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Buchstabensuppe
„Du … an die Tafel kommen und den Satz analysieren.“
Inga erschrak. Meinte der Lehrer etwa sie? Unentschlossen, ob sie sich angesprochen fühlen sollte oder nicht, blieb sie sitzen. Mit großen Augen schaute sie sich um. Ihre Klassenkameraden erwartungsvoll in ihre Richtung. Langsam hob sie den Kopf. Er kam ihr unglaublich schwer vor.
„Inga, wenn ich bitten darf?“, forderte Herr Schulz sie erneut auf. Panisch schaute sie sich den Satz an der Tafel an. Sie hasste diese Situationen. Das Blut stieg ihr in den Kopf, ihr Herz raste und in ihrem Gehörgang entwickelte sich ein dumpfer Ton, der sich langsam aber stetig zu einem kräftigen Rauschen entwickelte. Klar und deutlich spürte sie, wie jeder sie anstarrte. Ängstlich saß sie da und wartete auf ein Wunder. Die anderen Schüler tuschelten. Sie redeten nicht einmal über sie, doch in diesem Moment kam es Inga so vor, als würde die ganze Welt auf sie herabblicken.
„Ich fordere dich kein viertes Mal auf! An die Tafel, oder du erntest eine Sechs!“, drohte der Lehrer. Seine grauen Haare klebten im fettig auf der Kopfhaut, und seine Brille drohte von seiner Nase zu rutschen. Laut atmend stand er da, und man sah förmlich, wie vor Empörung, die Äderchen in seinen leicht gelblichen Augäpfeln platzten.
Langsam erhob Inga sich. Ihre Augen starrten wie paralysiert auf den Satz, der an der Tafel stand. Buchstabensuppe. Angestrengt versuchte sie während ihres Gangs an die Tafel, die Buchstaben zu sortieren und einen Satz zu bilden. Wenigstens ein Wort wollte sie herausfiltern, doch die Buchstaben schienen sich zu bewegen, und zerstörten ihre gerade errichtete Ordnung. An der Tafel angekommen, stellte sie sich unentschlossen neben Herrn Schulz und blickte zu ihm auf. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sein Geruch nach Zwiebeln, und Rauch war unerträglich. Ihr war, als könnte sie jede einzelne Pore auf seiner Stirn zählen. Schnell riss sie sich von seinem widerwärtigen Anblick los, und trat einen Schritt zurück. Sie wusste, dass er sie niemals einfach so freigeben würde. Er war ein Spieler, der sich an der Unwissenheit seiner Schüler erfreute. Man sollte so einen Menschen nicht Lehrer werden lassen. Niemand wagte es, sich gegen ihn zu stellen, denn er hatte seine Methoden, sich zu rächen. Grausame Methoden. Alle hatten Angst vor ihm, und niemand wagte es, sein Wort in Frage zu stellen. Was dieser Mann sagte, war Gesetz.
„Ich hätte gerne Subjekt, Prädikat und das Objekt“, sagte er und schaute erwartungsvoll durch seine Brille. Sie durfte ihn nicht schon wieder enttäuschen, sagte der Blick.
Mit angestrengtem Blick starrte sie auf die Tafel. Das erste Wort im Satz konnte sie entziffern. Es musste etwas wie „Manl“ sein. Was ist ein Manl? Inga wusste es nicht. Was war das für ein Buchstabe, der mit dem Halbkreis, was war das nochmal für ein Buchstabe? Sie überlegte anscheinend schon etwas zu lange, denn nun mischte sich der Lehrer ein.
„Das ist sechste Klasse Stoff. Du bist in der Siebten, falls du es vergessen hast. Du hast noch zwei Minuten.“ Abwertend blickte er auf sie herab. Inga schrumpfte unter seinem Blick, nochmal um ein paar Zentimeter.
Sie nickte stumm. Wie könnte sie sich jetzt noch retten? Es gab kein Entrinnen. Jeder würde in wenigen Sekunden die Wahrheit erkennen. Alle Mitschüler blickten mit einer Mischung aus Langeweile und Spott zu ihr auf. Es kam Inga so vor, als würden sie wie die Aasgeier auf ihre Niederlage warten. Schnell drehte Inga sich um. Sie wollte sie nicht ansehen. Hochkonzentriert, starrte sie auf die tanzenden Buchstaben, und versuchte diese, stumm zum Stehenbleiben zu überreden. Doch trotz Ingas guter Zusprüche, tanzten die Buchstaben unbekümmert weiter. Sie dachten gar nicht daran stehen zu bleiben. Inga fühlte wie der Druck stieg. Wenn in der nächsten Minute kein Wunder geschähe, wäre sie geliefert. Sollte sie sich einfach wieder auf ihren Platz setzten und die Sechs kassieren? Schon wieder? Nein, denn dann würde sie in Deutsch durchfallen und das war keine Option, weder für sie, noch für ihre Eltern. Schmerzhaft, nahm Inga die Blicke der anderen wahr, die sich in ihren Rücken bohrten. Inga entschied sich zu raten.
