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- 01.09.2005
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Bobby
Lennard öffnete die Tür und da reichte es ihm eigentlich schon. Nina ging es nicht anders, er sah es in ihrem Gesicht. Für sie waren es die Jogginghose und sein T-Shirt: Nine Inch Nails, Pretty Hate Machine. Senfflecken darauf.
Für Lennard war es Lars. Er stand hinter Nina und hob die Hand.
„Hi.“ Lars lächelte.
Lennard nickte, lächelte nicht. Lars nahm den Arm runter.
Nina hatte die Hände auf Lottes Schultern. „Hallo“, sagte das Kind.
Lennards Brust war diese dunkle Zwergenmine aus Herr der Ringe. Jemand hatte gerade eine Fackel darin entzündet. „Hey.“
Nur kurz hatte Lotte hochgesehen. Jetzt hing ihr Kopf wieder runter und der Blick klebte am Bildschirm des Smartphones, das sie mit beiden Händen hielt.
„Was hast du da denn Tolles?“ Lennard sprach zu Lotte, sah aber Nina an.
Noch einmal blickte Lotte kurz auf. „Ist zum Geburtstag.“
Lennard presste die Lippen aufeinander. „Du hast doch noch gar nicht.“
Lotte zuckte die Schultern. „Wenn ich dann bald habe, gibt’s nur eine Kleinigkeit, dafür habe ich das früher bekommen.“
„Ach so“, sagte Lennard.
„Ist alles gut“, sagte Lars. Er nickte und streichelte Nina über den Rücken. „Wir haben echt lange drüber gesprochen. Wenn die Eltern es im Blick haben, ist es in Ordnung, finden wir.“
„Verstehe.“
„Wir meinen dich auch natürlich, also uns alle drei.“
„Okay.“
Nina verschränkte die Arme vor der Brust. „ So viele Kinder in der Schule haben schon eins.“
Lennard nickte langsam. „Bestimmt.“
Nina beugte sich runter zu ihrer Tochter. „Willst du jetzt zu Papa?“
Endlich nahm Lotte das Handy runter. Sie lächelte und griff Lennards Hand.
„Nicht so fest drücken“, sagte Lennard. „Aua!“
Lotte kicherte.
„Um fünf am Sonntag holen wir sie wieder ab“, sagte Nina.
„Okay.“ Lennard spürte, wie Lottes Griff sich löste. Sie ging die Treppe hoch zur Wohnung. Als ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, musterte Nina ihn noch einmal von Kopf bis Fuß. „Du hast nicht vergessen, dass du sie dieses Wochenende hast, oder?“
„Sehe ich so aus?“
Lars lachte auf und ließ den Laut in ein Husten übergehen. Wieder streichelte er Ninas Rücken. „Macht ihr zwei euch einfach ein schönes Wochenende“, sagte er.
„Ja.“ Lennards Blick ging kurz zu einer Katze, die ihn erschrocken zurück anstarrte, bevor sie unter einem parkenden Auto abtauchte. „Ihr auch.“
„Bis Sonntag“, sagte Nina.
Lennard zeigte ihr den Daumen hoch. „Bis Sonntag.“
Er sah ihnen hinterher, wie sie über den Hof gingen und nach rechts auf den Gehweg einbogen. Lars drehte sich noch einmal um und winkte. Lennard ging rein und machte die Tür zu. „Trottel“, flüsterte er.
Im Wohnzimmer saß Lotte auf dem Sofa und tippte auf dem Telefon herum. Weil sie abgelenkt war, hatte Lennard Zeit nachzudenken. Keine Predigt jetzt. Ehe man es sich versah, sagte man Sachen wie: Wir hatten sowas früher nicht, und weiß du was, uns hat nichts gefehlt! Wenig später gab man sich ganz auf und postete dazu bei Facebook, in Gruppen mit Namen wie Das waren unsere Jahre!
Er setzte sich neben Lotte aufs Sofa. Dafür musste er eine Blu-ray von John Wick 2 aufheben. Er legte sie auf den Wohnzimmertisch neben das leere Papier der Jumbotafel Schoko und Keks von Milka.
„Annika findet, das ist voll der coole Typ“, sagte Lotte.
„Was?“
„Aus dem Film da.“
„Der ist ab achtzehn.“
„Trotzdem, sie findet den cool.“
„Weißt du, wie alt Frau Schlomann ist?“
„Alt, sonst wäre sie keine Lehrerin.“
„Der Typ ist älter.“
„Echt?“
„Wird bald sechzig.“
„Quatsch.“
„Doch.“
Lotte sah kurz zur Blu-ray und wieder zum Telefon. „Annika findet den trotzdem cool.“
„Tippst du mit der die ganze Zeit?“
„Hab ihr geschrieben, dass du den Film hast. Sie will, dass wir ihn gucken, damit ich ihr davon erzählen kann. Können wir?“
„Ich habe doch gesagt, der ist ab achtzehn.“
„Und wenn ich achtzehn bin?“
„Dann ist der coole Typ siebzig.“
„Quatsch.“
„Wir gucken den nicht.“ Lottes Daumen huschten flink über das Display. „Wie lange hast du das Telefon jetzt?“
„Zwei Wochen.“
„Du tippst ganz schön schnell.“ Weil sie es von morgens bis abends macht.
Lotte starrte aufs Display.
„Was?“, fragte Lennard.
„Annika meint, du sollst dich nicht so anstellen.“
Lennard streckte die Hand aus. „Gib mal bitte her, dann schreibe ich Annika selbst zurück.“
Lotte nahm das Telefon hinter den Rücken. „Oh, nee.“ Sie legte es auf den Tisch. „Hat Mama eigentlich Recht? Hast du vergessen, dass ich komme?“
Das war zu plötzlich gewesen. Lennard musste schlucken. Verdammte Kinderohren. „Nein, habe ich nicht“, sagte er. „Jedenfalls nicht den Tag oder das Wochenende. Ich dachte nur, du kommst später.“
„Mama und Lars wollen nach Hamburg zu Lars’ Papa, da müssen sie lange fahren.“
Das hätten die zwei Kasperköppe auch sagen können. Aber womöglich hatten sie das und er hatte in seiner WhatsApp-Unterhaltung mit Nina nicht richtig aufgepasst. Vielleicht war er betrunken gewesen und hatte, anstatt zu lesen, dem Telefon den Mittelfinger gezeigt, wie er es auch fast zwei Jahre danach immer noch manchmal tat, wenn da aufblinkte Nina schreibt … Er konnte das gerade nicht überprüfen. Von jetzt an, hatte er soeben beschlossen, würde Lotte ihn so selten wie möglich mit Telefon in der Hand sehen.
„Jedenfalls dusche ich noch schnell und dann gehen wir raus“, sagte er.
„Wohin?“
„Wir haben super Wetter, ist überall schön.“
„Kann ich den Film anmachen, während du duscht?“
„Nein.“
„Aber wenn mir langweilig wird?“
„Ich kann dir bei Netflix was für Kinder anmachen.“
„Ach nee.“ Lotte nahm ihr Telefon vom Tisch.
Auf dem Weg nach draußen standen sie vor der Haustür. Lennard hatte die Hand an der Klinke, Lotte hielt ihr Handy.
„Willst du das nicht hier lassen?“, fragte er.
„Lässt du deins auch hier?“, fragte sie zurück.
