippe an.
»Keine Bullen«, sagt Nikolaj, und zieht sich seine Mütze in die Stirn. Wir klingeln, und als Elke ans Tor kommt, schüttelt sie den Kopf und stemmt sich die Hände in die Hüfte. Sie reicht mir gerade mal bis zur Nase, ist rundlich, und ihre braun-grauen, langen Locken stehen ihr wie Korkenzieher vom Kopf.
»Gott, wie alt bist du denn?«, sagt sie, und blickt erst Nikolaj, dann Heer und mich an.
»Sechzehn«, sagt Heer, und zieht an der Zigarette.
Elke schüttelt den Kopf. »Im Leben nicht«, sagt sie. Sie sagt: »So kommt ihr hier nicht rein, das wisster, oder?« Sie sagt: »Der ist ja stockbesoffen. Was hat der denn alles genommen? Wenn der hier rein kommt, hol ich ihm gleich ’nen Krankenwagen, das sag ich euch, Jungs!«
Nikolaj stellt sich sofort wieder gerade hin, schwankt zwar stark, aber sagt laut und deutlich: »Nje!«, und positioniert seine Mütze wieder richtig auf dem Kopf, die Augen schielend, halb geschlossen. Heer sagt etwas auf Polnisch zu ihm, und ich überlege kurz, spüre die Kälte in meinem Gesicht, meine Hände und Füße beißen. Der Nachthimmel über uns ist tiefschwarz, Wind weht, der Boden glitzert gefroren, meine Nase ist vollkommen dicht, ich kann bloß durch den Mund atmen.
Elke sagt: »Entweder hol’ ich jetzt ’nen Krankenwagen, oder ihr geht und bleibt bei ihm. Aber so kommt ihr nicht rein, ihr kennt doch die Regeln.«
»Und ich könnte nicht rein?«, sage ich, aber kaum habe ich gecheckt, was ich da eben gesagt habe, ist Nikolaj schon weggerannt, die Straße entlang – und ich wundere mich, wie schnell er ist.
»Geht!«, sagt Elke, und fuchtelt mit den Händen herum. »Passt auf den auf, aber so besoffen kommt der hier nicht rein, das wissta doch!«
Wir gehen schon die Straße abwärts, da ruft uns Elke noch hinterher: »Und wenn was is’, kommter hierher, dann ruf ich ’nen Krankenwagen!«
Heer bleibt nach ein paar Metern abrupt stehen und schlägt sich gegen die Stirn. »Hosen!«, sagt er, und sieht mich an. »Und ’ne Jacke braucht er!«
Zum Glück hat Heer an die Hosen gedacht, sonst hätten wir hier neben einem Vollgekotzten pennen müssen. Nikolaj haben wir nach ein paar Minuten schon gefunden, zwei Straßen weiter auf einer Parkbank sitzend, den Kopf in die Hände gelegt, vollkommen tief pennend. Hat ’ne ganze Ecke gedauert, ihn wach zu kriegen, und noch mal bestimmt ’ne Stunde, bis wir bei den Zelten auf der Platte waren. Ist natürlich kein Arsch hier außer uns, bei diesen Temperaturen. Wir schlafen zu dritt im Zelt, neben uns Plastiktüten, Flaschen, Dosen, irgendwo auch ein Kochtopf und eine Glasbong. Draußen weht der Wind, ich höre die Äste und Blätter des kleinen Waldstücks rascheln, in das wir unsere Platte aufgeschlagen haben. Ich zittere die ganze Zeit, und auch Heer fröstelt, und hat sich in drei Decken eingerollt. Ich nehme einen Schluck vom Vodka und überlege, ob es nicht doch besser gewesen wäre, wenn wir irgendwo einen Hausflur oder ein öffentliches Klo gesucht hätten, aber mit dem Kleinen – unmöglich. Ein paar Mal denke ich daran, einfach zurück zum Blumenhaus zu gehen, aber die machen Mitternacht zu, und ich glaube, wir sind schon weit drüber. Nikolaj ist der einzige von uns dreien, der tief und fest durchpennt, er schnarcht fürchterlich. Irgendwann nachts sagt Heer: »Morgen gehn wir zur Oma«, und ich nicke, hauche in meine Hände und sage: »Aber sowas von zur Oma.«
