- Beitritt
- 19.05.2015
- Beiträge
- 2.593
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 24
Brot für Ingeborg
Seniorenresidenz Waldesruhe, Kronberg im Taunus; Deutschland
13. April 2020: 13:22 Uhr GMT (Ortszeit 15:22 Uhr)
Ingeborg lacht. Ihre Augen sprühen vor Lebensfreude, wenn sie lacht. Die dicken Zöpfe setzen sich in Bewegung, tanzen um ihren Kopf, während sie die Lieder singt, die sie jeden Tag singt. Am Sonntag will mein Süßer mit mir segeln gehen. Tanze mit mir in den Morgen. Rote Lippen soll man küssen. 17 Jahr, blondes Haar. Sie summt, sie grummelt, verschluckt die Worte zu einem Brei. Ingeborg ist alt, über 80. Ich hab’s mir nicht gemerkt, obwohl’s in den Akten steht. Der Schlag hat sie vor einigen Jahren getroffen. Bevor ich hier in der Einrichtung angefangen habe. Manche Leute sagen, welche wie Inge wären meschugge, ein bisschen übergeschnappt, verblödet, dement eben. Jeder drückt sich anders aus, wenn es um so was geht. Ich denke nicht so, ich nicht.
Seit fünf Jahren arbeite ich hier. Seither pflege ich Ingeborg. Ich habe zwischen dreißig Minuten und einer Stunde Zeit für sie, mehr nicht, muss mich um sieben andere Alte kümmern, Einlagen tauschen, waschen, eincremen, Verbände wechseln, Tabletten setzen, der ganze Wahnsinn der Station. Ich mag den Job trotz allem. Manche Patienten mag ich mehr, andere weniger. Der Hoffmann mit seinem Totenblick macht mir Angst. Die Müller schreit mich an, und heult, als ich lache.
Gestern hatte ich frei. Als es losging, habe ich Mehl besorgt, damit ich Brot backen kann. 405er. Das schmeckt besser. Ich hätte so gern Kinder gehabt. Aber das hat der liebe Gott oder wer auch immer nicht gewollt. Mit Peter hat’s nicht geklappt und mit Hans auch nicht. Obwohl Hans die ganze Nacht wollte. Vielleicht war’s auch zu viel. Wir haben auch eine Menge Wein getrunken. Keinen teuren, den konnten wir uns nicht leisten. Jetzt bin ich alleine und backe eben Brot. Riecht gut, schmeckt gut.
Was Inge in einer klaren Stunde erzählt hat, fällt mir ein. Ich glaube, sie wollte mir etwas mitgeben mit der Geschichte. Ihr Vater hieß Kurt und war im Krieg. Er hat oft vom Hunger erzählt. Immer wieder dieselben Geschichten. Wie er mit seinem besten Freund, seinem Kameraden Wilfried, das Brot geteilt hat. Dass der, der das Brot brach, dem anderen immer das größere Stück reichte: Dass er das Brot manchmal zu einem Kügelchen zerdrückte, das kaum dicker als die Spitze eines Kinderdaumens war.
Für Inge habe ich extra Brot gebacken. Ein kleines, ganz normales, schön knusprig und der Teig ganz weich. Und ein süßes Brot, mit Rosinen drin. Das kann sie dann in den Kaffee tunken.
Denn heute wird ein schwerer Tag. Wegen all dem, was gerade passiert, weil wir einen alten Herrn auf der 2C im anderen Gebäude haben, der sich die Seuche eingefangen hat, muss ich Mundschutz tragen und die doppelte Anzahl an Heimbewohnern betreuen. Was eigentlich unmöglich ist. Gestern große Versammlung: Chefin, das gesamte Pflegepersonal, die Heimleitung. Viel Bla Bla. Was für Heldinnen wir wären, dass wir Zulage bekommen, dass wir uns und die Bewohner schützen müssen, dass wir die Katastrophe unbedingt vermeiden müssten, niemand mehr raus darf, keine Besucher mehr rein. Und dass wir vom Haus, das nicht direkt betroffen ist, mehr Leute betreuen müssen. Nur die Grundpflege, aber eben doppelt so viel. Jenny hat dann was gesagt. Jenny sagt immer was. Wahrscheinlich will sie Heimleitung werden. Sie ist 29. Wie jung! Wir haben dann diskutiert, wie wir Zeit sparen könnten. Betten neu beziehen, duschen, fegen, reden, auch mal mit jemandem einen Kaffee trinken. Da geht was. Und beim Haarewaschen auch. Ich habe dann gesagt, dass ich allein bei Inge zwischen einer halben und einer Stunde dafür brauche. Einmal in der Woche. Wegen der Zöpfe. War nur ein Beispiel. Haben ja auch andere Frauen lange Haare. Ihr müsst sie abschneiden, die wachsen wieder nach, sagte Schwester Erika, die Chefin. Ich dachte: scheiße, scheiße, scheiße. Warum habe ich den Mund nicht gehalten? Inges Zöpfe wachsen niemals nach!
Ich klopfe an der Tür. Sie wartet schon, singt ein Lied, das ich nicht kenne, strahlt mich an, sieht den Kuchen, strahlt noch mehr, deutet auf den Mundschutz und schüttelt den Kopf. Die Schere bemerkt sie nicht. Ich reiche ihr das Brot und mache mich ans Werk.