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Brunner
und man richtet seine Aufmerksamkeit nur auf Dinge,
die bereits einen Platz im Bewußtsein einnehmen.“
(Alphonse Bertillon)
Um sieben Minuten vor 14 Uhr klopfte es zaghaft an die Tür des Disponenten Brunner. Er rieb sich die Handflächen übers Gesicht. „Ja, bitte!“
Die Besucherin mochte 70 Jahre alt sein. Die Bluse trotz Hitze hoch geschlossen. Die grauen Haare mit Haarspray gezähmt. Sie trug zu viel Lippenstift. Ihre Augen blickten wachsam. Sie sagte: „Mein Name ist Wolters. Wir haben telefoniert.“
In Wirklichkeit hieß sie Margarethe Schmidt. Dankbar, dass sie sich hinsetzen und ihre aufgequollenen Beine entlasten konnte, mit Schweißflecken unter den Achseln und dem Kopf voller panischer Gedanken zwang sich Frau Schmidt, den Mann anzuschauen.
Brunner sah ganz anders aus, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Wie hatte sie ihn sich vorgestellt? Auf jeden Fall nicht wie den Mann, in dessen Büro sie jetzt saß: Die Glatze und dieser Haarkranz. Die runden Augen. Das Gesicht hatte etwas Joviales und Kindliches. Der Körper war massig und doch beweglich, die Hautfarbe gebräunt. Es war lange her, dass sie Männer auf diese Weise betrachtet hatte. Sie wusste Dinge über Brunner, die ihr nicht gefielen: Brunner, der beim Sex unten lag, der gern in italienischen Restaurants zu Mittag aß, statt in die Kantine zu gehen. Freund der italienischen Kultur, Liebhaber von Schokolade und ihrer Tochter. Brunner mit seinen 60-Stunden-Wochen, der nie anrief aber zur richtigen Zeit Blumen schickte. Verheiratet mit einer Frau, die ihn nicht verstand. Zwei Kinder. Sie dachte an Streitereien mit ihrer Tochter Bianca und Ausrufe wie: „Auch ein Mann wie er hat ein Recht auf Liebe! Verstehst du das denn nicht, Mutti?“
Ihre Tochter wollte, dass Brunner nicht zu sehr unter seiner Frau litt. Redete sich ein, die Liebe gefunden zu haben. Hielt die Beziehung zu einem verheirateten Mann für Schicksal. Frau Schmidt kannte Brunners Argumente nur zu gut: „Ich kann mich nicht von meiner Frau trennen, wegen der Kinder. Wir müssen warten, bis sie groß sind. Dann trenne ich mich, dass verspreche ich dir.“
Bianca konnte so traurig sein, wenn er nicht anrief: schlaff, mit lustlosem Gesichtsausdruck, blass und leblos. Ihre Tochter, wie sie sich panisch weigerte, das Handy abzuschalten, weil Brunner sich ja doch noch melden konnte. Und ihre Tochter, die fröhlich plauderte, weil Brunner sie zu einer Reise nach Venedig eingeladen hatte. Dieses Wochenende! Der Anlass war leider ein positiver Schwangerschaftstest. Nachlässigkeit beim Einnehmen der Pille und eine stürmische Begegnung an einem Feiertag.
Ihr Mann hatte sich die Sache durch den Kopf gehen lassen, mit einem Gesichtsausdruck wie bei seinen Schachturnieren. Mit nacktem Oberkörper beim Beschneiden einer seiner Pflanzen hatte er in seinem Gewächshaus gestanden und Frau Schmidt war stehen geblieben und hatte gewartet, wie auf einen Orakelspruch. Das war vor zwei Wochen gewesen.