„Also das hier“, sagte Inga und zeigte auf den Anfang, „das ist das Subjekt.“ Prüfend schaute sie zum Lehrer hinüber. Der nickte nur leicht genervt. Inga fühlte sich bestätigt, und zeigte auf das Zweitbeste, was sie entdeckte. „Das ist das Prädikat“, erklärte sie und hoffte, dass sie sich nicht gerade vollständig blamierte.
„Das ist korrekt“, sagte der Lehrer mit belegter Stimme, „Und jetzt das Objekt. Ich habe nicht ewig Zeit.“
Eine eisige Kälte machte sich in Inga breit. Der Satz war noch ewig lang, wie groß standen da ihre Chancen, dass sie richtig tippte? Panik stieg in ihr auf. Sie hörte das Ticken der Wanduhr und das genervte Atmen ihres Lehrers. Sie konnte spüren, wie ihre Mitschüler hinter ihr tuschelten, und ein Ast klopfte permanent gegen das Fenster. Nervosität stieg in ihr auf und ihr Blut begann ohrenbetäubend zu rauschen.
„Ähm … also das Objekt …“, stotterte sie, „also das hier ist auf jeden Fall…“, begann sie und zeigte auf den nächstbesten Buchstabensalat.
„Das ist eine Präposition, und dahinter steht das Objekt“, fiel ihr plötzlich jemand ins Wort. Dankbar drehte sie sich um. Es war Emma, die ihren Satz beendet hatte. Der Lehrer warf Emma einen erzürnten Blick zu. Sie hatte sein Spiel unterbrochen. Dafür würde sie in den nächsten Tagen leiden müssen, dachte Inga.
„, hat dich jemand aufgefordert, den Satz zu analysieren?“, fragte der Lehrer spitz.
„Tut mir Leid, es wird nicht wieder vorkommen“, versprach Emma scheinheilig und lächelte ihn süffisant an.
Erleichterung machte sich in Inga breit. Die Gefahr war vorüber, denn nun hatte Emma die Aufmerksamkeit des Lehrers auf sich gezogen, und Inga war aus dem Schneider. Schnell eilte sie zu ihrem Platz zurück. Der Lehrer hatte es natürlich bemerkt, und wollte sie gerade auffordern, stehen zu bleiben, da ertönte ein erlösendes Geräusch. Die Klingel. Inga sprang auf. Schnell packte sie ihre Sachen zusammen, um den Anderen in die Pause zu folgen, da packte jemand ihren Ärmel.
„Warte doch mal!“, forderte Emma
Inga blieb stehen. Emma war gut einen halben Kopf größer als sie und deshalb musste Inga zu ihr aufschauen. Emma legte ihren Kopf schief. „Brauchst du eine Brille?“
„Nein“, seufzte Inga resigniert.
„Es ist doch nur eine Brille, so schlimm kann das doch nicht sein.“
„Nein, ich brauche keine Brille. Das würde auch nichts nützen“, erklärte Inga.
Inga wandte sich ab, um zu gehen, doch Emma wollte wissen was los war, und ließ nicht locker.
„Was ist denn los mit dir?“
„Nichts!“, erwiderte Inga etwas zu schroff.
Emma schreckte zurück. „Lass es einfach. Ist mir egal.“
Sie wollte gerade gehen, doch dann fiel ihr noch etwas ein. „Du hättest danke sagen können.“
Emma drehte sich um und verschwand zwischen den Kindern auf dem Schulhof. Inga blieb allein zurück. Sie hätte heulen können, aber es war ihr peinlich. Inga überlegte, ob sie sich auf dem Klo einsperren sollte, um zu weinen, doch diesen Gedanken verwarf sie gleich wieder. Wie würde das denn aussehen, wenn sie mit verquollenen Augen im Unterricht erscheinen würde. Sie fühlte sich schuldig. Warum hatte sie sich nicht bedankt? Emma war eine der Wenigen, die etwas mit ihr zu tun haben wollte, und nun hatte sie sie verscheucht. Undankbar und arrogant hatte sie sich verhalten. Inga wusste, dass sie das wieder in Ordnung bringen musste.
Die Klingel ertönte erneut, und die Schüler strömten durch die Haupthalle, um sich dann auf ihre Klassenzimmer zu verteilen. Inga war im selben Musikkurs, wie Emma.