„Das ist was anderes.“
„Warum?“
„Ich bin erwachsen. Was ist … wenn mein Auto abgeschleppt werden soll? Dann muss ich erreichbar sein.“
„Du hast doch eh keinen Führerschein gerade.“
Nina ging dem Kind gegenüber wohl ganz offen damit um. Sie war die Beste einfach, vielen Dank.
Lotte saß auf der Bank und tippte.
„Dann gehe ich jetzt schaukeln, dann kriegst du auch Lust“, sagte Lennard. Lotte sah vom Telefon hoch. Zum Schwung holen waren Lennards Beine zu lang, er konnte sich nur immer wieder neu abstoßen. Lotte richtete das Handy auf ihn und machte ein Foto.
„Aber nicht irgendwo ins Internet stellen“, bat Lennard.
„Das kann ich noch gar nicht“, erwiderte Lotte.
Dieses noch, wusste Lennard, falls es überhaupt stimmte, bezeichnete eine furchteinflößend kurze Zeitspanne.
***
Abends kochten sie Spaghetti mit Tomatensoße. Lars zwinkerte ihm sonntags oft zu und sagte, das würde er auch machen, wenn es halt schnell gehen muss. Was er nicht verstand, war, dass es mehr gab als Dosen, dass man Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Gewürze, beim Wochenmarkt gekauft, schneiden und hacken konnte, um … Lennard räusperte sich. Sein Puls schlug schnell. Er nahm das Brett mit den Zutaten und hielt es gerade, damit der Saft der verdammte Scheiße frisch geschnittenen Tomaten nicht auf den Küchenfußboden tropfte. Bevor er alles in die Pfanne mit dem Olivenöl gab, fragte er wie immer Lotte, ob sie helfen wollte. Die Hilfe bestand daraus, dass sie den Griff des Bretts anfasste, aber es war noch nicht lange her, da hatte sie das mit Stolz erfüllt.
Lotte saß am Küchentisch und tippte auf dem Handy. „Gleich“, sagte sie.
„Was schreibst du denn da schon wieder?“, wollte Lennard wissen.
„Hab Annika gesagt, dass wir kochen und jetzt will sie wissen, was.“
Lennard nickte. „Sag mal, ist das gar nicht anstrengend, wenn man das ständig schreiben muss, was man gerade macht?“
„Nö.“
War einen Versuch wert.
Lotte legte das Telefon auf den Küchentisch und kam zu ihm. „Eigentlich helfe ich ja gar nicht, ich packe ja nur ans Brett“, sagte sie.
„Willst du’s allein machen?“, fragte Lennard. Lotte sah ihn zweifelnd an. „Du kriegst das hin“, sagte er. Sie nahm das Brett. Lennard versuchte, locker auszusehen, aber er war angespannt, um jederzeit eingreifen zu können. Das war nicht nötig, stellte sich heraus. Alles glitt sauber vom Brett in die Pfanne. Mit einem Messer kratzte er die letzten kleinen Knoblauchwürfel vom Holz. „Top“, sagte er. „Nächstes Mal kochst du und ich gucke solange den Film mit dem coolen Opa.“
„Ha, ha.“ Lotte zeigte ihm einen Vogel. Er küsste sie aufs Haar. Sie setzte sich wieder hin und nahm das Telefon zur Hand.
Nach dem Essen und drei Folgen Sam & Cat bei Netflix kniete Lennard schließlich vor dem Bett des improvisierten Kinderzimmers. Es war nur eine Matratze auf dem Boden. Als er hier eingezogen war, hatte er noch an eine vorübergehende Sache geglaubt, das rissige Smashing-Pumpkins-Poster aus seinem alten Kinderzimmer an die Wand gehängt und seine Gitarren hier untergestellt. Dann war Lars aufgetaucht, sehr plötzlich und sehr innig. Lennard weigerte sich immer noch zu glauben, dass das nicht schon mindestens ein Jahr lang gelaufen war. Nina stritt es bis heute ab.
Mal heulend, mal fluchend und manchmal beides machend hatte er irgendwann eingesehen, dass die Trennung so vorübergehend war wie die Evakuierung von Tschernobyl. Seine Tochter würde für ihn künftig nur noch ein Wochenendgast sein.
Also hatte er die Gitarren ins Wohnzimmer gepackt, wo sie aufgrund der Größe der Wohnung – Perfekt für Singles!, hatte es in der Anzeige geheißen – bei allem im Weg standen, was man möglicherweise in einem Wohnzimmer machen wollte. Dann hatte er zwei Wände weiß und zwei himmelblau gestrichen und die Matratze im Internet gekauft. Billy Corgans leidendes Antlitz hatte dem spaßigen Glotzen der Minions weichen müssen. Als es wegen des Unterhalts mal wieder knallte, hatte Nina gesagt, er lasse seine Tochter auf einer nackten Matratze schlafen wie einen Junkie. Dabei mochte Lotte die Matratze, mochte das Abenteuer und den Ausnahmezustand, für den sie stand, das Wochenende weg von zu Hause. Hatte er so gesagt, aber Nina hatte sich nur an die Stirn getippt.
Lennard zog die Decke hoch bis zu Lottes Hals, sodass ihre tippenden Finger mit dem Telefon darunter verschwanden. „Hey!“, protestierte sie.
„Was schreibst du denn jetzt noch?“, fragte Lennard.
„Sage Annika gute Nacht.“ Sie kämpfte ihre Hände wieder frei, tippte noch etwas und legte das Telefon neben sich auf die Matratze.
„Sagst du mir auch gute Nacht?“
Sie kam hoch und hängte sich an seinen Hals. „Gute Nacht.“
Er ließ die Tür einen Spalt weit offen, damit das Licht vom Flur hineinkam, bis sie eingeschlafen war. Im Wohnzimmer ließ er tonlos Maybrit Illner laufen, setzte Kopfhörer auf und spielte erst Heart Shaped Box und dann ein paar Lieder von den Honeymoon Killers auf der Gitarre. Mit größer werdendem zeitlichen Abstand musste er zugeben, dass sie nicht gut waren. Nicht gut genug. Es fehlte etwas. Irgendwann würden sie das auf seinen Grabstein schreiben. Hier ruht Lennard Rottmann: Da fehlte etwas. Mit der Gitarre auf dem Schoss nickte er ein.
Ein schrilles Gemisch aus Kreischen und Weinen riss ihn aus dem Schlaf. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte er an den Fernseher, aber auf dem Bildschirm lachte das Publikum stumm über einen Komiker auf der Bühne, der die Lippen bewegte und dazu Grimassen schnitt.
Es kam aus dem Kinderzimmer.
„Lotte?“ Die Gitarre fiel zu Boden, als er aufstand. Er hatte den Gurt nicht umgebunden. Normalerweise war ein Tag gelaufen, wenn ihm das passierte. Jetzt war es egal.
„Lotte!“ So hatte er sie noch nie gehört. Die Nachbarn mussten denken, er verprügele sie. Er lief ins Kinderzimmer und knipste das Licht an.
Als er sich auf die Matratze kniete, spürte er die Feuchtigkeit durch die Hose an die Haut ziehen. Er nahm sie in den Arm und sie weinte weiter, aber wenigstens schrie sie nicht mehr. Kreischte nicht mehr, als hätte sie den Verstand verloren.
Er rieb ihren Rücken und versicherte ihr immer wieder, er sei hier und sie habe nur geträumt. Nach einer Weile wurden die Abstände zwischen den Schluchzern größer. Er lockerte seinen Griff. Sofort zogen sich Lottes Arme fester um seinen Hals. Er hielt sie weiter.