Die Oma ist sowas wie der schönste Ort für mich, ich kann’s gar nicht anders beschreiben. Wir haben sie vorletzten Herbst kennengelernt, an einem Morgen im CityMarkt, als Wadim, Heer, Tetra und ich wie die kaputtesten Gestalten voll auf Speed durch die Gänge gestrahlt sind, bisschen Knabberzeug und was für die Hunde kaufen. Die Oma schob den Einkaufswagen zu uns, und dann hat sie den Kopf geschüttelt und gesagt, Kinder wie wir müssten doch ordentlich essen, nicht immer bloß trinken; und dann hat sie uns den halben Wagen vollgemacht, Brot, Marmelade, sogar Schokolade und Cracker, und später haben wir das alles zur Platte geschleppt, und uns ordentlich den Bauch vollgeschlagen. Davor haben wir aber der Oma die Einkäufe nach Hause getragen, weil, sie kann ja selbst kaum mehr laufen, und wohnt im ersten Stock, ganz ohne Aufzug; und wir haben der Oma die Einkäufe in die Schränke geräumt, und dann hat sie uns Kaffee und heiße Schokolade aufgekocht; und es war komisch, aber als wir gingen, stiegen mir wieder diese tausend schwarzen Bullshit-Bubbels in den Kopf, und ich hab den ganzen Tag und die ganze Nacht durchgeheult, und ich dachte, das war’s jetzt, jetzt sterbe ich – da konnte ich so viel Shit rauchen und Vodka saufen wie ich wollte; und es ist komisch, warum ein so schöner Nachmittag einen dermaßen killen kann, aber manchmal ist das so, manchmal ist es nicht das Hässliche, das Furchtbare, das man sehen muss, sondern der Anblick von etwas so Schönem, der einen vollkommen zerlegt.
Es ist Morgen, halb neun vielleicht, der Himmel strahlend blau, die Kälte eisig und beißend, und kaum sind wir von der Platte durch die ganzen Bäume und Gebüsche gestampft, sind meine Füße schon Eiszapfen, und meine Nase ist so dicht, als hätte ich sie mir mit Watte ausgestopft, mein Hals brennt und in meinem Kopf sticht es. Sogar Heer, der Riese, fröstelt jetzt, und zieht sich den Mantel bis oben hin zu – bloß Nikolaj ist seltsamerweise fit, rennt durch das Unterholz vor uns, lacht und wirft Schneebälle mit zu viel Erde nach uns; wir ducken uns weg, und Heer schreit ihm irgendwelche polnischen Flüche zu, die ich nicht kenne.
Die Oma braucht ewig, um aufzumachen, aber hier im Treppenhaus höre ich durch die Tür hindurch ihre Schritte: das gleichmäßige Schlurfen ihrer Hausschuhe auf dem Linoleum, ihr Schnaufen und Ächzen. Durch das Milchglas sehe ich ihre kleine Gestalt, die lila-blauen Haare zur Dauerwelle, und wie sie sich nach jedem Schritt mit der Hand an der Wand abstützt.
Als sie schließlich die Tür öffnet, lacht sie und sagt: »Ach, ihr Kinder seid es!«
»Ja, wir wollten fragen, ob –«, fange ich an, aber dann winkt die Oma schon nach drinnen, sagt: »Rein, rein! Rein in die gute Stube!«
Sie lacht und ich sehe ihre Knopfaugen hinter den dicken Brillengläsern mit dem goldenen Drahtrahmen. Ihre Beine und ihr Kopf zittern auf diese komische Art, als ob man sie ununterbrochen schütteln würde, und sie trägt diesen grauen Jogginganzug, den sie immer trägt. Schon im Gang höre ich den Fernseher laufen, ein kleiner, aufklappbarer Plastiktisch steht mit dem Sessel keine Armlänge vor dem Bildschirm, darauf ein Teller mit Brot, ein Marmeladenglas und eine Tasse.
