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Bohnen

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09.09.2013
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Bohnen

Johann Sempala wollte mit neunzig Jahren das Besondere in seinem Leben erreichen. Die Welt müsste sehen, welche Fähigkeiten sein Körper in der allgemeinen Verdauung besäße, denn er glaubte von sich, ein Experte in Fragen der gerechten Ernährung geworden zu sein. Leider waren inzwischen fast alle Zielpersonen aus dem Verwandten- und Bekanntenkreis verstorben oder lebten in Heimen. Aber die Jugend war ja da, eine lebhafte Jugend. Und die wartete auf Johann Sempala. Ganz sicher.

Johann kaufte auf dem Markt grüne Bohnen. Er war bemüht, sich Selbständigkeit zu erhalten, besonders was das Essen und das Ausruhen betraf. An Kochen und Socken sparte er. Stopfen hasste er, ganz egal, ob es um Kleider, Kochtöpfe oder Spülmaschinen ging. Johann besaß Lebenserfahrung. Er wusste, dass man Bohnen nicht roh essen sollte, wegen giftiger Lektinen, die beim Kochen zwar zerstört würden, auf keinen Fall aber wegen Johanns persönlicher Erhaltungsregel, an deren erster Stelle der Respekt gegenüber der Verdauung stand, beschädigt werden dürften. Er wollte die Bohnen roh zu sich nehmen, das konnte ihm niemand verbieten. Also steckte er sich eine Bohne in das linke Nasenloch und zog tief Luft ein. Die Bohne rutschte in eine sonderbare Enge, drückte auf Nerven, und weit hinten im Nasenraum schien sie irgendeinen Durchgang zu verstopfen. Johann fühlte ein Kratzen und Quetschen, bevor die Bohne, wie aus einem Gewehr geschossen, beim nächsten Atemzug in die Luftröhre flutschte und von dort aus in die Lunge rutschte. Natürlich war der Vorgang mit Schmerzen verbunden und Schleim tropfte aus der Nase. Aber so eine Nebensächlichkeit hielt Johann nicht davon ab, sich weitere Bohnen in die Nase zu stecken, abwechselnd rechts und links, immer schneller, denn so verkürzte sich die Leidensspanne. Er hatte mit einer Entdeckung begonnen und musste sie vollenden: Verdauen in der Lunge, der Magen war überflüssig. Keine Magenschmerzen, kein Sättigungsgefühl und trotzdem eine Methode zum Schlankwerden. Eine Sensation. Er bekam überraschend schnell Übung im Bohneneinatmen und gewöhnte sich an das Brennen hinter der Nase. Das ertrug er, weil er ein Held war. Bohne für Bohne zog er durch die Nase ein und die Lunge begann beim Atmen zu quietschen. Johann hörte aus der Finsternis seiner Organe Lob für seine Tapferkeit heraus. Bald jedoch war die Lunge voll, eine Bohne schaffte es nicht mehr nach unten und blieb in der Luftröhre. Johann hatte das Gefühl, etwas vollbracht zu haben, was sich kein Mensch vor ihm getraut hatte. Zufrieden legte er sich auf das Sofa und versuchte, sein neues Atmen zu genießen. Es kitzelte in den Lungen, bevor sich beim Ausatmen kratzende Schmerzen spürbar machten. Die Luftreibung an den gestapelten Bohnen führte zu einem zusätzlichen Quieken wie bei einem Badenentchen, das unter Wasser gedrückt wurde. Die Geräusche erfreuten Johann. Er war auserkoren, andersartige Gefühle zu erleben.

Die Tage vergingen und Johann fühlte sich wie ein angehender Nobelpreisträger, wusste aber noch nicht, wie er der Welt seine Entdeckung zeigen könnte. Das Kribbeln, das sich bisher auf die Lunge beschränkt hatte, stieg langsam höher bis in die Luftröhre, nahm an Intensität zu und erreichte schließlich das Innere der Nase. Auch das eigenartige Quietschen während des Atmens verstärkte sich. Dies führte dazu, dass Johann besonders das Ausatmen in liegender Position genoss und so ließ sich auch der Hustenreiz am besten aushalten. Er sah die Welt positiv und konnte sich im Gegensatz zu vielen älteren Menschen an Neues gewöhnen. Er dachte sogar, dass er jetzt eine Bereicherung in einem Chor sein könnte. Oder doch eher in einem Blasorchester?

