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Brüchiger Vertrag
Die Mücke grüßt den Hasen Henry Fuß: „Hey, Fuß, wie geht’s?“
„Ach, Anita – du bist’s! Tja, wie soll’s schon gehen? Geht eben so.“
„Na, das weiß ich doch! Wer nicht fliegen kann, muss gehen“, erwidert Mücke Anita frohgelaunt. „Ich meine eher so stimmungsmäßig, gesundheitlich und so.“
„Ach, geh fott“, sagt Fuß. „Wo soll denn die gute Stimmung herkommen? Vom Grasfressen etwa? Andere vertilgen zarte Filets, und unsereiner frisst Gras! Stimmungsaufheller gibt’s nur bei der Häsin.“
„Ja, hab schon gehört, dass ihr Hasen unwahrscheinlich viel poppt. Tag und Nacht, ohne Unterlass.“
„Na, hör mal! Jetzt wirst du aber ziemlich persönlich“, verwahrt sich Henry Fuß.
„Sagen die Leute, nicht ich“, weist Anita die Rüge zurück.
Das Schwein Lektor Lecker mischt sich ein: „Grasfressen und Poppen? Als Lebensinhalt? Kann ich mir nicht vorstellen. Da bin ich lieber Sumo. Rosa, prall, begehrenswert.“
Sagt die Mücke: „Und wenn der Metzger kommt?“
„Flieg ich einfach weg“, scherzt das Schwein. „Aber ernsthaft: Da hätt’ ich gerne Flügel. Andrerseits hab ich gehört, dass man aus uns vorzügliche Schinken und Würste macht, nach denen sich die Menschen die Finger schlecken. Wir erzielen Höchstpreise!“
„Und dafür willst du sterben?“, sagt der Hase Fuß.
„Was heißt denn: ‚will’? Meinst du, dass dich der Jäger fragt, ob’s recht ist, wenn er dich abknallt?“
„Ja, mein Gott!“, ereifert sich Mücke Anita. „Ich bin auch jeden Tag in Gefahr, erschlagen zu werden.“
„Das ist ja furchtbar!“, entrüstet sich Lektor Lecker. „Wäre es da nicht besser, wir würden einen Schutzbund gründen?“
„Und wie stellst du dir das vor?“, fragt Henry Fuß.
„Na, vielleicht so: An deiner Stelle poppe ich die Häsin, aber der Jäger erschießt mich nicht, weil er kein wertvolles Schwein umlegen will. Das könnte Ärger nach sich ziehen. Währenddessen wohnst du, Henry Fuß, im Koben – ich hab ’ne schöne CD-Sammlung. Der Bauer kann dich nicht verkaufen, weil du noch nicht das nötige Gewicht auf die Waage bringst.“
„Und was ist mit mir?“, fragt Anita.
„Oh! Du stichst immer denjenigen, der uns gefährlich wird. Wenn der Jäger seinem Trieb nachkommen muss, stichst du ihn in den Zeigefinger, bis der anschwillt und er nicht mehr abdrücken kann.“
Lektor Lecker zeigt auf Henry Fuß: „Oder wenn der Bauer doch stutzig wird, weil Henry nicht plangemäß zunimmt, stichst du ihn in Brauen und Lider, damit seine Augen zuschwellen und er nichts mehr sieht. Du bist unser Joker.“
„Euer Joker, um euch zu retten? Und wer rettet mich?“, begehrt Anita auf. „Wo, bitte, bleibe ich?“
„Ach“, sagt Lektor Lecker, „wenn dich der Bauer erschlagen will, dann renn ich ihn von hinten um.“
„Und“, sagt der Hase Fuß, „wenn dich der Jäger erschlagen will, mach’ ich einige Haken und lenke ihn ab. So ist uns allen geholfen.“
Das leuchtet ein und sie bestellen den Raben. Dessen Schwarz unterstreicht die Advokatenwürde. Das Brunnenhäuschen soll die Kanzlei sein. Ehrwürdige Weiden neigen sich, milde Luft umfächelt die Anwesenden und der Vertrag wird aufgesetzt. Der Advokat benetzt das Amtssiegel mit amtlicher Spucke und besiegelt das Dokument.