Es lief auf eine einfache arithmetische Operation hinaus: Addition oder Subtraktion! Brunner, der sich von seiner Frau trennte, als neues Mitglied ihrer Familie. Oder Brunner, der vollständig aus Biancas Leben verschwand. Die Trennung musste total sein, wie der sofortige Entzug einer Droge. Denn dass Bianca selbst nicht mehr in der Lage war, die Sache einem guten Ende zuzuführen, stand für ihre Eltern fest: „Wenn bei einer Seereise jemand über Bord geht, stehst du auch nicht an der Reling und schaust zu, wie diese Person ertrinkt. Du handelst!“
Sie hatten bei Gesprächen am Küchentisch durchgespielt, was Brunner sagen konnte. Der Plan, der am Ende herauskam, war riskant, doch der dringende Wunsch nach einem Enkelkind und die Sorge um das Wohl ihrer Tochter hatte Frau Schmidt in dieses Büro gebracht, wo ihr in diesem Augenblick dämmerte, dass sie eine wesentliche Eigenschaft mit ihrer Tochter teilte: Sie wollten beide helfen.
Sie erklärte: „Eigentlich heiße ich Schmidt. Ich bin Biancas Mutter.“
„Was kann ich für Sie tun?“
„Bianca erwartet ein Kind von Ihnen. Sicher wissen Sie es schon.“
Brunner nickte. Sie bewegte sich in dieses Gespräch hinein wie eine Schlafwandlerin. Sie wollte das alles schnell hinter sich bringen.
„Mein Mann und ich wünschen uns ein Enkelkind. Jetzt befürchten wir, dass Sie Bianca zu einer Abtreibung überreden wollen.“
„Das wird sich leider nicht vermeiden lassen, Frau Schmidt.“
„Wir sind bereit, das Kind finanziell zu unterstützen. Bianca würde keine Alimente verlangen.“
„Das sagen Sie heute. Wenn Bianca irgendwann ihre Meinung ändert, muss ich mich einem Vaterschaftstest unterziehen.“
„Machen Sie reinen Tisch und verlassen Sie ihre Frau!“
Brunner lächelte.
„Das geht nicht, Frau Schmidt. Meine Frau weiß natürlich alles. Wir haben eine Abmachung: Wir bleiben zusammen und erlauben einander solche Affären. Für die Kinder ist es das Beste.“
Sie seufzte: „Ich habe mir schon gedacht, dass Sie so reagieren würden.“
Keine Vorwürfe. Keine Tränen. Keine Beleidigungen. Natürlich nicht! Sie hatte sich im Griff. Stattdessen zog sie eine Tupperbox aus ihrer Handtasche, die zwei dick in Alufolie eingewickelte Stücke Schokoladenkuchen enthielt: „Bei Kuchen redet es sich leichter.“
Brunner zögerte kurz. Sein Drehstuhl machte ein ploppendes Geräusch, als er überraschend behende aufsprang und in den Nebenraum ging: „Hier müssen irgendwo Besteck und Pappteller sein.“
Frau Schmidt packte die Kuchenstücke aus und legte sie auf die zwei Pappteller, die er brachte. Er hatte nur große Gabeln gefunden und es sah seltsam aus, wie er mit dem viel zu plumpen Esswerkzeug Kuchenstücke an seinen Mund führte. Anscheinend schmeckte es ihm.
Brunner sagte mit vollem Mund: „Trotz allem bin ich froh, Sie einmal kennen zu lernen.“
Frau Schmidt lächelte traurig: „Essen Sie Ihren Kuchen, Herr Brunner!“
Vier Stunden später brannte die Sonne immer noch durch die Scheiben des Gewächshauses. Herr Schmidt genoss es, im kleinen Rahmen in den Kreislauf des Lebens einzugreifen. Genau hier hatte er gestanden und einen weiß blühenden Oleander umgetopft und betört von dem Duft den Entschluss gefasst, das Kind zu retten. Was sprach dagegen? Was hatte er zu verlieren, mit seinen 75 Jahren? Bianca, die viel zu sentimental an allem festhielt, würde sich wenn ihr Liebhaber starb auf das konzentrieren, was ihr von ihm noch blieb.