Eines Tages, als Johann sich das Gesicht waschen wollte, sah er erstaunt, dass ein winziges, grünes Blättchen aus seiner Nase ragte. Es hing an einem weißen Stiel, der tief in der Nase oder noch weiter unten verwurzelt zu sein schien. Johann wollte mit seinem Finger in die Nase, wie wenn er einen Popel herausziehen wollte, gab aber gleich auf, weil er das zarte Pflänzchen nicht beschädigen wollte. Denn Johann erkannte gleich, dass er unendlich Glück hatte. Etwas Wunderbares war in ihm gewachsen. Die Natur meinte es gut mit ihm. Er wäre ein Glückspilz, dachte er, und der wusste, dass er nun als einziger und als erster Mensch in seiner Lunge Bohnenwurzeln haben musste. Das aus seinem Nasenloch wachsende Bohnenblatt war der Beweis. Jetzt konnte er der Welt zeigen, was für Heldentaten er mit großem Mut vollbracht hatte. Sicher würden noch mehr Bohnenpflanzen aus der Lunge hochwachsen. Bald könnte er sogar Bohnen ernten. Nur eine Erkältung oder Lungenentzündung wären in der Lage, solchen Taten im Wege zu stehen. Johann sah sich wie noch nie in der Pflicht, sich von Kranken fern zu halten.

Die Biervorräte gingen zu Ende, während aus Johann Sempalas Nasenlöchern mehr und mehr Bohnensprossen wuchsen und schließlich über den Backen hingen. Johann freute sich über den grünen Schmuck und wagte sich mit einem riesigen Durst wieder auf die Straße, denn jetzt könnte niemand seine Leistungen übersehen. Stolz marschierte er in Richtung des Getränkemarktes und blickte nach allen Seiten, ob man ihn sähe und bewunderte. Aber nur zwei Kinder kamen ihm entgegen. Der Junge lachte gleich. „Sieh mal, der Opa hat sich Kraut in die Nase gesteckt.“
„Der ist ja lustig“, meinte das blondlockige Mädchen.
„Rotzeopa, Tatterpflanze, Quietschemann!“ Frech und selbstbewusst näherte sich der Junge dem Alten, streckte die Hände nach oben und versuchte, an den Blättern zu ziehen. Es war Johanns Glück, dass der Bengel noch zu klein war, um an seine Nase zu gelangen.
„Geht weg“, versuchte Johann höflich zu sagen, brachte es aber nur zu einem Nasallaut und wurde sich bewusst, wie langsam sein ganzer Körper überhaupt geworden war. Weglaufen konnte er nicht mehr. Erst als die Kinder an Johanns Jacke zogen, half ihm ein Mann in dunklem Anzug, der den Kindern befahl zu verschwinden.

Der Advokat Luis Gurrit war gerade noch rechtzeitig gekommen. Er hatte Johann erkannt und wusste aus seiner Arbeit bei Gericht, dass zwar Johanns Alter, nicht aber dessen gegenwärtiges Verhalten, Aussehen, Benehmen und alles, was damit verbunden war, erlaubt sein könnte. Er betrachtete Johann ernst und überlegend; fast bekam er Mitleid, aber das durfte er, um seinem Beruf und seiner Zukunft nicht zu schaden, keinesfalls zeigen.
„Sie haben eine unbeschriebene und daher unerlaubte Morphologie“, begann er.
„Ich bin ein Entdecker“, antwortete Johann. Bei dieser Aussage blickte Herr Gurrit noch ernster, seine Augenlider zitterten, als fühlte er sich unbehaglich. Johann verstand nicht, weshalb Herr Gurrit die Möglichkeiten seiner Erfindung nicht erkannte, und wäre – ohne seinen trainierten und abgehärteten Charakter – enttäuscht gewesen.
„Kann ich Ihnen helfen? Sie haben doch ernsthafte Probleme?“, fragte Herr Gurrit.
Johann schüttelte den Kopf, so dass die Bohnentriebe hin und her flatterten. Herr Gurrit trat entsetzt einen Schritt zurück und hielt beide Hände vor das Gesicht.
„Bedrohen Sie mich nicht so! Sicher haben sie für diese Sprossen aus der Nase keine Genehmigung“, brüllte Herr Gurrit.
„Ich will Ihnen nur meine Erfindung zeigen“, sagte Johann, während die Bewegung der Bohnensprossen nachließ.
Herr Gurrit beruhigte sich. „Ich will Ihnen nichts abkaufen. Sie sollten sich beim Dingeverwalter, Herrn Mario Stummler, melden.“
Im Hintergrund lachten Kinder. Herr Gurrit hob den Kopf, machte einen Schritt zur Seite und ging an Johann vorbei, ohne sich zu verabschieden.
„Das werde ich tun“, rief ihm Johann hinterher und dachte dabei, dass er beim Dingeverwalter endlich die verdiente Anerkennung fände.