Irgendwann ließ sie los. Es fühlte sich an, als könnte sie nicht mehr, als hätte sie alle Kraft in den Armen aufgebraucht. „Ist wieder gut?“
Sie schüttelte den Kopf.
„War so schlimm der Traum?“
„Ich hab nicht geträumt.“
Er streichelte ihr über den Kopf. „Doch hast du. Egal wie schlimm es war, nichts davon ist echt.“
Sie kniff die Augen zusammen. Die Tränen hinderte es nicht daran, über ihr rotes Gesicht zu laufen. Sie schüttelte den Kopf.
„Willst du erzählen, was du geträumt hast?“
„Ich hab nicht geträumt“, wiederholte sie.
Er strich ihr wieder übers Haar. „Lotte, Mensch.“
Die Hand seiner Tochter zitterte, als sie ihr Telefon aus den krausen Wellen fischte, die die Decke schlug. Sie hielt es ihm hin. „Der Code ist mein Geburtstag.“
Lennard tippte ihn ein. Lotte drückte ihr Gesicht in seine Seite. „Sag, wenn es wieder weg ist.“
Mit dem freien Arm, den er immer noch um sie gelegt hatte, drückte er sie fester an sich. Nur die beiden Zahlen des Jahres fehlten noch. Eins. Zwei. Die Eingabemaske verschwand.
Fast hätte er das Telefon fallen lassen. Kälte breitete sich in seinem Nacken aus. Das Gesicht, das ihn vom Display ansah, war menschlich, aber alles daran war falsch. Die Augen waren zu groß, die Stirn war zu hoch und das Grinsen zu breit. Es sah aus, als hätte Hieronymus Bosch sich an einem Porträt versucht. Nein, schlimmer. Es sah aus wie der Mann, der dabei Model gestanden hatte.
Lennard wollte seinen Schock in fluchende Worte fassen, aber er biss sich im letzten Moment auf die Zunge. Für Lotte musste er jetzt abgebrühter sein, als er war. Keine große Sache das hier. Herr im Himmel, was für eine Fratze!
Seine Tochter hatte keinen Alptraum gehabt, aber das Gesicht auf dem Display gehörte einem Bewohner dieser Welt, dem Reich der schlechten, der wirklich ganz, ganz miesen Träume. Unter dem Alptraumgesicht mit dem gemeinen Grinsen stand ein Text:
hallo du ich Bin Bobby mein Vater war ganz krank Im kopf er hat kleine kinder totgemacht und mein mutter war nicht mehr lebndig als ich geboren wurde sie warschon in den sarg sie sind beide in der Hölle ** du hast drei tage schick mich an drei deiner freunde mach es abends bevor, du schlafen gehst Wenn du es nicht machst wachst du bald nachts auf und ich Steher neben dein Bett !!!
„Ein Kettenbrief“, sagte Lennard.
„Was?“ Lotte sah hoch zu ihm. Er ließ das Handy auf die Matratze sinken, mit dem Display nach unten.
„Das ist ein Kettenbrief“, sagte er. „Irgendsoein Blödmann macht sich da einen Spaß.“
„Das ist doch kein Spaß!“ Lottes Stimme war heiser vom Kreischen und Weinen.
„Nein.“ Lennard schüttelte den Kopf. „Aber manche Leute … hör zu, wichtig ist jetzt was anderes.“ Er nahm ihre Hände in seine. „Guck mich mal bitte an.“
Lottes Augen glühten rot und wässrig. „Es gibt keinen Bobby“, sagte Lennard. „Das ist ganz wichtig. Das ist nur ein Bild. Es gibt keinen Bobby. Verstehst du?“
Kaum merklich nickte Lotte.
„Dann sag es mal bitte.“
Sie öffnete den Mund, aber mehr nicht.
„Wir machen zusammen“, sagte Lennard. Er zählte bis drei.
Sie sagten es.
Lotte schlief auf dem Sofa wieder ein, während bei Netflix Sam & Cat lief. Alle paar Minuten drehte Lennard den Ton ein bisschen weiter runter. Schließlich war er ganz aus. Kein Protest. Lotte schlief in einer Jogginghose ihres Vaters und einem ausgewaschenen Pantera-T-Shirt. Ihren Schlafanzug und die Bettwäsche hatte Lennard runter in den Keller gebracht und in die Maschine gesteckt. Durch ein Labyrinth von aufgehängten Laken und Bettwäsche hatte er sich von der Kellertür vor zu den drei Maschinen und dem Trockner kämpfen müssen. Im Haus machten entweder immer alle ihre Betten gleichzeitig oder jemand sammelte ein halbes Jahr, bevor er die Bezüge runterbrachte.
Es war fast zwei Uhr. Lennard nahm sein Handy, googelte Bobby und Kettenbrief. Die Suchmaschine listete viel Allgemeines zum Thema auf, meist von der Sorte für Erwachsene: „Zahlen Sie jetzt 500 Euro und freuen Sie sich nächsten Monat über 5000!“ Außerdem einen Wikipedia-Eintrag zur „volkstümlichen englischen Bezeichnung für: Polizist“. Die Fratze zeigte sich nicht. Auch nicht, als Lennard auf „Bilder“ tippte.
Er beugte sich über Lotte und vergewisserte sich ihres regelmäßigen und ruhigen Atems. Dann nahm er ihr Telefon vom Tisch und öffnete WhatsApp.
Annika hatte die Nachricht geschickt. Vielleicht lag die beste Freundin seiner Tochter gerade zwischen den Eltern und versuchte, wieder in den Schlaf zu finden. Wieder breitete sich Kälte aus in Lennards Nacken, so als sähe er das Bild zum ersten Mal. Bobbys Augen waren groß und rund und schienen jeden Moment aus den Höhlen zu fallen. Lennard versuchte den Gedanken zu ignorieren, wie es Lotte ging, wenn er als erwachsener Mann so auf dieses Gesicht reagierte. Er ignorierte es auch, weil er sich konzentrieren musste. Einen Eindruck hatte er von Anfang an gehabt, hatte sich aber wegen des panischen Geschehens nicht darauf konzentrieren können. Jetzt hatte er diese Zeit und seine Gewissheit wuchs.
Lennard kannte Bobby.
Das breite Grinsen in diesem langen Gesicht und die Nase, die ebenso wie das Kinn spitz zusammenlief wie der Schnabel eines Vogels; die Stirn, die sich oben fast bis zur Mitte des Schädels zog und die hochtoupierten blonden Haare: Das alles hatte er schon einmal gesehen. Bobbys Antlitz füllte fast das gesamte Foto aus, aber unten konnte man den dürren Hals sehen und den Ansatz eines T-Shirts. Ein himmelblaues T-Shirt.
Das stand etwas auf diesem T-Shirt, selbst wenn es auf dem Bild nicht zu sehen war. Lennard kannte Bobby und er kannte das T-Shirt. Da stand etwas drauf.
Metallica.
Lennard setzte sich aufrecht hin. „Beavis?“
Lotte stieß einen schläfrigen Seufzer aus. Lennard erstarrte und wartete, bis sie wieder still lag. Dann googelte er weiter.
Er bekam Bilder der Zeichentrickfiguren, ein MTV-Logo, ein über zwanzig Jahre altes Bandfoto von Crowbar und eines von Mike Judge. Lennard ergänzte seine Suchanfrage um das Wort „real“.