Brunners Ehefrau war Mitte Fünfzig. Herr Schmidt hatte sie an einem verregneten Junitag vom Wagen aus beobachtet, wie sie und ein Mann, ein Blumenhändler, Hand in Hand nach einem Abendessen bis zu dessen Wohnung gingen. Die Frau hatte langes gelocktes Haar und trug eine Brille. In seiner üblichen noblen Zurückhaltung liebte Herr Schmidt es nicht, in das Leben anderer Leute hineinzuschnüffeln. Aber er war ein praktisch eingestellter Mann, der sich im Leben immer Ziele gesetzt hatte. Anscheinend war seine Aufgabe jetzt, seinem Enkelkind zu helfen, auf die Welt zu kommen.
Eine Ölpresse kostete auf eBay keine dreißig Euro. Er hatte eine ersteigert und dem Verkäufer eine freundliche Bewertung geschrieben: Alles bestens! Jederzeit gerne wieder!
Dann passierte einige Tage lang nichts. Bis plötzlich sein Freund George, ein Engländer mit einer Glatze voller Sommersprossen, in der Tür des Gewächshauses stand. Herr Schmidt kannte ihn seit dreißig Jahren. Das Leben in der chaotischen Stadt Kairo schien George gut zu bekommen . Er war äußerst geschickt darin, brisante Gegenstände durch den Zoll zu schleusen. Mit einem Grinsen wie ein Zauberkünstler bei einem Kartentrick zog er ein Dutzend Samen des Wunderbaumes aus der Jackentasche. Lächelte sardonisch: „Ich frage nicht, wofür du sie brauchst.“
Sie tranken ein Glas Sherry und Herr Schmidt betrachtete die Kapseln: Sie waren von dunklem Braun wie Mahagoni. Mit ihren Flecken in Beige und Hellbraun sahen sie aus wie Käferpanzer. Herr Schmidt streichelte die Oberflächen mit dem Zeigefinger. Die Samenkapseln in seiner Hand und die Samenkapseln, die knackten, als er sie zerstörte, indem er sie mit der Kurbel durch die Ölpresse trieb, um ein viel größeres Zerstörungswerk zu beginnen. Die ganze Zeit dachte er an Brunner.
Der Presskuchen enthielt bis zu zehn Prozent Rizin. Mit aller gebotenen Vorsicht zerrieb Herr Schmidt den Rückstand weiter mit der alten Kaffeemühle, schüttete das Pulver in lauwarmes Wasser, das er Stunden später durch ein Sieb goss und mit diesem trüben Wasser und Milchpulver rührte er in der Küche zusammen mit seiner Frau (besorgte Blicke und vor der Schürze verschränkte Finger) Schokoladenpudding an, den sie mit etwas fertigem Kuchenboden vermischten, um dem Belag mehr Festigkeit zu verleihen. Das Kuchenstück für Brunner sollte haargenau aussehen wie eines der anderen Stücke von Frau Schmidts Schokoladenkuchen. Immer trugen sie Handschuhe und nachher wanderten alle Teile, abgespritzt mit dem Gartenschlauch, in eine Mülltonne in einem anderen Teil der Stadt. Presskuchen und kaltgepresstes Rizinusöl landeten in einem Plastiksack in die Tonne unten im Hof. Die städtische Müllverbrennung würde das restliche Gift unschädlich machen.
„Nie wieder Schokoladenkuchen!“
„Schade! Ich habe deinen Schokoladenkuchen immer gern gemocht.“
„Was tun wir, wenn sie es herausfinden?“
„Dazu müsste jemand Verdacht schöpfen und die Polizei verständigen. Es müsste eine Untersuchung und eine Verhandlung und eine Verurteilung geben . Wir können jedes dieser Ereignisse beeinflussen – wenn sie überhaupt eintreten. Ich habe in einem Artikel in der Süddeutschen gelesen, dass jedes Jahr in Deutschland bis zu 2.400 unentdeckte Morde passieren. Da ist sicher Raum für einen mehr.“
Seine Freude an dieser Sache irritierte sie. Anscheinend war das für ihn ein Projekt wie die Solarzellen auf der Garage und die Alarmanlage im Eigenbau.
