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Bohrende Nachfrage
Sie hatte im Flur gestanden und ihn irritiert angesehen. Zumindest hoffte Rolf, dass sie irritiert gewesen war und nicht genervt oder sogar angewidert. Aber er hatte sie ja nur gefragt, ob sie vielleicht mal zu ihm auf eine Tasse Kaffee vorbeikommen wollte. So von Nachbarin zu Nachbar. Doch nichts dabei, oder? Ihr freches, aber süßes Balg hätte sie auch mitbringen können.
Rolf blickte in den Spiegel im Flur und versuchte sich in seine Nachbarin hineinzuversetzen. Okay, sein Bart könnte etwas mehr Pflege vertragen, aber alles in allem – ganz passabel. Die Nachbarin jedoch hatte nach einer Schweigesekunde einfach ihre Wohnungstür aufgeschlossen. Nur das Balg an ihrer Hand hatte eine nennenswerte Reaktion gezeigt. Es hatte sich noch einmal umgedreht und ihm die Zunge herausgestreckt.
Schade, aber nicht zu ändern. Seit Rolf vor zwei Wochen hier eingezogen war, hatte er noch niemanden aus dem Haus kennengelernt. Und das zur Weihnachtszeit.
Als Marie aus dem Fenster schaute, tanzten Schneeflocken in der Luft. Am Ende der Straße konnte sie die große Weihnachtstanne vor dem Rathaus sehen. Es ließ sich wohl nicht länger aufschieben. Sie holte den Karton mit dem Weihnachtsschmuck aus einem Fach ganz oben im Schlafzimmerschrank und stellte ihn neben dem Weihnachtsbaum im Wohnzimmer ab. Vorsichtig packte sie die zerbrechlichen Kugeln aus, bemühte sich, nicht viel nachzudenken, konzentrierte sich auf ihre Hände. Jonas, ihr fünfjähriger Sohn, wuselte währenddessen um sie herum und sah ihr neugierig zu. Maries Blick blieb an einer weißen Kugel hängen, die mit einer feinen, gestrickten Umhüllung versehen war. Sie musste schlucken. Die Kugel hatte ihnen Lina, die litauische Pflegerin, aus ihrer Heimat mitgebracht. Das war vor einem Jahr gewesen.
Inzwischen hatte eine Engelsfigur Jonas‘ Interesse geweckt.
„Mama, kann der Engel Wünsche erfüllen, so wie der Weihnachtsmann?“, fragte er.
Marie lächelte. „Nur, wenn man fest daran glaubt.“
Jonas umklammerte die Figur, schloss die Augen und flüsterte seinen Wunsch. Als er sie wieder öffnete, strahlte er.
„Was hast du dir denn gewünscht?“, fragte Marie.
Rolf seufzte. Genug der nutzlosen Gedanken. Ran an den Speck!, befahl er sich. Wohlgefällig betrachtete er den gewaltigen Bohrhammer, den er im Baumarkt erstanden hatte. Damit sollte es selbst seinen mit lauter Daumen ausgestatteten linken Händen möglich sein, die benötigten Löcher in die Wand zu kriegen, anschließend Dübel und Schraubhaken zu platzieren und daran das Regal aufzuhängen. Kinderspiel. Sorgfältig maß und taxierte Rolf, kontrollierte mit der ebenfalls frisch gekauften Wasserwaage, riss an, bis es endlich so weit war. Ob ein 6er Bohrer reichte? Besser ein 8er, um auf Nummer Sicher zu gehen. Jetzt noch den Stecker, kurzer Probelauf. Ja, das brummte. Ein tiefes, kraftvolles Geräusch, wie geschaffen, den Tatendrang eines Mannes akustisch aufzuwerten.
Er schaltete den Bohrhammer ein und setzte den Bohrer auf das Bleistiftkreuz an der Wand. Überraschend leicht glitt der Bohrer in die Wand hinein, er musste kaum Druck aufwenden. Wie das vielzitierte Messer durch die Butter. Ein ziemlich abgedroschener Vergleich. Gab es da nicht irgendetwas Originelleres? Wie der Delphin durchs W… Ein Ruck unterbrach seine Überlegungen. Plötzlich gab es überhaupt keinen Widerstand mehr, die Bohrmaschine rutschte bis zum Anschlag gegen die Wand und hässliches Poltern war zu hören, dann ein Schrei. Verunsichert zog Rolf den Bohrer aus dem Loch und schaltete das Gerät ab. Als er durch das Loch blickte, sah er auf der anderen Seite einen ziemlich großen, unregelmäßig geformten hellen Fleck.
„Einen …“
Ein brummendes Geräusch aus der Nachbarwohnung, dann ein Poltern ließen Jonas verstummen und Marie hochschrecken. Ein großer Brocken der Wohnzimmerwand brach heraus und krachte auf das neue Laminat. Marie schrie unwillkürlich auf.
Schlagartig wurde Rolf wieder bewusst, wo diese andere Seite war, als sich der Fleck verdunkelte.
Er setzte statt des Auges den Mund an das Loch.
„Wie wär‘s jetzt mit einem Kaffee?“, fragte er.