Bingo.
„Du Arschloch“, flüsterte er.
Sie schliefen fast zwei Stunden länger als sonst. Am Frühstückstisch schmierte sich Lotte Nutella auf eine Scheibe Toast. Abwesend biss sie hinein und starrte geradeaus.
„Hast du trotzdem gut geschlafen?“, fragte Lennard.
Lotte schluckte ihren Bissen runter. „Geht.“ Sie trank einen Schluck Tee.
„Weißt du noch?“, fragte Lennard. „Es gibt keinen Bobby.“
Sie sah auf ihr Brot. „Ist aber trotzdem gruselig.“ Es war leise und am Ende brach die Stimme.
„Ja, sieht immer noch gruselig aus“, stimmte Lennard ihr zu. „Aber weißt du, was der Unterschied zu gestern ist?“
Sie schluckte noch einen Bissen runter. „Ist hell, da ist es dann nicht mehr so schlimm.“ Dann, leiser: „Aber es wird ja nachher wieder dunkel.“
Lennard schüttelte den Kopf. „Das ist egal.“
Sie sah ihn an.
„Der Unterschied ist nämlich, jetzt kann ich dir richtig beweisen, dass es keinen Bobby gibt.“ Er betonte beweisen, hob bei der zweiten Silbe die Stimme an.
Lotte wartete auf seinen nächsten Zug, legte den Toast auf den Teller. Lennard nahm sein Telefon. „Früher gab es Zeichentrickfiguren im Fernsehen, die hießen Beavis und Butt-Head. Die haben immer Quatsch gemacht. Streiche gespielt. Und Musik gehört, wie Papa die immer hört. War für Jungs gemacht.“
Lottes Blick hielt fest: Ich sehe absolut nicht, wo uns das gerade hinführt.
Lennard zeigte Lotte das Ergebnis seiner frühmorgendlichen Recherche. „Siehst du? Ganz bekannte Sendung früher. Gibst du es bei Google ein, ist alles voll damit.“
Lotte zuckte die Schultern. „Aber was hat das denn mit … ihm zu tun?“
Sie flüsterte den zweiten Teil des Satzes, als hätte sie Angst, dass er sie hören könnte.
„Zeige ich dir.“ Lennard spezifizierte seine Suche. „Und nicht erschrecken jetzt.“ Er zeigte Lotte wieder das Display. „Kennst du den?“
Lotte zuckte zusammen. Lennard legte ihr die Hand auf die Schulter.
„Bobby“, sagte er, „ist eine von diesen beiden Figuren. Es ist Beavis. Du weißt, was Effekte in einem Film sind, oder? Wenn sie jemanden schminken und der spielt dann den Grüffelo?“
Wieder dieser Blick: Und?
„Das hier hat jemand gemacht, der solche Sachen beim Film macht. Der wollte mal gucken, wie Beavis und Butt-Head wohl in echt aussähen.“
„Wie Monster!“
Lennard nickte. „Genau! Wie Monster! Aber die sind aus Gummi oder was weiß ich, wie er das gemacht hat, wie eine Maske für Halloween jedenfalls. Und dann hat jemand dieses Bild genommen.“ Er zeigte Lotte das Foto der Beavis-Büste, die er im Netz gefunden hatte. „Hat es ein bisschen größer gemacht.“ Er zog mit Daumen und Zeigefinger das Bild auseinander. „Und dann hat er noch diesen doofen Text dazugeschrieben.“
Lotte starrte das Bild an.
„Das ist Bobby“, sagte Lennard. Er lachte, um zu betonen, wie albern das alles war. Selbst in seinen eigenen Ohren klang es unecht, also ließ er es wieder. „Bobby heißt erstens Beavis und ist zweitens aus Gummi. PVC, keine Ahnung. Aber es gibt keinen Bobby. Verstehst du? Alles Quatsch.“ Er nahm das Handy und steckte es ein. Vor Frustration hätte er gern die Teekanne gegen die Wand geschmissen. Es reichte nicht. Er sah es ihr an. Er dachte an eine Geschichte, die er einmal gelesen hatte. Eine Frau mit panischer Angst vor Haien hatte sich eben dieser Angst gestellt und war schwimmen gegangen. Sie hatte einen Schock erlitten, irgendwo entlang der englischen Küste, wo der letzte Hai wahrscheinlich seine Bahnen gezogen hat, als es noch Dinosaurier gab. Angst war … stärker.
„Wir löschen Bobby jetzt überall, okay? Aus deinen Fotos und aus der Unterhaltung mit Annika.“
„Aber es gibt ihn doch gar nicht.“
„Hässlich ist er trotzdem.“ Er lächelte, aber Lotte reagierte nicht darauf. „Am besten ist es, wenn man nicht an schlimme Sachen denkt, dann sind sie irgendwann weg.“ Eventuell kommen sie im Traum zurück, aber das Fass mache ich jetzt mal nicht auf. Er tippte sich an die Schläfe. „Du hast nur Angst, weil diese Sachen hier oben drin sind. Sind sie weg, hast du auch keine Angst mehr. Logisch, oder?“
Lotte nickte, blickte dabei aber nachdenklich zu Boden.
„Was denn?“, fragte Lennard.
Lotte sah hoch zu ihm. „Kann ich es nicht trotzdem weiterschicken? Nur vorsichtshalber.“
Lennard nahm Lotte in die Arme und stand mit ihr auf. Meine Güte, ist sie schwer geworden.
„Hast du denn Freunde, denen du das wünscht? Dass es ihnen so geht wie dir heute Nacht?“ Er streichelte ihren Kopf. „Nicht oder?“
„Du hast doch die Nummer von Frau Schlomann, das wäre schon eine.“
Lennard lachte, wurde aber sofort wieder ernst. „Komm, wir sagen es nochmal zusammen.“
Das taten sie, fünf Mal, bevor er Lotte wieder runterließ. Er dachte an morgen und hörte Nina sagen: Es war doch klar, dass so was passiert, wenn sie bei ihm drüben ist! Und er hörte Lars antworten: Ja, wahrscheinlich hast du Recht.
„Hey, wollen wir das eigentlich für uns behalten?“ Er setzte Lotte wieder auf dem Stuhl ab. „Weißt du, es ist genau wie mit dem Bild. Je weniger wir darüber reden, desto weniger haben wir Bobby im Kopf und desto schneller ist er wieder weg. Für immer.“
Keine Versprechen machen, die du nicht einhalten kannst. Auch so ein Leitspruch.
Lotte schien nicht überzeugt. Sie sagte „Okay“, aber es klang nicht okay. Wieder hörte Lennard Nina etwas sagen. Diesmal einen Satz, den sie tatsächlich schon mal benutzt hatte. Lotte war noch ein Baby gewesen und für die Honeymoon Killers, damals im Spätherbst ihrer Karriere – Karriere natürlich in Anführungszeichen – hatte sich spontan ein Auftritt ergeben. Eigentlich hatte Nina an diesem Abend zu einem Geburtstag gewollt. Lennard hatte darauf hingewiesen, dass in dieser Phase die Mutter ohnehin wichtiger sei, und Nina hatte gesagt: Meinst du das ernst? Weil als Witz finde ich’s scheiße. Es geht nicht um sie, das bist du. Immer nur du.