Im Musikraum angekommen, setzte Inga sich auf einen Platz, ganz in der Nähe von Emma. Verstohlen schaute sie zu ihr hinüber, doch Emma würdigte sie keines Blickes. Mittlerweile war die Musiklehrerin hereingekommen, Frau Lorenz war in den Vierzigern, sah aber aus wie dreißig. Ihre Haare waren streng zurückgebunden und ihre Haut war Faltenfrei. Die Lehrerin breitete ihr Material auf dem Lehrerpult aus, und begann Protokoll zu führen.
Inga sah ihre Chance. Rasch kramte sie einen Zettel aus ihrer Schultasche, und schrieb mit fast unleserlicher Schrift und unter höchster Konzentration:
„Tud mier laid. Dancke“
Anschließend faltete sie ihn säuberlich zusammen und tippte dann Daniel auf die Schulter, und bat ihn leise, denn Zettel zu Emma weiter zu geben. Inga verfolgte mit den Augen, wie der Zettel brav weiter gereicht wurde. Niemand schaute genauer hin, was drauf stand. Als Emma den Zettel erhielt, öffnete sie ihn vorsichtig. Sie las und schaute dann wieder auf. Doch bevor sie sich zu Inga umdrehen konnte, schnappte die Lehrerin sich den Zettel und ging damit zurück ans Pult. Erschrocken schaute Emma die Lehrerin an. Inga wurde panisch. Sie sah, wie die Lehrerin sich setzte, und zu lesen begann. Erstarrt saß Inga da, unfähig sich zu bewegen. Der Lehrerin schien es ähnlich zu gehen. Langsam ließ sie den Zettel sinken.
„Wer hat das geschrieben?“, fragte sie mit kühler Stimme.
Niemand meldete sich. Inga wagte es nicht, etwas zu sagen. Sie war noch nicht aufgeflogen.
„Ich möchte jetzt sofort wissen, wer diesen Zettel geschrieben hat!“ Frau Lorenz wartete. Es meldete sich immer noch keiner.
Inga war hin und her gerissen. Einerseits hoffte Irgendetwas in ihr darauf, dass die Lehrerin ihr wohlmöglich helfen würde, andererseits, wollte sie sich nicht zu erkennen geben. Es war einfach viel zu peinlich. Wenigstens hatte der Deutschlehrer den Zettel nicht gefunden. Er hätte nicht gezögert, und ihn laut vorgelesen.
Alles war still. Die Schüler schaute sich alle gegenseitig an, und versuchten zu erraten, wer der Zettel geschrieben hatte. Nur Emma schaute sich nicht um. Sie wusste wer ihn geschrieben hatte. Sie drehte sich auch nicht zu Inga um. Anscheinend wollte sie sie nicht in Schwierigkeiten bringen. Das war lieb von ihr, fand Inga.
Vielleicht sollte sie sich doch melden. Es war besser, von der Musiklehrerin erwischt zu werden, als vom Deutschlehrer. Vielleicht sollte sie es ihr einfach sagen.
Inga beschloss es jetzt zu tun. Sie hob den Arm. Zögernd und ängstlich gab sie sich zu erkennen.
Ihre Mitschüler waren mittlerweile heiß darauf, zu erfahren, was auf dem Zettel denn so Interessantes stand, und tuschelten unentwegt. Die Lehrerin trat zu ihr hin.
„Auf ein Wort, Inga“, sagte sie und bedeutete ihr, mit ihr vor die Tür zu gehen.
Inga erhob sich schwerfällig. Ihre Knie waren weich, und ihre Arme schlotterten etwas zu sehr. Als sie der Lehrerin nach draußen folgte, spürte sie alle Blicke auf sich ruhen. Inga drehte sich noch einmal um. Sie sah Emma. Emma lächelte sie an.
Die Tür fiel zu, und Inga war allein mit der Lehrerin. Diese schaute sie mit einem nachdenklichen Blick an.
„Inga …“ sagte sie, und hielt ihr den Zettel unter die Nase. „Was hast du hier geschrieben?“
Inga wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, die Lehrerin konnte doch schließlich lesen. „Na, dass es mir leid tut.“
„Mhm“, machte Frau Schulz und spitzte die Lippen. „Inga, wenn ich dich jetzt fragen würde, ob du mir eine Seite aus dem Deutschlesebuch vorlesen könntest, könntest du es tun?“
Nach kurzem Zögern schüttelte Inga den Kopf.
Nachdenklich nickte die Lehrerin. „Ich glaube, du brauchst Hilfe. Ich werde deine Eltern um ein Gespräch bitten.“
„Sagen Sie es bitte nicht den Anderen“, flehte Inga wimmernd.
„Natürlich nicht. Ich muss allerdings die Lehrer informieren, und selbstverständlich deine Eltern.“
„Sagen Sie es bitte nicht Herrn Schulz.“
Fragend schaute Frau Lorenz sie an. „Aber warum denn das nicht?“
„Ich möchte es eben nicht.“
„Also gut.“
Die Musiklehrerin legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wir schaffen das schon. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“