Er nahm ihre Hand: „Mach dir keine Sorgen!“
Um viertel nach Sechs hörte Herr Schmidt, wie Bianca ihr Mini Cabrio knirschend auf dem Kies der Einfahrt zum Stehen brachte. Er ging hinüber in die Küche und dort war sie: Seine Tochter! Sie sah gut aus, schlank und abenteuerlustig. Nichts verriet eine Änderung im Inneren ihres Körpers.
„Hallo Papa!“ Sie küsste ihn auf die Wange.
„Wie geht’s dir?“
„Gut! Übermorgen fliegen wir nach Venedig. Ich kann dir ein paar von diesen bemalten Masken mitbringen, wenn du willst.“
Frau Schmidt hatte ihren vegetarischen Hackbraten gemacht. Das Rezept stammte aus einer Illustrierten. Sie hatte es gefunden, nachdem die zwölfjährige Bianca erklärt hatte, dass sie nie wieder Fleisch essen wollte. Nie konnte sie jemandem weh tun. Schon als Kind nicht. Bei Tisch zogen sie es vor, das Thema Brunner großräumig zu vermeiden. Stattdessen sprachen sie über Urlaubsfotos und Digitalkameras. Herr Schmidt, mit seinen von Blumenerde gesäuberten Händen, blätterte in einem Fotoalbum: „Weißt du noch, wie wir immer nach Italien gefahren sind und du mich die ganze Zeit gefragt hast: Wann sind wir endlich da?“
Seine Tochter: Fünfunddreißig Jahre alt. Sah aus wie Dreißig. Sie würde enttäuscht sein, wenn jemand sie anrufen würde, um ihr mitzuteilen, dass Brunner verhindert war. Morgen. Spätestens übermorgen. Bianca, die bei den einfachen Dingen so oft über ihre eigenen Füße stolperte und mit der größten Bereitwilligkeit ihr Leben verschwendete.
In dieser Nacht entlud sich ein Gewitter, gefolgt von heftigen Regengüssen. Brunner stand auf, um zu kotzen. „Vielleicht eine Darmgrippe“, meinte seine Frau.
Am nächsten Morgen hatte er Fieber. Der Hausarzt besuchte ihn und gab ihm Aktivkohle.
Es folgte eine weitere Nacht voller Übelkeit und Fieber mit Kopfschmerzen wie ein Funkenregen von glühenden Nadeln. Schleichend zerstörte das Gift Brunners rote Blutkörperchen. Am Nachmittag wand er sich in heftigen Krämpfen. Viel zu spät rief seine Frau den Notarzt. Als der das Schlafzimmer betrat, schaute ihm Brunners totes Gesicht mit einem erstaunten Ausdruck entgegen, als hätte er sich bis zuletzt gewundert, wie um alles in der Welt er in diese Lage kommen konnte.
„Hatte Ihr Mann eine Herzschwäche?“
Frau Brunner erwog eine Reihe von Möglichkeiten, entschied sich für die einfachste und erklärte unter Tränen: „Ja. Mein Mann hatte ein schwaches Herz.“
Die Tränen waren echt, denn in einem durch emotionale Erschütterung ausgelösten Moment der Klarheit fügten sich die Affären ihres Mannes und seine unbefriedigenden Geschäftsbeziehungen mit diesem Tod zu einem Bild zusammen, das sie ahnen ließ, dass er im Grunde an einem Mangel an Liebe und an der Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen gestorben war.
Der Arzt, den sein Pieper zurück in die Notaufnahme rief, trug ohne weitere Untersuchungen Kardiales Lungenödem in Brunners Totenschein ein und sprach der Witwe sein Beileid aus.