***
Als Lotte wieder bei Nina und Lars war hatte Lennard Schwierigkeiten, den eigenen Rat zu befolgen. Immer wieder drehten seine Gedanken sich um Bobby. Er hatte keine Angst vor der Fratze, nicht am Tag (Aber es wird ja nachher wieder dunkel). Er hatte eine Erwachsenenangst: Was, wenn Lotte das Thema bei den beiden Pfeifen ansprach? Wenn sie seine Tochter wieder abholten oder er sie zurückbrachte, fragten sie immer: War irgendwas? Mit so einem Unterton, als hätten Eltern ihren Fünfzehnjährigen übers Wochenende alleingelassen. Manchmal erklärte Lennard dann, sie hätten sich Sponge Bob und Thaddäus tätowieren lassen oder er hätte Lotte erzählt, Lars würde ihr, versprochen, zu Weihnachten ein Känguru kaufen.
Nachts wachte er auf. Schweiß lief ihm über Rücken und Brust, der Bettbezug hatte sich vollgesogen. In seinem Traum hatte er auch im Bett gelegen. Alles war dunkel gewesen. Aus Lottes Zimmer kam die Beavis-und-Butt-Head-Melodie, als würde der Fernseher darin laufen. Aber in dem Raum stand kein Fernseher. Auch in seinem Traum wusste Lennard das. Also ging er raus auf den Flur. Die Tür zum Zimmer stand einen Spalt weit offen. Kein Licht lag dahinter, nur Schwärze. Die Melodie lief weiter.
„Lotte?“ Er ging auf das Zimmer zu. „Kannst du nicht schlafen?“ Er wollte die Tür weiter aufschieben. Streckte die Hand danach aus. Jemand schloss sie schnell von der anderen Seite.
Lennard öffnete die Augen. Er stand auf und nahm sein Handy, um zu sehen, wie spät es war. Sein Daumen blieb über dem Display. Er berührte es nicht. In der Küche trank er ein Glas Wasser und sah auf die Uhr, die an der Wand hing. Mit Zeigern. Ein Bote aus einer besseren Zeit. Ohne Smartphones, ohne WhatsApp. Ohne Bobby.
Gleich halb vier. Er legte sich wieder hin und blieb noch eine ganze Weile wach.
Die Tage danach wartete er auf den Anruf oder die Nachricht. Per SMS. Nina schickte, wenn ihr etwas wirklich ernst war, SMS, als wären sie Rentner. „Wir müssen reden“ würde da drin stehen. Oder von Lars: „Moin, Kollege, können wir mal telefonieren, hab eine Sache?“ Aber nichts passierte.
Lennard saß am Laptop und suchte nach Wegen, das Lehramtsstudium doch noch zu Ende zu bringen. Seine Eltern glaubten bis heute, es gehe um ein oder zwei Prüfungen, die er damals wegen der Honeymoon Killers aufgeschoben hatte. Tatsächlich ging es um fast alles. Die Leistungsnachweise, die er gesammelt hatte, waren mit den Fingern einer Hand so zählbar, dass man gleichzeitig eine Dose Bier halten und daraus trinken konnte. Er würde von ganz vorne anfangen müssen, mit über vierzig zwischen lauter Zwanzigjährigen. Einige Dozenten würden jünger sein als er. Teils deutlich.
Doch der Horizont der Alternativen verdunkelte sich zusehends. Die Miete kam zusammen aus einem Gemisch von Englisch-Nachhilfe, Aushilfe bei „Scheibenwelt“, einem Plattenlanden, zwei Tage die Woche mit dem E-Bike Lieferservice für „City Burger“ und immer wieder Ebay-Kleinanzeigen: „Biete Gitarrenunterricht“.
„Scheibenwelt“ kämpfte tapfer und klar, Schallplatten waren zurück, aber auch die bekam man günstiger im Internet. Fünf Jahre hatte der Laden vielleicht noch, wenn es gut lief. Außerordentlich gut.
Mit „City Burger“ haderte Lennard, seit eine ehemalige Mitschülerin die Tür ihres pompösen Eigenheims im städtischen Speckgürtel geöffnet hatte. Sie hatte mit Paypal gezahlt, gab ihm aber trotzdem zwei Euro Trinkgeld. Sie stellten fest, wie schade das war, dass man sich so jetzt nach all den Jahren wiedersah und gar keine Zeit zum Quatschen hatte. Lennard hatte noch nie so gelogen im Leben.
Die Nachhilfe brachte etwas ein. Relativ gesehen, on top zum Bafög, mit zweiundzwanzig, wenn man in einer WG wohnte. Zum Glück hatte er sich mit Nina beim Unterhalt einigen können. Nur sie beide, um der alten Zeiten Willen. War es mal eng, rollte sie mit den Augen, bevor sie eines zukniff. Seit Lars da war, fiel ihr das noch leichter. Lennards Nachfolger verkaufte Autos und das wohl ganz erfolgreich.
Ging Nina irgendwann doch zum Anwalt, konnte er sich einen Strick nehmen. Er sah den Gerichtsvollzieher die Gitarren aus der Wohnung tragen. Die Wahrscheinlichkeit war noch gering, stieg aber proportional zur Spannung zwischen ihnen. Der Bobby-Zwischenfall hatte das Potenzial, die Stimmung endgültig kippen zu lassen.
Lennard drehte die Lautstärke der Kopfhörer hoch und stimmte Come As You Are an.
***
Lotte meldete sich am späten Dienstagnachmittag. Lennard schlüpfte gerade in seine Chucks. Eigentlich waren Montag und Mittwoch seine Tage bei City Burger, aber Ahmed hatte für die Spätschicht abgesagt. Grippe. „Oh, Kind“, sagte Lennard in die leere Wohnung hinein. „Gerade ist schlecht.“ Er berührte den grünen Punkt auf dem Display. „Hallo?“
Stille am anderen Ende.
„Hallo Lotte?“
„Hallo Papa.“
„Warum rufst du an?“
Wieder Stille. Er ging schnell die Stufen hinunter im Treppenhaus. Die junge Judith kam ihm entgegen, in ihrem Pearl-Jam-T-Shirt, eine Band aus einem Land vor ihrer Zeit. Sie grüßte freundlich und Lennard grüßte zurück, wegen der Hektik etwas kürzer angebunden als sonst. Keine Zeit diesmal für Treppenhaus-Smalltalk darüber, ob man die Melvins wirklich dem Grunge zurechnen konnte.
Er übersprang die letzten drei Stufen. „Du Lotte, ich bin gerade auf dem Weg zur Arbeit.“ Er zog die Haustür auf.
„Wegen Bobby“, sagte Lotte.
Lennard fuhr zusammen. Er schob die Tür wieder zu und lehnte sich gegen die Wand. Kurz horchte er auf etwaige Geräusche im Treppenhaus.
„Hast du’s Mama und Lars erzählt?“, fragte er.
Ein paar Mal ein- und wieder ausatmen. Dann: „Nein.“
Lennard hielt das Telefon von sich und pustete erleichtert aus.
„Du hast doch gesagt, dass ich nicht soll“, erinnerte Lotte ihn.
Das klang falsch, ganz falsch. Flog die Sache auf, könnte ihm diese Formulierung zum Verhängnis werden.
„Nein, nein, nein“, sagte Lennard. „Nicht du sollst nicht. Du musst nicht. Weil das alles Unsinn ist und wir uns von irgendwelchen Blödmännern keine Angst machen lassen. Es gibt nämlich keinen Bobby, weißt du noch?“
Stille. Lennard dachte an seinen Traum.