Die drei Klienten nehmen Haltung an und schauen sich ergriffen in die Augen. Sie spüren das Besondere, das Erhabene dieses Augenblicks. Schon wähnen sie das Fernsehen im Anmarsch, die Reporter der Weltpresse, gleich darauf die Politiker und die Gutmenschen von den Friedensinitiativen. Sie wissen von der Gefahr, dass die Lobbyisten der Waffenindustrie sie als Phantasten und Spinner heruntermachen werden, weil nur die Aufrechten ihre Interessen furchtlos gegen den Rest der Welt verteidigen. Nein, sie lassen sich nicht bange machen - treu und unerschrocken werden sie zusammenstehen!
Beim Verlassen der Kanzlei tritt das Schwein versehentlich auf des Hasen Fuß.
„Pass doch auf!“, ereifert sich dieser.
„Sorry, hätt’ dir auch passieren können.“ Für Lektor Lecker ist damit der Fall erledigt.
Doch Fuß lässt nicht locker: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du das gespürt hättest?“
„Körperlich geschmerzt hätte es mich wohl nicht, aber an deinem bigotten Gesicht hätte ich sehen können, dass es dir Spaß gemacht hat. Das schmerzt viel mehr. Seelisch, meine ich.“
„Das ist doch Quatsch. Spaß hätte es mir gemacht, wenn es dir wirklich weh getan hätte. Es hätte ein Schmerz sein müssen, der den Nerv trifft – wie eine Bohrmaschine, oder wie eine Kettensäge!“, kommt Hase Henry Fuß in Rage.
Darauf Lektor Lecker: „Glaube ich dir gern. Jetzt zeigst du dein wahres Gesicht! Bist ein schöner Vertragspartner. Ein Sadist bist du. Weidest dich an meinem Schmerz. Je grausamer, desto schöner für dich. Ein toller Schutzbund! Ich steige mit sofortiger Wirkung aus!“
„Das kann jetzt nicht sein!“, ereifert sich der Hase Henry Fuß. „Der Vertrag ist noch nicht trocken, und schon haben wir Stunk! Mit Leuten wie euch ist’s beinahe unmöglich, einen gemeinsamen Nenner zu finden!“ Er sucht nach etwas Rauchbarem, oder Trinkbarem.
„Leute wie wir?“, zischt Anita, die Mücke. „Was soll denn das heißen? Du beharkst dich mit Lektor – bravo! Wunderbar, wenn zwei Doofe aufeinander treffen. Aber mir ist das zu primitiv.“ Sie lässt die Flügel surren und fabriziert einen Looping aus dem Stand.
Lektor Lecker besinnt sich als erster: „Anita, jetzt mach mal keine Sperenzchen. Wir können nicht immer einer Meinung sein. Bitte nimm Vernunft an, komm zur Besinnung!“
„Vernunft und Besinnung? Dass ich nicht lache! Zwei Idioten seid ihr. Und ich soll euer Joker sein? Doch wohl eher euer Fußabtreter!“ Spricht’s und macht die Mücke.
Nein, gelogen. Sie fliegt erhobenen Hauptes davon, ungeachtet des somit erhöhten Luftwiderstands - wie eine gekränkte Königin. Über die Schulter keift sie zurück: „Ihr könnt mich mal!“
Henry Fuß und Lektor Lecker schauen sich bedröppelt an. So nah dran waren sie an einer beispiellosen Harmonie - gleiche Interessen lassen gewisse Unterschiede vergessen. Immerhin - das ergreifende, berauschende Hochgefühl zwischen Vertragsbesiegelung und dem unglücklichen Tritt wird ihnen stets in Erinnerung bleiben. Da hätte etwas Großes entstehen können!