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Bootsfahrt ohne Wiederkehr
Peter und Armin besuchten die gleiche Schule. Jeden Sommer gingen sie außerdem zusammen in die Ferien; heuer mit der Familie Armins in die Berge der Schweiz. Sie fuhren mit dem Auto. Knapp vier Stunden dauerte die Anfahrt. Je weiter sie fuhren, desto mehr veränderte sich die Landschaft. Die Täler wurden enger und steiler, die Straßen schmaler und kurvenreicher, die Dörfer kleiner und kleiner, bis sie schließlich in ein Hochtal kamen, an dessen Ende das gesuchte Dorf namens St. Antönien lag. Es war eine kleine Ortschaft. Sie bestand aus einigen Wohnhäusern, die zusammen mit einer Kirche eine schmale Straße säumten, und aus gut zwei Dutzend Bauernhäusern, Kuhställen und Heustadeln, die im Tal wie verstreut auf den Wiesen und Fluren lagen. Armins Vater steuerte indessen noch vor dem Dorf von der Haupt- auf eine Nebenstraße, an der nach etwa hundert Metern ein zweistöckiges Holzhaus mit grünen Fensterläden stand. «Da wären wir», sagte er und hielt das Auto auf dem Vorplatz ihres künftigen Feriendomizils an.
In der ersten Woche war das Wetter schön; in der zweiten schlug es um. Es wurde regnerisch und kühl. Eine dichte, treibende Wolkenschicht bedeckte den Himmel. Manchmal flogen die Wolken über das Tal hinweg und manchmal krochen sie, wenn sie tiefer hingen, in das Tal hinein. So konnte es vorkommen, dass Regenschauer niedergingen, und wenig später, sobald der Regen aussetzte, dichter Nebel einsetzte. Mitunter konnte man noch vier oder fünf Meter weit sehen, mehr nicht. Aber genauso schnell, wie die Nebelschwaden kamen, wurden sie auch wieder verweht. Dann klarte die Sicht auf und man glaubte schon fast die Strahlen der Sonne durch die Wolken brechen zu sehen.
Ganz hinten im Tal, wo links die Schijen- und rechts die Sulzfluh mit ihren Wänden, Zinken und Zacken bis in die Wolken reichten, wo Felsenzüge, Geröllhalden und Grasmatten einen öden Talkessel bildeten, lag länglich hingestreckt ein Bergsee.
«Hilf mir!», rief Armin. Er hatte das Ruderboot, das mit dem Kiel nach oben auf dem Kies am Ufer gelegen hatte, umgedreht und versuchte nun, es ins Wasser zu schieben. Peter sprang hinzu und packte mit an. Knirschend bewegte sich das Boot über Kieselsteine und Schlick. «Puh, ist das schwer,» prustete Peter.
«Nicht nachlassen, stoßen!», rief Armin. Sie schoben mit aller Kraft, bis das Boot zur Hälfte im Wasser lag, dann ließen sie es los, traten einen Schritt zurück und atmeten tief durch. Armins Vater kam hinzu und schaute sich das Gefährt an. «Aber ihr müsst aufpassen», sagte er, «keine Faxen machen, gelt? Das Wasser ist kalt, ich will da keinen heraus ziehen müssen.»
«Klar doch,» antwortete Armin, «wir passen schon auf.» Er stieß Peter an. Peter sagte: «In Italien sind wir mit einem Boot auf dem Meer gefahren. Einmal waren die Wellen richtig hoch. Aber hier, auf diesem kleinen See, da kräuselt sich das Wasser doch bloß so ein wenig, oder sieht hier jemand Wellen?»
«Ja, eben darum», wandte Armins Mutter ein. «In Italien hatte es auch keine Wellen. Aber ihr habt hin und her geschaukelt, bis das Wasser fast ins Boot schwappte.»
«Nein, wir passen schon auf, versprochen!», sagten die beiden Freunde und kletterten in das Boot. Peter setzte sich auf die Bank in der Mitte des Bootes, ergriff die Ruder, und Armin setzte sich auf die Bank am Heck. Die Mutter schärfte ihnen noch ein, dass sie besser nicht zu weit hinaus fahren sollten. Der Vater stieß das Gefährt vom Ufer ab. Die beiden Buben ruderten hinaus auf den See.
Das Wasser war ruhig und klar. Wenn man nahe dem Ufer in den See schaute, konnte man Felsblöcke und Gesteinsbrocken erkennen, die zwei Meter tief im Wasser lagen. Wo es jedoch tiefer war, spiegelten sich trüb die Regenwolken des Himmels und das Kalkgestein der Berge wieder. Man konnte den Seegrund nicht mehr sehen. Der Wasserspiegel wirkte grau wie die Nebelfetzen, die an den Talflanken hochstiegen. Als wären es aufgescheuchte Wesen, flogen diese den treibenden Wolken entgegen, schwebten einzeln oder zu einem gespenstigem Reigen vereint durch den Talkessel, in dem das Boot der beiden Buben einem Laubblatt glich, das in einer Pfütze vor sich hin trieb.