„Heute sind drei Tage um“, sagte Lotte.
Lennard seufzte. „Mensch Lotte, es passiert nichts.“ Außer vielleicht, dass die Eltern der angeschriebenen Freunde Nina und Lars anriefen, weil seine Tochter Bobbys Grüße weitergeschickt hatte. Was wiederum zu der Frage führen würde, wo und wann der Kettenbrief Lotte erreicht hatte.
„Versprichst du es?“, fragte sie.
„Ich muss nichts versprechen, Lotte. Es gibt keinen Bobby.“
Atmen am anderen Ende. Lennard nickte, allein im Treppenhaus. „Ich verspreche es.“
Am Ende der Schicht musste er nochmal raus zu „Berger, Martin“, dritter Stock. Vier Burger, zwei vegan. Zweimal Pommes, einmal Zwiebelringe. Lennard klingelte unten und drückte die Tür auf, als es summte. Die Musik hallte von oben durchs Treppenhaus. Der Sänger machte diese Quiek-Geräusche wie ein Ferkel, dazu ein rasend schnelles Schlagzeug. Martin Berger legte keinen Wert auf gute Nachbarschaft.
Als Lennard vor der bereits ein Stück weit geöffneten Wohnungstür stand, hörte er mehrere junge Männerstimmen. Jemand drehte die Musik leiser. Schritte auf Socken. Von der anderen Seite wurde die Tür ganz aufgezogen.
Die Burgertasche glitt Lennard aus den Fingern. Der Junge in der Tür machte einen Satz und half ihm, sie aufzufangen.
„Brudi, alles klar?“, fragte er.
Lennard räusperte sich. „Sorry.“ Sein Herz schlug schnell wie das Schlagzeug der Ferkelband. „Ich habe gerade irgendwie danebengegriffen.“
„Sicher?“ Martin Berger blickte ihn besorgt an. „Ich dachte, du kollabierst oder so. Willst du ein Glas Wasser?“
„Nein, alles gut.“
„Willst du ein Bier?“
Lennard verneinte. Er stellte die Warmhaltetasche auf den Boden und holte die drei braunen Papiertüten daraus hervor. Zuletzt studierte er noch einmal die Rechnung. „Ihr habt mit Paypal bezahlt, richtig?“
„Jo. Ich hab aber trotzdem Trinkgeld.“ Martin Berger gab Lennard einen Euro. Er nahm die Münze, ohne den Blick von Bergers T-Shirt zu lassen.
„Brudi, du machst mir echt Sorgen“, sagte Berger. „Bist du sicher, dass alles gut ist? Hast du dich mit dem Fahrrad gemault oder sowas?“
Lennard schüttelte den Kopf. „Nein, alles in Ordnung. Aber sag mal, wo kriegt man so ein Shirt her?“
Berger zupfte stolz an dem hellblauen Kleidungsstück mit Metallica-Schriftzug in Comicschrift auf der Brust. „Geil oder? Aus so einem Plattenladen in Kopenhagen. Neulich war doch das Bonegrinder.“
„Ja, ich weiß.“ Er hatte noch nie von dem Festival gehört. „Ist das offizielles Band-Merch?“
„Nee. Ist ein MTV-Logo drin. Beavis-und-Butt-Head-Merch. Kennst du?“
Lennard nickte. „Klar, ich kenne MTV noch mit Musik. Ich war dabei, kann man sagen.“
„Echt? Krass. So alt siehst du gar nicht aus.“
„Tja.“
„Mit dem Kreislauf alles gut?“
„Denke schon.“
Nach Feierabend saß er auf dem Sofa und zupfte ziellos die Saiten. Immer mal wieder drängte sich eine Melodie kurz in den Vordergrund, Lullaby von The Cure oder Don’t Speak von No Doubt, um dann wieder in ziellosen Tönen ohne Erkennungswert oder dem peinlichen Mittelmaß der Honeymoon Killers unterzugehen. Er setzte die Kopfhörer ab und stellte die Gitarre zurück in die Halterung. Dann wischte er sich durchs Gesicht und sah aufs Telefon. Gleich halb eins. Lotte lag seit Stunden im Bett. Ob sie schlafen konnte? Ob sie Bobby sah, wenn sie die Augen schloss? Und hatte sie Angst, das Gesicht könnte auch da sein, wenn sie die Lider öffnete?
Durchhalten, Kleine, dachte Lennard. Es gibt keinen Bobby. Nach der heutigen Nacht hätten sie das endlich geklärt.
Am Morgen trank er Kaffee und textete: Siehst du?
Zur Zeit der zweiten großen Pause schrieb Lotte zurück: Es heißt bald, nicht am dritten Tag.
Lotte, bitte.
Ich muss wieder rein. LG
Lennard legte das Handy auf den Küchentisch und nahm seinen Kaffee, ohne davon zu trinken. Bald stehe ich neben deinem Bett. Nicht nach drei Tagen. Bald. Die Arschkrampen hatten an alles gedacht.
In seinem Traum in dieser Nacht stand er im Wohnzimmer. Martin Berger saß auf dem Sofa. Er aß einen Burger und kleckerte dabei sein T-Shirt aus Kopenhagen mit Soßen und Salat voll. Als Lennard fragte, was denn das für ein Burger sei, grinste Berger ihn an. Lennard wiederholte die Frage, aber Berger grinste nur.
***
Am Mittwoch, bevor der nächste Besuch anstand, rief Nina an. Lennard sortierte gerade Platten aus für Ebay. Er hatte Strife in der Hand, One Truth, ein Relikt aus seiner kurzen Hardcore-Phase Ende der Neunziger, als es klingelte.
Nina fragte, ob ihm an Lotte beim letzten Mal irgendwas aufgefallen sei. Ob sie irgendwie anders war.
„Klar.“ Lennards Herz schlug schneller. „Sie hing die ganze Zeit an dem scheiß Telefon. Das war auf jeden Fall anders als sonst.“
„Von ihrer Art her meine ich. Sie ist jetzt immer so still und ernst.“
„Wie hypnotisiert.“
„Ja, genau!“
„Von dem scheiß Telefon.“
„Jetzt hör doch mal auf, Lennard! Wie kommt das?“
„Pubertät fängt bei Mädchen mit zehn an.“
Kurze Pause. Sie hatte es nicht gewusst. Fünfundzwanzig von dreißig Tagen im Monat war Lotte bei ihr, und dann wusste sie so etwas nicht.
„Wir haben uns gefragt, ob irgendwas war bei dir.“
„Natürlich habt ihr das.“
„Wir dachten, weil du so überrascht warst, dass du Stress hattest, und …“
Pause.
„Und was?“
„Lars meinte … du bist nicht irgendwie im Affekt mal grob geworden, oder?“
Lennard legte die Platte auf den Ebay-Haufen. „Ich kann heute Abend mal vorbeikommen und grob werden, wann hat Lars denn Feierabend?“
Nina schnaufte. „Es tut mir leid, okay, entschuldige. Aber irgendwas stimmt da nicht und sie ist ziemlich genau seit ihrem letzten Besuch bei dir so.“
„Will sie nicht mehr zu mir?“
„Doch.“
„Und trotzdem geht ihr einfach mal davon aus, dass es an mir liegt.“
„Du wirfst uns doch auch das Handy vor.“
„Entschuldigung, aber der Unterscheid liegt doch wohl auf der Hand. Ihr habt ihr ja nun mal viel zu früh ein Smartphone gekauft. Das ist eine Tatsache. Was ich angeblich gemacht habe, gibt es exklusiv nur bei euch im Kopf.“
Nina atmete schwer und vorwurfsvoll. „Vielleicht hat sie wirklich einfach den ersten Liebeskummer“, sagte sie.