»Hab ich mir gerade angeschaut«, sagt die Oma, und läuft schlürfend und keuchend zum Sessel, nimmt die Fernbedienung in die Hand und schaltet das Gerät leiser. »Frühstücksfernsehen«, sagt sie, und sieht uns lächelnd an, »da kommen gleich Musiker, Böhmische Blasmusik, und ihr wisst ja, ich bin eine alte Musikerin!«
Ich darf zuerst baden. Drüben höre ich den Fernseher lauter werden, ich höre den Moderator reden und dann lachen, schließlich Trompeten, Blasmusik. Ich ziehe all meine Klamottenschichten aus, bis ich ganz nackt bin. Ich habe das Wasser ganz heiß eingelassen, und schaue mich noch einen Moment im Spiegel an, bevor ich einsteige: mein Gesicht, meine krumme, breite Nase, meine hervorstehenden, übergroßen Schneidezähne, meine blasse, dünne Brust, die Segelfliegerohren, der blonde Flaumbart, die Pickel. Ich denke nichts in diesem Augenblick, ich sehe bloß mich an, wie ich bin, nackt, und es ist seltsam, aber fast kommt es mir vor, als würde ich einem Fremden in die Augen blicken; als würde ich Nikolaj in die Augen blicken, so wie er mich gestern Abend in dieser einen Sekunde angeblickt hat, als wir ihn zum Sonnenblumenhaus geschleppt haben.
Als die Trompeten richtig einsetzen, lege ich mich ins heiße Wasser, und kurz sehe ich noch die weißen Kacheln im Badezimmer, das verschmierte Waschbecken und den kleinen, runden Spiegel darüber; dann atme ich tief ein, schließe die Augen, und plötzlich ist da bloß noch Wärme um mir, und nichts als Dunkelheit, Lichtflecken, Hitze: Als ob ich schweben würde, als ob sich alles um mich herum auflöst, und gleich wache ich in einem fernen Land, in einem fernen Badezimmer, bei einer fernen Tante und einem fernen Onkel auf – oder in meinem eigenen Badezimmer, in meinen eigenen vier Wänden, und alles würde ich penibel sauber halten, und morgens würde ich auf der Couch unter einer Decken liegen und bis Mittag Frühstücksfernsehen gucken – als ob ich nur lange genug hier bei der Oma unter Wasser die Luft anhalten müsste, und alles wäre möglich.
Warmer Toast, Butter, Eier, alles mögliche hat die Oma aufgetischt, und in der ganzen Wohnung hängt dieser Geruch, der nur in Wohnungen von Omas hängt. Ich sitze auf der Eckbank am Tisch, die Katze mit dem weißen, langen Fell schlängelt sich durch meine Beine, ich höre, wie Heer im Bad das Wasser einlässt, und Nikolaj liegt drüben im Sessel, mit der Rücklehne ganz nach hinten geklappt, und starrt auf den Bildschirm: Blasmusik, Berge und Wiesen. An den Wänden hängen tausende Fotos in Bilderrahmen, auf den Kommoden stehen goldene und silberne Pokale, dazwischen Holzkästchen mit irgendwelchem Grusch drin.
»Musiker waren wir früher alle«, sagt die Oma, und sieht mich lächelnd an, wie ich in einen Toast beiße. Ihr Kopf und ihre Hände zittern, mir fällt der Name der Krankheit nicht ein. »Mein Jüngster, Klaus, hat dann auch in Amerika gespielt, haben eine T-ou-r-n-ee gemacht, den Mississippi rauf, und bis nach Kanada. Alles Blasmusiker«, sagt sie, und lehnt sich im Stuhl zurück. »Alle haben wir Musik gespielt, alles Musiker in der Familie. Louis, mein Ältester, wohnt jetzt in, ähm, Cottbus, und hat dort einen Mu-sik-la-den, oben in Cottbus. Und junge Leute wie ihr, dass ihr so leben müsst«, sagt sie, und dann schüttelt sie den Kopf und fuchtelt entsetzt mit der Hand herum, »das hätt’s früher nicht gegeben, eine Schande ist das. So liebe, nette, junge Menschen«, sagt sie.
