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Brüderchen und Schwesterchen
Da war ein Geschwisterpaar und nichts in der Welt vermochte es zu trennen. Karl war ein wackerer Bursche, ein Zimmermannsgeselle mit Haaren so blond und Zähnen so weiß, dass die Mädchen der umliegenden Dörfer die Köpfe zusammensteckten und zu tuscheln begannen, wenn er sein Schwesterchen auf starken Schultern über den Jahrmarktsplatz trug, wenn seine wohlgezielten Schüsse jede Tontaube zerschellen ließen, wenn er rote Seidenblumen gewann und in Maries Zöpfe flocht. Marie war ein fügliches Kind mit schwarzem Haar und flinken, nachtdunklen Augen. Sie war von zarter Statur, so zart, dass sie häufig fieberte und von Nachtmahren geplagt wurde. Karl wachte dann an ihrem Bett, wrang wieder und wieder die Wickel aus und vertrieb die Schatten, die drohten, sie in die Tiefe zu ziehen.
Wenn Karl an den hellsten Tagen des Jahres seinen Kopf durchs Fenster der Stube streckte und „Mariechen, Mariechen“ rief, ließ Marie das Flickzeug fallen, löste in Windeseile den Knoten ihrer Schürze und sprang zu ihm hinaus. Die Mutter schüttelte den Kopf, doch sie lächelte, denn niemand konnte Karl etwas abschlagen. Wenn der Vater am Abend zürnte und auf den Tisch hieb, dass der irdene Krug darauf in die Höhe sprang, lachte Karl nur und sprach, es gebe diese Tage, da sei es eine Sünde zu arbeiten. An diesen Tagen strichen Bruder und Schwester durch mannshohe Sonnenblumenfelder, die flüsterten und wogten, wenn der Wind darüber pfiff. Karl lupfte Marie in die Höhe, damit sie die untersten Äste der mächtigen Eiche fassen konnte, und folgte ihr mit mühelosem Sprung und Zug. Sie klommen weit hinauf in die Krone, um das gesamte Tal zu überblicken, das sich unter ihnen ausbreitete wie ihr Königreich.
Doch immer wieder zog es Karl zu dem murmelnden Bächlein, das weiter im Tal zum Fluss und hinter der Stadt zum reißenden Strom mit Untiefen und brodelnden Schnellen wurde, der fremde Königreiche durchfloss und schließlich ins tosende Meer mündete, dort wo große Schiffe ihre Anker lichteten, wo sie Segel setzten, um Neuland zu entdecken und Welten zu umrunden. Karl lief mit dem Bach um die Wette, sprang hurtig wie eine Gams von Stein zu Stein, fing Fischlarven im Schilf. Doch Marie grauste es vor dem fließenden Wasser. Sie konnte nicht schritthalten mit ihm. Sein Glucksen, sein Strömen, sein Sprudeln waren ihr ungeheuer. Sie zauderte, getraute sich nicht, darin herumzutollen. Eines Tages hatte der Bach Karls Mütze mit sich davongetragen.
Marie liebte vielmehr den Bergsee, der still und spiegelnd umkreist von zerklüfteten Felsen lag, ohne Zulauf und ohne Ablauf, dessen Ufer ihre Füße mit seinem Schlick umkoste, dessen bittere Kälte ihr den Atem raubte, bis sie in lauere Wasser vorstieß. Die Mutter warnte immer, der See sei tückisch, was er einmal verschlungen habe, gebe er nie wieder zurück. Doch Marie scherte sich wenig darum. Hier ruhte ihr Schatz.
Karl hatte viele Monate in der Stadt gearbeitet. Dort bauten sie dem Ratsherrn ein prächtiges Haus, dessen Giebel selbst zur Gartenseite Schnitzereien trug, Pfauen und Reben, und an dessen Decken Karl selbst auf einer Leiter nicht reichen konnte, um die Kassetten mit dunklem Öl zu tränken. Marie wurden die schweigsamen Abendessen und klammen Nächte, die sie allein im Alkoven durchwachte, lang. Häufig lag sie krank. Als Karl endlich zurückkehrte, zog er teure Salben und Tinkturen für die Mutter aus der Kiepe, Tabak für den Vater. Mariechen müsse er wohl vergessen haben, foppte er. Dann zog er die schrundige Hand abermals hervor. Ein winziger Goldring prangte auf dem obersten Glied des kleinen Fingers. Der Schmied hatte das vorgelegte Klümpchen zwischen Daumen und Zeigefinger gerollt, es gewogen und den Kopf geschüttelt. Das sei gerade genug für einen Puppenring. Da lachte Karl. Dann werde es für Mariechen gerade recht sein. Der Vater war außer sich, schalt Karl einen Flauskopf und Toren und hätte ihn wohl noch am selben Abend windelweich geprügelt, wenn nicht die Mutter so inständig für ihn gebeten hätte.
Und ebendieses Kleinod war Marie eines Tages im See vom Finger gerutscht und funkelnd in die grüne Tiefe gesunken. Karl zögerte keinen Augenblick. Er tauchte und tauchte hinab in die Dunkelheit des Sees, der sich über ihm schloss, als sei er nie geteilt worden. Marie trat unterdessen Wasser und bebte bis in die Zähne. Da schoss Karl wieder hinauf, sprühte glitzernde Tropfen. Er schnaufte und prustete. Und auf dem obersten Glied des kleinen Fingers trug er den Puppenring, der seinerseits das Licht gefangen hatte. Als er mit Marie ans Ufer stieg, weinte sie bitterlich. Er legte ihr den Ring in die zitternde Hand und schloss ihre Finger darum. Da warf sie ihn sogleich in den See zurück, holte aus und warf soweit sie nur konnte. Sie fürchtete so sehr, den Ring abermals zu verlieren. Hier im See würde sie ihn immer sicher wissen. Karl küsste ihren nassen Scheitel. Der See war nun ihre Schatztruhe.