„Was?“
„Ich hab neulich nachts nochmal nach ihr gesehen und sie hat im Schlaf einen Namen gesagt. Muss ein Junge sein, den sie kennt, ich hab online gesucht und keinen angesagten Teeniestar gefunden, der so heißt. Hat sie mit dir vielleicht drüber gesprochen?“
„Über was?“
„Über Bobby.“
Lennards Mund war plötzlich trocken.
„Das war der Name, den sie gesagt hat.“
„Sagt mir nichts.“
Nina erwiderte längere Zeit nichts. Zu lange, fand Lennard.
„Wir bringen sie Freitag dann wie immer vorbei“, sagte Nina.
„Okay.“
„Geh einfach behutsam mit ihr um, irgendwas ist im Moment.“
„Mache ich.“
„Und entschuldige nochmal die bescheuerte Frage. Ich weiß, dass du-“
„Bis Freitag.“ Lennard legte auf.
Lottes Blick ging noch immer viel zum Handydisplay, mechanisch und ohne Freude, ohne zu lächeln. Manchmal, dachte Lennard, sah es aus, als tippte sie nur, um den Kopf nicht heben zu müssen. Er sprach sie an auf Schule, Essen und Sport. Nur „Mms“ und „Jas“ und „Weiß nichts“. Behutsam zog er ihr das Handy aus den Fingern. Endlich sah sie ihn an.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er.
„Ja.“
„Sicher?“
Lotte zuckte Schultern. „Klar, warum nicht?“
Lennard überlegte. „Seinetwegen?“
Lotte nahm eines seiner kleinen Sofakissen und hielt es umklammert, während sie sich gegen die Rückenlehne fallen ließ. „Ich kann nachts nicht schlafen“, sagte sie. „Annika glaubt, dass ich verrückt bin, weil ich es nicht weitergeschickt habe. Sie sagt, es tut keinem weh und danach bist du sicher, also hätte ich es einfach weiterschicken sollen.“
„Es tut keinem weh?“ Lennard schüttelte den Kopf. „Die ist auch echt heiß, deine Annika.“
„Aber ich überlege viel, ob sie Recht hat. Sie sagt, sie denkt kaum noch dran, seit sie es weitergeschickt hat. Mehr will er ja nicht.“
„Und du hast Angst. Was sagt sie dazu eigentlich? Machen Freundinnen das?“
Lotte zupfte an dem Kissen herum. „Sie dachte, ich schicke es auch einfach weiter. Sie sagt, sie konnte nicht ahnen, dass ich so einen Mist mache.“
„Und auf deinen Vater hörst.“
„Sie meint, sie würde bei sowas nicht auf Erwachsene hören. Die verstehen es nicht.“
„Aber sie weiß natürlich alles.“ Lennard erschrak über die eigenen Worte. Was für eine unreife Reaktion. Annika war ein Kind wie Lotte. Aber erst zehn oder peng, es war schwer darüber hinwegzusehen, dass sie ohne Madame nicht in der aktuellen Situation stecken würden. Sie beide.
„Ich hab geträumt“, sagte Lotte.
„Das kann ich mir vorstellen.“ Ich nämlich auch. „Was denn?“
Lotte starrte auf den ausgeschalteten Fernseher. „Ich hab geträumt, dass ich schlecht träume, und dann habe ich Lars aus dem Schlafzimmer gehört, wie er ruft ich bin gleich bei dir, und dann kommt er rein und es ist dunkel und ich sehe nur so eine … Form. Wie einen Schatten. Ich sehe, dass es nicht Lars ist. Es ist dieser komische Kopf.“ Sie wischte sich die nassen Augen. „Es ist Bobby.“
Lennard nahm Lotte in den Arm und hielt sie, bis sie sich selbst wieder freikämpfte. Bis dahin dauerte sehr viel länger als sonst.
Sie spielten Mario Kart auf seinem alten Konsolen-Zombie aus Teenagertagen: Eigentlich längst tot, lief das Ding einfach immer weiter.
„Lässt du mich immer noch gewinnen?“, fragte Lotte.
„Bist du dafür zu alt?“, fragte er zurück.
„Ich bin ja keine fünf mehr“, sagte Lotte.
Lennard nickte. „Okay. Dann mache ich dich jetzt platt. Aber fang nicht an zu heulen.“
Das tat sie nicht. Sie lachte, als sein Bowser ihren Luigi immer wieder von der Fahrbahn drängte und ihn Einhornmist fressen ließ. Das Handy lag hinter ihnen auf dem Wohnzimmertisch. Während des Turniers drehte sie sich nicht ein Mal danach um.
Als Lotte im Bett lag, spielte er Planets Collide. Er hatte das Lied im Kopf gehabt, seit seine Suchanfrage das Bild von Crowbar zu Tage gefördert hatte. Eine Band, die Beavis und Butt-Head mit groß gemacht hatten. Er wechselte zu Joy Division, um nicht mehr an die beiden zu denken. An den einen. An ihn. Nicht Beavis. Bobby.
Bobby mit der Hexe als Mutter, die schon tot war, als er geboren wurde. Meine Güte, wer dachte sich so etwas aus?
Der Anfangsakkord von Love Will Tear Us Apart brach mittendrin ab, als hätte auch Bernard Summer den Gurt nicht zugemacht und jetzt war die Gitarre runtergefallen.
Die Wäsche. „Shit!“ Er hatte heute morgen unten im Keller eine Maschine vollgemacht und sie vergessen. Feuchte Wäsche, die zu lang in der Trommel lag, roch irgendwann muffig. Feuchte Wäsche, die zu lang in einer der Siemens-Maschinen im Keller blieb, die neu gewesen waren, als Radiohead OK Computer veröffentlicht hatten, roch, als hätte man sie in der Badewanne eingeweicht, und dann ist ein kleines bis mittelgroßes Tier, ein Frettchen zum Beispiel, in die Wanne gesprungen und darin ertrunken und dann hat alles ein paar Tage vor sich hingegärt.
Lennard holte den Wäschekorb aus dem Bad und blickte noch einmal durch den offenen Türspalt in Lottes Zimmer. Ihr Atem ging ruhig und regelmäßig. Er hörte eine Weile zu. Gute Musik.
Dann schlich er auf Socken aus der Wohnung und runter in den Keller.
Auf der Kellertreppe rutschte er aus. Die Hände klatschten auf kalten Stein, ein Stich schoss ihm in die rechte Schulter. Der Wäschekorb polterte die Stufen hinab bis vor die Tür zum Waschkeller.
Lennard verharrte einen Moment. Wartete, ob über ihm eine Wohnungstür geöffnet wurde. Aber nichts geschah. Er blieb noch kurz sitzen und rieb sich die Schulter. Der Schmerz ließ nach. Lennard nahm die letzten Stufen vorsichtig wie ein Seiltänzer, packte den Korb und öffnete die Tür.
Da tat es sich wieder vor ihm auf, das Labyrinth aus klammen Bettlaken und Bezügen, die über Leinen aus buntem Nylon hingen. Das Recht sich zu beschweren hatte er nicht, er hatte selbst zwei Garnituren hier unten hängen, seine Sommerbezüge aus blauem und rotem Stoff.