«Adieu», sagte Peter, wie ihm ein Ruder aus der Hand glitt und ins Wasser fiel. Einen Augenblick lang guckte er ihm nach, als ob es ihn verblüfft hätte. Dann wollte er nach ihm greifen; lehnte so weit über die Bordwand hinaus, dass sich das Boot zur Seite krängte, griff dennoch zu kurz und patschte bloß mit der Hand ins Wasser. «Hoppla», meinte er, «das ist aber wirklich kalt.»
«Pass doch auf!», rief Armin. Das Boot schwankte einige Male hin und her, sodass sie sich festhalten mussten. Es dauerte eine Weile, bis es wieder ruhiger im Wasser lag. Währenddessen trieb das Ruder im See weiter von ihnen weg.
«Du bist so ein …», ereiferte sich Armin und schätzt zugleich ab, wie weit sie vom Ufer entfernt waren. Peter feixte zurück: «Alles halb so schlimm, in Seenot sind wir noch lange nicht. Bist selber ein …» Er sah Nebelfetzen, die über das Ufer auf den See herein geweht wurden, und das Ruder im Wasser. Hastig versuchte er mit dem zweiten vorwärts zu pullen. Aber das Boot drehte nur einwärts. Sie hörten Armins Mutter rufen. Peter versuchte abwechselnd links und rechts zu paddeln. Aber das war schwieriger, als er gedacht hatte. Ein Ruder war eben kein Paddel und ein Boot kein Kanu. In einem Bottich wären sie vielleicht eher vorwärts gekommen. Immerzu drehte sich ihr Boot auf diese oder jene Seite, ohne dass es genügend vorwärts geschwommen wäre, um das verlorene Ruder einzuholen. Peter strengte sich an, schimpfte, schüttelte den Kopf, gab auf und schaute ein wenig ratlos und besorgt zu seinem Freund hin.
Armin, der schmollend weggeschaut hatte, kehrte sich ihm wieder zu und sagte: «Ach je, dann müssen wir halt mit den Händen paddeln. Komm, ich rechts, du links, das könnte gehen, dann erwischen wir es.» Sie knieten sich auf je einer Seite im Boot hin und begannen zu paddeln. Das Boot nahm träge Fahrt auf. Noch einmal hörten sie Armins Mutter rufen. Aber sie waren viel zu sehr damit beschäftig, im selben Takt zu paddeln, als dass sie auf sie geachtet hätten. «Ist das kalt», meinte Peter wieder. «Das Ufer kann ich schon bald nicht mehr sehen. Guck doch, dieser Nebel.»
«Das ist sicher Gletscherwasser», sagte Armin.
«Gletscherwasser? Nein, da ist doch nirgendwo ein Gletscher!»
«Komm jetzt, du kriegst es.»
«Noch ein Stück!» Peter bekam das Ruder, das er verloren hatte, zu fassen und zog es ans Boot heran.
«Endlich», meinte Armin, «das wurde aber auch Zeit. Meine Finger sind schon ganz klamm. Jetzt müssen wir aber zurück ans Ufer. Ich kann es schon gar nicht mehr sehen hier.»
«Deine Mutter wird böse sein», murmelte Peter. Es dauerte einige Augenblicke, bis er die Riemen wieder in die Dollen eingelegt hatte, und weil er müde war, setzte sich Armin auf die Ruderbank. Seine Mutter hatte aufgehört, nach ihnen zu rufen. Auf dem See war es nun seltsam still. Erst als Armin zu rudern begann, hörte die Stille auf. Das Wasser spritzte hoch, als die Ruder ein paar Mal klatschend in den See eintauchten; am Bug begann es wieder zu gluckern und zu glucksen.
Nach einer Weile meinte Peter: «Vielleicht rudern wir längs zum See.»
«Nein, glaube ich nicht.»
«Aber wir müssten doch schon ans Ufer gekommen sein?»
Armin ruderte weiter.
Peter hatte Armin auf der Ruderbank abgelöst. Keiner redete mehr. Noch immer waren sie von einem Nebel umhüllt, der so dicht war, dass man keine zwei Meter weit sehen konnte. Dann wehte aber mit einem Mal ein leichter Wind über den See. Die Nebelschleier lichteten sich, wurden zur Seite geschoben und gaben die Sicht frei, und vor ihnen lag so weit, wie sie sehen konnten, Wasser, Wasser nach allen Seiten hin, Wasser bis an den Horizont, überall nur Wasser, Wasser, Wasser.