Als wir später gehen, bin ich schon ganz affig, weil ich dringend was zu saufen brauche. Heer drückt die Oma lang und innig, und als ich sie umarme, kommt mir plötzlich wieder dieser ganze Bullshit in den Kopf, und ich brauche noch dringender was zu saufen.
»So gute Jungs seid ihr«, sagt sie, mit dem Arm an der Wand abgestützt, und jetzt fährt sie sich plötzlich mit der Hand über die Augen. »Eine Schande ist das!«, sagt sie. »Und ihr passt mir auf euch auf«, sagt sie, und hebt den Finger. »Immer warm und ordentlich bleiben, und wenn was ist, wisst ihr, wo ihr die Oma findet!«, sagt sie. »Und passt auf den Oskar auf, dass der nicht mit rausrennt.« Sie deutet auf die Katze, die sich durch unsere Beine schlängelt.
Als wir unten aus dem Wohnhaus gehen, sagt Heer: »Lass Voddi kaufen und zum Blumenhaus gehen, die machen heute früher auf, wegen Advent oder so«, und wir sind alle einverstanden.
Draußen ist es wieder eisig, und im CityMarkt sprüht sich Heer bei den Toilettenartikeln Deo unter die Achseln und ich habe den Vodka und die Mische in der Hand.
»Wo ist ’n Nikolaj?«, sage ich und blicke den Gang auf und ab, ich kann ihn nirgends sehen.
»Der wollte noch mal zurück«, sagt Heer, und sprüht sich noch einen Schwall auf den Hals.
»Zur Oma?«, sage ich ungläubig. Heer nickt. »Hat irgendwas dort vergessen«, sagt er. Er streift sich die langen, braunblonden Haare aus dem Gesicht und grinst mich an. »Vermisst du ihn jetzt schon oder was?«, sagt er und lacht.
Ich habe fast mein ganzes Geld für Voddi und Mische ausgegeben, und Heer hat sich mal wieder sämtliche Taschen und Parka-Öffnungen mit Süßigkeiten und Kleinscheiß vollgesteckt. Es schneit, die Straße glitzert gefroren und wir stehen vor dem CityMarkt, auf dem Gehsteig. Mein Hals brennt, meine Nase ist dicht, ich nehme einen Schluck Vodka und Limo hinterher und fühle mich gleich besser.
»Wo bleibt der denn?«, sage ich und blicke den Gehsteig auf und ab.
»Keine Ahnung«, sagt Heer, nippt vom Vodka und spuckt auf die Straße. »Der wollte wiederkommen, hat er gesagt.«
Irgendwas stimmt nicht mit mir, und als wir fast zehn Minuten gewartet haben, sage ich: »Wir gehen noch mal zur Oma«, und Heer stöhnt und protestiert, weil es genau in der entgegengesetzten Richtung zum Blumenhaus liegt, aber ich denke bloß an Nikolajs blaues Auge, an diese Narbe in seinem Gesicht, an diese seltsam aggressive Art, und ich hab einfach nur ein verdammtes Scheißgefühl.
Wir laufen die Straße zurück, über die Brücke, und es dauert keine fünf Minuten, als wir Nikolaj plötzlich sehen, an der Ampel zu einer Kreuzung, eine Straße von der Oma entfernt.
»Das isser doch«, sagt Heer, und ich sage: »Komm!«
Als uns der Junge sieht, läuft er plötzlich die Straße entlang, weg von uns; er beginnt schneller zu laufen, dreht sich um und ruft: »Ich komm nich mit!«, und läuft weiter. »Ich komm doch nicht mit in dieses Haus!«, ruft er.