Große Erwartungen trieben Johann zum Dingeverwalter und er war überzeugt, dass dies ein historischer Augenblick werden könnte. Guter Hoffnung trat er in das geräumige und angenehm warme Büro, in dem Herr Stummler vor einem Bildschirm saß. Parallel angeordnet lagen verschiedene Stifte und ein Radiergummi auf dem Schreibtisch. Daneben war eine Zeitung aufgeschlagen und Johann erkannte die Seite mit den Sudokus und Kreuzworträtseln.
„Guten Tag, Herr Stummler“, begann Johann.
„Sie hätten draußen im Gang noch ein paar Minuten warten sollen. Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe? Aber nun sind Sie schon drin. Womit kann ich Ihnen dienen?“ Herr Stummler rückte auf seinem Stuhl nach hinten und drehte sich zu Johann.
„Ich habe eine Entdeckung gemacht und möchte diese anmelden“, sagte Johann und zeigte dabei mit dem rechten Zeigefinger auf seine Nase.
„Und?“, fragte Herr Stummler.
„Das sind Bohnensprossen! Bohnen werden mir in den Mund wachsen?“ Johann lachte dabei und seine Hoffnungen wuchsen, als Talent erkannt zu werden. „Ich bin zu einem Garten geworden“, ergänzte er. „Ich ernähre mich alternativ.“
„Haben Sie denn die Gebühr für den neuen Garten bezahlt?“, fragte Herr Stummler unbeeindruckt.
„Ich bezahle gerne, wenn ich etwas dafür bekomme“, antwortete Johann und fühlte sich dabei überlegen.
„Dann gebe ich Ihnen ein Formular.“ Herr Stummler reichte Johann einen Stapel Papier. Johann blätterte darin. Erstaunt betrachtete er die hellgrünen Kästchen und blickte schließlich zu Herrn Stummler.
„Das ist doch ein Bauantrag?“, fragte er.
„Ja, was wollen Sie denn sonst?“
„Einen Auftritt im Fernsehen und einen Artikel in der Zeitung über mich und meine Taten und Erfindung.“
„Jetzt hören Sie erst mal mit dem Quietschen auf!“, bat Herr Stummler.
„Das gehört doch zu meiner Erfindung.“ Johann staunte über die Ignoranz. „Ich bin der Retter.“
„Was sind Sie?“
„Der Retter. Die Menschen können dank mir, ihre Nahrung an sich selbst wachsen lassen.“
„Sie reden Blödsinn. Sowas kann man nicht verwalten. Das wäre neu.“
„Sehen Sie doch.“ Johann leckte mit der Zunge an einem Bohnenblatt.
„Sie sind verrückt. Gehen Sie hinaus!“
Johann fühlte Schwindel und gab den Bauantrag zurück. Er hatte nicht mehr die Kraft, gegen den jungen Dingeverwalter zu kämpfen, und verabschiedete sich. Enttäuscht machte er sich auf den Weg nach Hause, blickte sich nicht mehr um und verschloss resigniert die Wohnungstür hinter sich.

Es handelte sich um einen Verdacht. Trotz Hindernisse hatte es jemand geschafft, seine Erkenntnisse durchzusetzen. Es war keine Schande mehr, anders auszusehen. Pflanzen hatten ihren Lebensraum erweitert und wuchsen auf Menschen wie Pilze und Hefen, rochen aber nicht nach Fußpilz, sondern frisch und fruchtig. Als ehemaliger Kollege von Johann Sempala hatte man mich beauftragt, die Sache, nämlich die Übergriffe der Pflanzen, aufzuklären, wobei ich wusste, dass auch nach einer systematischen Bearbeitung niemand zufrieden sei. Denn was auch herauskäme, wir lebten so oder so und überall in einer Symbiose mit Pflanzen. Johanns Wunsch war es gewesen, all sein Wissen, seine unerreichbare Lebenserfahrung, auf die Verdauung zu übertragen. Er wollte die Menschen freier werden lassen.
Auf meiner Schulter breitete sich ein Vergissmeinnicht aus. Ich hatte mich daran gewöhnt und wollte die blauen Blüten nicht mehr missen. In alle meine Hemden und Pullover hatte ich oben Löcher geschnitten, so dass die Blumen nicht zerdrückt würden und genügend Licht bekämen. Jetzt sollte ich die Ursache für die Eigenmächtigkeit der Pflanzen finden.
Gewaltsam öffnete ein Polizist, neben dessen Mütze eine Margerite aus den Haaren ragte, die Tür zu Johann Sempalas Wohnung. Beim Eintreten verlor ich jedes Gefühl von Angst, Misstrauen oder Unbehagen. Es roch nach Faulbaum – wie in einem Wald. An den Wänden hingen detailgetreue Bilder von Pflanzen mit deren lateinischen Namen. Phaseolus vulgaris und ein riesiger, hellgrüner Keimling traten besonders hervor. Auf dem Fenstersims standen Töpfe mit Orchideen, Wunderblumen und Erbsen. Diese Pflanzen wuchsen auch auf dem Boden, nur waren noch grüne Bohnen mit fast reifen Früchten dabei. Sie bildeten die Form eines menschlichen Körpers mit ausgestreckten Armen und Beinen. Es war der Garten eines Erfinders.