So verbrachten die Geschwister die hellsten Tage des Jahres, an denen es eine Sünde gewesen wäre zu arbeiten. Und nichts in der Welt vermochte sie zu trennen.
Doch eines Tages, es war im Mai, rief Karl sein „Mariechen, Mariechen“. Er wollte ihr etwas zeigen. Sie warf sogleich den Lumpen fort, mit dem sie Sand auf die Dielen scheuerte, und sprang geschwind zu ihm hinaus in die Sonne. Sie bettelte, doch er wollte ihr nichts verraten, zog sie schweigend hinauf zum Bach. Dort sprang er behende auf einen umspülten Findling. Ein junger Baum hatte hier, inmitten des Baches Wurzeln geschlagen und war alsbald von einer Ranke, einem Schmarotzer, umschlungen worden. So war das Bäumchen wulstig und verdreht gewachsen. Marie fand es garstig und krumm. Doch Karl zog sein Beil aus dem Gürtel, hieb den Spross nahe der Wurzel ab und befreite ihn aus seiner drangvollen Umarmung. Nun habe sein Stenz ihn gefunden, erklärte er Marie. Nun wolle er endlich auf die Walz gehen. Zuvor solle Marie ihm jedoch ihren Namen in den Stenz schnitzen, damit er sie in den langen Jahren der Trennung immer bei sich tragen könne. Er führte ihre Hand, denn Marie konnte weder schreiben noch schnitzen. Heiße Tränen rannen ihre Wangen hinab. Karl küsste sie fort. Er müsse doch hinaus aus dem Dorf, müsse sein Glück in der Welt versuchen, würde ihr seidene Bänder und französische Borten senden. Sie möge ihm doch bitte wieder gut sein. All das scherte Marie indes wenig. Sie war untröstlich. Da zog er sie weiter hinauf, zum See, um ihre Schatten zu vertreiben. Als sie bloß im Schlick standen, wehte ein Ostwind über sie hinweg, kräuselte die sonst so stillen Wasser wie die Haut der Geschwister. Karl kraulte, plantschte und pfnauste, überschwänglicher als je zuvor. Doch Marie kroch bald ans Ufer zurück, zog die Beine an die Brust und beobachtete den Bruder, der doch niemals von ihr scheiden sollte. Sie sah ihn kraulen, sah ihn springen und stieben. Sah ihn untergehen. Etwas hatte ihn gepackt und zog ihn unerbittlich in die Tiefe. „Mariechen, Mariechen.“ Sie möge ihm doch bitte den Stenz reichen, damit er sich daran herausziehen könne. „Mariechen, Mariechen.“ Doch Marie saß unbewegt, barg schließlich ihr Gesicht in der Schürze. So harrte sie. Es platschte und spritzte, es rief und bettelte. „Mariechen, Mariechen.“ Und Stille legte sich über den See.
Der Stenz bog sich und ächzte. Marie musste all ihre Kraft aufwenden, bis er schließlich fasernd zerbarst. Sie vergrub ihn gewiss einen Klafter tief im Schlamm.
Von nun an besuchte Marie den See allein. Tagaus tagein saß sie zu seinen Ufern und wisperte mit seinen Wassern. Nicht wenige, die raunten, der Abschied des geliebten Bruders habe ihr den Verstand geraubt. So zogen die Tage und Wochen ins Land, bis eines Abends, es war einer der grimmigsten Winter seit Menschengedenken, März bereits, doch Kälte und Düsternis wollten und wollten nicht weichen, drangen in jeden Winkel der Hütten, woben sich um die Dörfler und verzurrten sie zu gekrümmten Menschenbündeln, an diesem Abend rief der Vater Marie zu sich. Hunger und Gram hatten von seinem Gesicht gezehrt, hatten Furchen und Höhlen geprägt wie im Bett eines versiegten Baches. Sie wisse doch um ihre Lage, die schwindenden Kräfte des Vaters, die Last der Pacht. Die Sendung des Sohnes sei noch immer nicht eingetroffen. So habe er sie als Dienstmagd in die Stadt verdingen müssen. Die Base werde sie abholen, sobald der Pass wieder gangbar sei. Marie nickte folgsam.
Nächtens schlich sie aus der Kammer. Kein Kienspan glomm in der Stube. Bloßfüßig trat sie in den Neuschnee hinaus, bloßfüßig stieg sie zum See hinan. Der Mond stand hoch und voll. Marie betrat den See, hob die tauben Füße nicht an, sondern glitt über sein Eis, bis zur Mitte. Dort sank sie auf die Knie, schob und rieb mit beiden Händen den Schnee vom Eis, schmiegte ihre Wange daran und streckte schließlich alle Glieder von sich. Unter ihrem Atem schmolz das Eis, wurde durchsichtig wie ein Flor. Darunter erblickte sie Karl. Er lächelte und seine Zähne blitzten, wie der Ring, den er auf dem obersten Glied des kleinen Fingers trug. Sie würde sich zu ihrem Schatz hinabtauen. Nichts in der Welt vermochte Marie vom See, nichts in der Welt vermochte sie von Karl zu trennen.