Wir rennen, und jetzt rennt auch Nikolaj, und er hält seine Jacke so komisch, wie ein schwer beladenes Kamel. Wir sind nur etwas über eine Ecke von der Oma entfernt, und als Nikolaj über eine rote Ampel rennen will, fällt ihm das erste Zeug aus der Jacke heraus: ein silberer Pokal.
»Ey!«, schreie ich, und ein paar Türken vor einer Spielo drehen sich nach uns um, schütteln den Kopf und blicken uns hinterher.
Als wir an Nikolaj dran sind, stolpert er und fällt hin, und eine Holzkiste rutscht aus seiner Jacke, die Klappe geht auf, Ringe und Ketten klimpern über den Gehsteig.
»Du Wichser!«, schreie ich, und trete ordentlich auf ihn ein. »Die Oma!«, schreie ich, und Heer schreit auch etwas, auf Polnisch, zieht den Jungen mit seinem Riesenkörper hoch, und ich fische die Ringe und Ketten von der Straße.
»Nein!«, wimmert Nikolaj, »lasst mich!« Der Junge wiegt keine fünfzig Kilo, und wir zerren ihn den Gehsteig entlang, an einer S-Bahnstation vorbei und dann um die Ecke, und schließlich stehen wir wieder vor dem gelben Wohnhaus der Oma. »Du blöder Spasti!«, sage ich, und schlage ihm auf den Hinterkopf. Unten im Treppenhaus ist die Tür auf Kipp, wie immer. Als wir drinnen im Treppenhaus stehen, drückt sich Nikolaj gegen die Wand und hebt die Hände, seine Augen sind rotgeheult, der Rotz läuft ihm aus der Nase und sein Kinn zittert. »Bitte!«, sagt er, »lasst mich!« Mir fällt wieder das blaue, zugeschwollene Auge in seinem Gesicht auf, und plötzlich wundert mich gar nichts mehr. »Du blöder Wichser!«, sage ich, und gebe ihm eine Schelle. Als er wieder versucht, wegzurennen, tritt ihm Heer in die Beine, und der Junge fällt mit einem Schrei auf den Boden.
»Jetzt bist du dran«, sagt Heer, und ich reiße Nikolajs Jacke auf, Heer durchwühlt seine Taschen – wir holen die Schmuckkästchen, Pokale, Ketten und Ringe heraus.
»Bleib bei ihm«, sage ich zu Heer, und deute auf Nikolaj – aber als ich die ersten Treppenstufen hinaufgehe, bleibe ich plötzlich stehen; oben sehe ich die Tür der Oma, wie sie halb geöffnet steht; ich sehe das Milchglas, und ich höre den Fernseher noch laufen: Werbung, Kinder lachen, eine Männerstimme sagt etwas, dann quietschende Reifen, und wieder lachen alle. Ich höre die Katze drinnen wie verrückt miauen. Ich atme tief ein und aus, und plötzlich verschwimmt alles um mich herum.
»Nein«, sagt Heer, und ich spüre seine Hand auf meiner Schulter liegen. »Ich mach das«, sagt er, »bleib hier.«
Ich sehe Heer hochgehen, mit den Pokalen und Kästchen in die Wohnung einbiegen; ich höre das Lachen der Kinder, die Geräusche des Fernsehers. Die Katze steht jetzt oben in der Tür, sieht mich auf den Treppenstufen stehen und miaut. Sie hält die vordere Pfote hoch, und sie ist nicht schneeweiß wie ihr restliches Fell, sondern blutrot. Ich gehe runter zu Nikolaj. Er liegt heulend auf dem Boden, und jetzt zieht er sich hoch und wischt sich über die Nase, greift nach dem Türgriff – da bin ich plötzlich an ihm dran, da trete ich ihm von hinten in die Kniekehlen – und er fällt hin, schreit wieder; und dann trete ich auf ihn ein, auf diesen Wichser, auf diesen kleinen Hurensohn, dann trete ich zu, wieder und wieder, und ich höre ihn stöhnen und schreien.