 

Lieber Fugusan,

sodele, jetzt bin ich nach längerer Pause auch wieder bei den Wortkriegern und habe mich gleich gespannt über Dein neustes Werk hergemacht :-)

Johann Sempala

Ein toller Name. Du hast ihn in den Kommentaren ja schon erläutert. Und eigentlich könnte ich jetzt so weitermachen, da ich nichts gefunden haben, was mir an Deiner Geschichte nicht gefällt (mit einer Miniausnahme).

Die Idee ist wunderschön und erinnert mich an ein Märchen und gleichfalls an eine andere Kurzgeschichte, die ich hier einmal gelesen habe. In dieser wurden Menschen zu Pflanzen umgezüchtet. Mir ist leider der Name entfallen :(

"Verdauen in der Lunge, der Magen war überflüssig. Keine Magenschmerzen, kein Sättigungsgefühl und trotzdem eine Methode zum Schlankeren."
Welch grandiose und simple Idee Dein Johann dort hat. Wer würde nicht liebend gern Schmerzen in der Lunge gegen Magenschmerzen tauschen.

"Sie hätten draußen im Gang noch ein paar Minuten warten sollen. Sehen Sie nicht, dass ich zu tun habe? Aber nun sind Sie schon drin. Womit kann ich Ihnen dienen?“

Diese Situation ist fast schon zu realistisch für Deine Geschichte :D

Auf meiner Schulter breitete sich ein Vergissmeinnicht aus. Ich hatte mich daran gewöhnt und wollte die blauen Blüten nicht mehr missen. I

Und hier nun meine einzige Kritik: Mir ist nicht so ganz klar, wie die anderen Menschen sich nun "angesteckt" haben beim guten Johann.

Und das erklärt es mir auch nicht,

Diese Pflanzen wuchsen auch auf dem Boden, nur waren noch grüne Bohnen mit fast reifen Früchten dabei. Sie bildeten die Form eines menschlichen Körpers mit ausgestreckten Armen und Beinen. Es war der Garten eines Erfinders.

auch, wenn dieses ein sehr schönes und befriedigendes Ende für den Erfinder sein mag. Er geht quasi in seiner Erfindung auf.

Wirklich sehr gerne gelesen und ich freue mich schon auf Dein nächstes Werk :-)

Liebe Grüße aus München
Maedy

 

Hallo Maedy,
schön, dass du wieder zurück bist und es freut mich deshalb besonders, dass Du Dir meine Geschichte vorgenommen hast. Gerade nach den Korrekturen ist mir das hilfreich. Es ist erleichternd zu erfahren, dass Du nur mit einer Stelle Schwierigkeiten hattest. Aber diesen Gedankensprung wollte ich dem Leser überlassen. Vor allem, da es mehrere Möglichkeiten gibt:

Und hier nun meine einzige Kritik: Mir ist nicht so ganz klar, wie die anderen Menschen sich nun "angesteckt" haben beim guten Johann.
Johann hatte - vielleicht unbewusst - seine Erfindung unter die Menschen gebracht, bevor er sich zurückzog. Wie das passieren konnte, ist schwer aufklärbar. Man könnte in seiner Wohnung nach Hinweisen suchen. Es wäre aber auch möglich, dass die Erfindung sozusagen in der Luft lag und es nur einen guten Beobachter wie Johann brauchte. Denn die Pflanzen mussten sich andere Wege für ihr Überleben suchen, da auf der Erdoberfläche kein Kontakt zum Humusboden mehr möglich war, vor lauter Teer und Beton, oder die Menschen hatten alles - ausser sich selbst - mit Pflanzenvernichtern bespritzt. Vielleicht werde ich noch einen Hinweis einbauen.
Herzlichen Dank fürs Reinschauen und Deine nette Bewertung.
Bald betrachte ich die Feuerkraniche näher.
Viele Grüsse
Fugu

 

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