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Brüder
Als ich ein Kind war, erschienen mir meine Brüder unerreichbar. Manchmal machten sie sich über mich lustig und lachten nur, wenn meine Mutter ihnen sagte, sie sollen mich in Ruhe lassen. Sie erwischte die beiden einmal, wie sie hinter dem Haus mit Streichhölzern kokelten. Sie rannten davon und meine Mutter rannte hinterher. Irgendwann blieb mein Bruder Tom einfach stehen und sah ihr in das verblüffte Gesicht.
Als ich in die erste Klasse kam, gingen sie schon auf weiterführende Schulen. Tom brachte seine erste Freundin mit nach Hause. Meine Mutter mochte sie nicht. Mein Bruder Hauke malte mit Tusche und Acryl. Aus getrocknetem Toilettenpapier und Pappe bastelte er eine Höhle. Ein Ritter auf einem Pferd aus geknoteten Schnürsenkeln stand davor und hielt eine Lanze in der Hand, um den Drachen in Schach zu halten. In der Schule begeisterten sich alle für seine Daumenkinos, die er mit einem Bleistift zeichnete. Tom benutzte Backpapier, das er über die Seiten seiner Comics legte, um einzelne Szenen abzupausen. Ich sah ihn, wie er in ihrem gemeinsamen Zimmer stand und das ganze Papier zerknüllte. Er begann Zeitschriften über Motoren zu lesen und sammelte Modellautos aus Zink, die er samstags auf Flohmärkten zusammensuchte und in einer langen Reihe ins Regal stellte. Irgendwann zerschlug er sie mit einem Hammer.
Ich bekam ihre alten Sachen. Ausgeleierte T-Shirts und Ducktales-Kassetten, graue Plastiksoldaten und Bücher mit Kulistrichen darin. Auch eine Kiste aus Sperrholz, die sie vor Jahren gemeinsam verleimt und bunt bemalt hatten, bekam ich. Die Kiste war voller Piraten und Gouverneure aus Lego, voller Staubflusen und Haare. Hauke half mir ein Küstendorf zu bauen. Der blaue Teppich war das Meer, auf dem sich die Schiffe der Seeräuber fortbewegten. Tom half, das Dorf wieder einzureißen. An jeder Küste gibt es Stürme, sagte er.
Einmal saß ich in meinem Zimmer und spielte. Etwas ließ mich aufhorchen. Ein seltsames Geräusch. Wie ein Quieken hörte sich das an. Ein Tier, dachte ich. Eine Maus. Ich stand auf und ging zu meinem Kassettenrekorder in der Ecke. Ich drückte die Stopp-Taste, öffnete die Tür und lauschte. Es klang, als lachten meine Brüder schrill über etwas. Ich schlich den Flur entlang. Im Türrahmen blieb ich stehen. Ich sah sie auf dem Boden liegen. Keiner lachte. Hauke blutete aus dem Mund und aus der Nase. Blut war auch auf dem Linoleum neben seinem Kopf und in seinen Haaren war es auch. Tom hielt ihn fest. Er war stark. Das Rascheln der Kleidung, ihr schnaufender Atem, das Geräusch einer plötzlichen Bewegung, wenn Hauke versuchte, sich zu befreien und Tom noch stärker zugriff.
Mein Vater arbeitete in der Einfahrt. Ich konnte nichts sagen, als ich vor ihm stand. Er fragte mich, was los sei und zog seine staubigen Handschuhe aus. Tränen liefen mir über das Gesicht und ich zeigte nach drinnen.
Er riss ihn von Hauke herunter und gab ihm einen Stoß. Er schrie ihn an und einen Moment dachte ich, dass sie jetzt miteinander kämpften. Doch Tom ging einfach aus dem Zimmer, ohne etwas zu sagen. Mein Vater blieb stehen, hob seinen Arm, ließ ihn wieder sinken und Hauke lag auf dem Boden und weinte.
Als meine Mutter von der Arbeit kam, fing das Geschrei an. Ich war in meinem Zimmer, aber ich konnte sie hören. Ich hörte die Haustür knallen und wie meine Mutter weinte. Später hörte ich, wie mein Vater sie etwas fragte. Sie antwortete leise, aber so hart und kalt, wie nur sie es fertigbrachte. Eine Weile war es still. Dann hörte ich, wie jemand ins Bad ging und anschließend die Tür zum Schlafzimmer schloss.
Hauke blieb eine Woche zu Hause. Erst danach ging er wieder vor die Tür. Ich weiß nicht, ob ihn wer auf seine Verletzungen ansprach und auch nicht, was er dann gesagt hätte. Tom schlief bei seiner Freundin. Ein paar Tage später holte er einige Sachen und ging fort. Als ich fragte warum, sagte mein Vater mir, dass er und Hauke sich nicht mehr vertrugen. Damals war ich froh, dass er ging.
Er wohnte eine Zeit bei Verwandten in Norddeutschland, arbeitete als Taxifahrer und in einer Wäscherei und kam erst später wieder zu Besuch. Das letzte Mal habe ich meinen Bruder vor einigen Jahren gesehen. Er stand an einem Stehtisch auf einer Hochzeitsfeier und hielt ein Glas in der Hand. Niemand unterhielt sich mit ihm und er wirkte wie ein Fremdkörper.