Ich schreie: »Die Oma!«, und als ich ihm gegen den Kopf trete, wird er plötzlich ganz stumm – und ich hole aus, und ballere ihm mit aller Kraft noch mal die Spitze meines Schuhs in die Fresse – und sein Hinterkopf knallt mit voller Wucht gegen die Wand des Treppenhauses, ich höre es knacken – alles wird still, sein Gesicht ist rot, blutüberströmt, und er bewegt sich nicht mehr; ganz schlaff liegt er da, mit den Augen zuckend in seinen Schädel gedreht, sein Mund steht offen. Heer kommt die Treppe heruntergelaufen, mit Tränen in den Augen, schaut mich an und schüttelt den Kopf. »Geh nicht hoch«, sagt er.
Wir rennen weg, die Straße entlang, vorbei an Bäckern, Dönerbuden, Spielos, hohen Wohnhäusern und Cafés; irgendwann kann ich nicht mehr. Ich halte an, gehe in die Hocke und atme schnell ein und aus, Tränen laufen mir übers Gesicht. An meinem rechten Schuh klebt vorne Blut, es ist eher schwarz als rot. »Stopp«, sage ich zu Heer, »Pause!« Ich heule wieder, ich kann gar nicht aufhören. »Die Oma«, sage ich, und jetzt spüre ich Heer mich von oben umarmen, auch sein ganzer Körper bebt, und er heult ganz furchtbar. »Ja«, sagt er, »ja.«
Wir trinken fast den ganzen Voddi, und dann sitzen wir vor dem hohen Tor des Blumenhauses und warten, dass sie öffnen. Ich fahre mir über die Nase und rauche. Ich friere und in meinem Kopf sticht es wieder brutal, mein Hals brennt bei jedem Zug. Wir sagen kein Wort. Wir heulen nicht.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Mir ist kotzschlecht und ich liege in unserem Zimmer im Blumenhaus, Heers Bett gegenüber ist leer, er ist drüben im Gemeinschaftsraum, sie essen Kartoffelbrei mit Gulasch. Ich drehe mich zur Wand und will nicht mehr. Die Oma ist tot. Ich weiß nicht, ob sie tot ist, ich habe Heer einfach nicht gefragt. Ich stelle es mir vor, wie sie blutüberströmt im Gang liegt und sich nicht mehr rührt. Ich will es nicht wissen. Ich bin so besoffen. Ich will nicht mehr. Mir ist kotzschlecht. Hoffentlich sterbe ich bald. Es ist besser, wenn ich sterbe. Ich will irgendwo runter springen, vor einen Laster. Hoffentlich ist der Junge tot! Wie konnte ich ihn mit zur Oma nehmen? Ich hasse mich so sehr, und ich hasse die ganze Welt, und vor allem hasse ich den Jungen! Ich wünschte, ich wäre sofort tot! Ich wünschte, mein Vater hätte mich damals umgebracht, als er ausgetickt ist, und erst meine Mutter kaputtgeschlagen hat, und dann mich, als ich ihn von ihr wegziehen wollte. Sie ist damals mit dem Kopf gegen die Tischkante geknallt, und seitdem hatte sie diese Krampfanfälle, meine Mutter, ist ständig zappelnd auf den Boden gefallen, die Augen haben sich nach oben gedreht und ihr ist der Schaum vor den Mund gestiegen. Ich wünschte, er hätte uns beide umgebracht, nein, ich wünschte, ich hätte ihn umgebracht, damals, ich hätte ihn einfach kaputt geschlagen, von hinten, mit einem Hammer auf den Schädel, bumm, und tot!
»Jaden?« Elke steht in der Tür, von draußen scheint das grelle, weiße Licht des Gangs herein. »Hier sind ein paar Männer von der Polizei, und die haben ein paar Fragen an dich.«
Heer sehe ich hinter Elke und den Polizisten stehen, und mich mit diesem Blick ansehen: Und ich denke daran, wie er auf dieser Parkbank bei den Enten-Seen sitzt, und wie er sich eine der Zeitungen aus dem Mülleimer zieht und sie von oben bis unten seelenruhig durchliest; und ich denke an die Augen des Jungen, wie sie zuckend in den Schädel gedreht sind, sein blutrotes Gesicht, das Zucken der Oma, das Zucken meiner Mutter, wenn ihr der Schaum vor den Mund gestiegen ist und sie krampfend auf den Boden gefallen ist; mir ist so kalt, so kalt; und ich sehe die Polizisten auf mich zukommen, mich etwas fragen; und ihre Stimmen sind weit weg, und ich bin weit weg; und plötzlich schlage und trete ich um mich, dort im Bett, alles rast in mir, alles dreht sich in mir, sie wollen mich packen, aber sie kriegen mich nicht, und ich bin so besoffen, und dort, im Blumenhaus-Bett gegen zwei Polizisten schlagend und tretend, habe ich das seltsame Gefühl zu fallen: Als ob ich plötzlich in ein endlos tiefes schwarzes Loch fallen würde; und Heers Stimme, sein Schreien ist da irgendwo dumpf hinter mir, und ich falle, falle, und trete, trete, und ich wünschte, ich würde endlich aufknallen, ich wünschte, ich wäre endlich tot.
Elke sehe ich erst fast ein dreiviertel Jahr später wieder, es ist schon Sommer. Durch die dicken Glasscheiben der Fenster sehe ich das grelle, orangene Sonnenlicht in den Besucherraum brechen. Sie trägt einen langen Rock und ein weinrotes T-Shirt, ich meinen Adidas-Jogging-Anzug. Sie war bei keinem der Verhandlungstage im Gericht gewesen. Sie sagt, sie hätte gehört, wie alles ausgegangen sei, und dass sie, wenn ich will, jetzt öfter kommen würde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll – da ist etwas in mir, das sie wegschubsen will, aber gleichzeitig will ich, dass sie mir zuhört, mich in den Arm nimmt. Ich nicke vage mit meinem Kopf. Ich sitze zwar ein, aber bin noch immer nicht nüchtern, Aufgesetzter und Dope kriegt man hier an jeder Ecke, wenn man nur bereit ist, mit etwas zu zahlen: mit sich selbst oder mit Geld, wenn man es hat. Ich denke nicht mehr oft an den Jungen. Ich habe seitdem nie wirklich an ihn gedacht. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt. Manchmal wache ich nachts schreiend und schwitzend auf, und dann sehe ich sein Gesicht vor mir, das viele Blut auf dem Boden, sein Blick, und ich habe Angst vor dem, was da kommt; aber kaum bin ich fünf Minuten wach, habe ich ihn schon wieder fast vergessen.
Elke und ich reden ein bisschen, aber ich bin kaltschnäuzig und abweisend, ich kenne das von mir. Als sie aufsteht und gehen will, frage ich noch schnell: »Und was ist mit Heer?«, und Elke blickt mich einen langen Moment ernst an, dann sagt sie, sie hätte ihn nicht gesehen, seit Monaten schon; und dass sie mir Bescheid gibt, wenn sie etwas von ihm hören würde. Ich nicke, und dann stehe auch ich auf, nicke ihr zu und gehe zurück zur Schranke. Manchmal habe ich Angst vor all der Zeit, die da noch vor mir liegt; der Psychologe fragte mich neulich, was ich machen wolle, wenn ich wieder raus käme; und ich habe lange nachgedacht, und schließlich gesagt, dass ich es nicht wisse. Aber in Wirklichkeit habe ich an diese kleine Wohnung gedacht, meine Wohnung; und alles würde ich penibel sauber halten, und morgens würde ich auf der Couch unter einer Decke liegen und bis Mittag Frühstücksfernsehen schauen. Und als ich an all das denke, steigt mir schon wieder dieser ganze Bullshit in den Kopf, und ich weiß, dass wenn ich mich jetzt zurück ins Bett lege, ich wieder Tag und Nacht durchheulen könnte; aber ich beiße die Zähne zusammen und schlucke es hinunter, das Gefühl, hinunter zu all den anderen Dingen, die da irgendwo tief in mir liegen und nur in meinen Träumen zu mir aufsteigen.