Er kämpfte sich durchs Labyrinth, als zöge er feuchte Vorhänge zur Seite, Vorhang nach Vorhang nach Vorhang. Schließlich erreichte er sein Ziel, öffnete die Maschine und leerte die Trommel in seinen Korb. Dabei summte er die Melodie von Smells like Teen Spirit und sang dann leise: „Die scheiß Laken … sind noch na-ass …“
Schritte kamen die Treppe herunter. Lennard fuhr zusammen. Anders als Martin Berger legte er Wert darauf, mit den Nachbarn auszukommen.
Auf der anderen Seite des Laken-Labyrinths ging die Kellertür auf und wieder zu.
„Sorry“, sagte Lennard. „Ich bin auf der Treppe ausgerutscht. Ist aber nichts passiert. War es sehr laut?“
Einen Moment lang dachte er, wer auch immer habe die Tür nur geöffnet und kurz in den Raum gesehen. Aber er hatte keine Schritte gehört, die die Treppe wieder raufgegangen waren. Stattdessen das leise Summen der Elektrik des Hauses. Und … ein Atmen. Das verschleimte Atmen eines verrotzten Kindes.
„Hallo?“ Lennard hatte einen schwarz-weißen Bettbezug mit Karomuster nur wenige Zentimeter vor dem Gesicht. Vielleicht war irgendwo weit dahinter … „Lotte?“
Er schob Laken beiseite, vier Stück, befand sich jetzt auf halbem Weg zwischen den Maschinen und der Kellertür. „Wer ist denn da?“ Er ging auf die Knie, um unter den Laken durchzusehen. Er sah nackte Beine, die Füße steckten in schwarzen Schuhen und weißen Socken. Wie bei …
All seine Muskeln erschlafften gleichzeitig.
„Lars?“ Wie hatte er davon Wind bekommen? Vielleicht hatte Lotte doch etwas erzählt und jetzt … „Lars, ich warne dich! Ich warte schon lange auf einen Grund …“
Das Ding auf der anderen Seite der Laken kicherte. „Ich bin nicht Lars.“ Die Stimme war hoch und kratzig. Lennard sah, wie ein paar Reihen vor ihm das erste Laken zur Seite geschoben wurde. Die Schuhe setzten sich in Bewegung. Lennard rutschte auf dem Hintern rückwärts in Richtung der Waschmaschinen.
Das Ding kicherte wieder, während es näherkam. Schließlich trennte nur noch ein Laken sie voneinander. Der Geruch von saurer Milch stieg Lennard in die Nase.
„Meine Mutter war schon tot, als ich geboren wurde“, sagte das Ding.
Von der anderen Seite krümmten sich Finger um das Laken. Die Glieder waren so lang wie ein Streichholz.
„Bleib da!“, sagte Lennard.
Der letzte Vorhang fiel. Diesmal wischte das Ding die Bettwäsche nicht zur Seite, sondern zog daran. Die Wäscheklammern fielen mit einem Plastikklimpern zu Boden. Das Ding hielt den Bezug noch kurz in der Hand, während es auf Lennard hinunter grinste. Dann ließ es den Stoff fallen. „Hey, Len-O“, sagte es.
Lennard schüttelte den Kopf. Er ballte die Fäuste. „Wo ist Lotte?“
Sofern das möglich war, grinste es noch ein bisschen breiter. „Seit wann interessiert dich das?“
Lennard versuchte, hochzukommen, aber das Ding trat ihm gegen die Brust und drückte ihn gegen die Maschine.
Lennard griff den Unterschenkel. „Wenn du ihr was tust …“
Das Grinsen des Dings erschlaffte kurz. „Was soll ich ihr tun, Asswipe?“ Es zog die Mundwinkel wieder hoch bis zu den Ohren. „Das Kind juckt mich noch weniger als dich, Len-O.“ Es drehte den Kopf zur Seite und spuckte aus. Dann sah es wieder zu ihm. „Es geht um dich, Butthole. Es geht nur um dich.“
Lennard fühlte das falsche Fleisch des Unterschenkels. Als hätte jemand Menschenhaut über eine Schaufensterpuppe gezogen. „Was willst du?“, fragte er.
Der Blick des Dings leerte sich und es wurde ernst. „Ich bin das Summen in der Nacht“, sagte es. „Das Flüstern auf dem Schulhof.“ Es blickte Lennard wieder an. „Ich bin die Angst unter dem Bett.“ Noch einmal spuckte es aus. „Ohne das bin ich nichts. Ohne das bin ich nicht.“
Lennard schlug gegen den Unterschenkel, der sich keinen Zentimeter bewegte.
„Ich bin Bobby“, sagte es.
„Nein.“ Lennard schüttelte den Kopf. „ Es gibt keinen Bobby.“
Bobbys Grinsen kehrte zurück und er zog etwas aus der Tasche seiner kurzen Hose, das Lennard zunächst für ein langes, dickes Haar hielt.
Judith lebte noch nicht lange im Haus, erst vor ein paar Wochen hatte das Studium begonnen. Jura. Eltern und Großeltern freute es, sie hatten nach der Adoleszenz nicht damit gerechnet. Etwas Anständiges war das tatsächlich, Rechtsanwältin. Ihr Vater empfahl Immobilienrecht, da steckte „mit das meiste Geld drin“, und Judith nickte dann. Tatsächlich hatte sie sich nach einer Reportage über „Anwälte ohne Grenzen“ für ihr Fach entschieden. Sie wollte Flüchtlinge vor der Abschiebung bewahren und mit ihnen gegen die Zustände in notdürftig zusammengenagelten Sammelstellen protestieren. Sie träumte auch davon, ein paar Monate im Jahr in Marseille zu leben, dann in Berlin und dann in Kinshasa, wie der Job es mit sich bringen konnte. Das war das Prestige, nach dem sie strebte: Kosmopolitanismus. Pfeif doch auf Immobilien.
Morgen hielt sie ein Referat über die möglichen Auswirkungen klimatischer Veränderungen auf die Verfassungen der westlichen Industrieländer. Bei dem Gedanken machte sie fast in die Hose. Es war ihr erstes Mal Sprechen vor Leuten nach der Schule, wo man alle gekannt hatte. Sie brauchte ihr Lieblings-T-Shirt, Pearl Jam, mit dem Ten-Motiv darauf. Das hatte sie auch beim Abi getragen und hier war sie, Noten-Durchschnitt 1,7.
Sie mochte alte Musik lieber als neue. Der Typ aus dem zweiten Stock war alt und er hatte Ahnung von Musik. Sie waren zum ersten Mal ins Gespräch gekommen hier unten im Waschkeller, sie im Ten, er hatte eine kurze Hose mit Soundgarden-Aufnäher getragen. Seine Kleine war stark. Einmal hatte sie am Hauseingang auf ihn gewartet, und Judith war nach Hause gekommen, in einer schwarzen Hose voller Löcher. Das Kind hatte die Hose angesehen und gefragt: „Bist du vor einem Hund weggelaufen oder so?“
Judith öffnete die Tür zum Waschkeller. Als erstes bemerkte sie den Klang. „Mist.“ Alle Maschinen liefen. Sie wohnte jetzt lang genug hier, um das zu erkennen. Vier Uhr morgens war es, sie war extra nach der Fakultätsparty bei den Sportlern noch hier runter, um ihr magisches Textil rechtzeitig gewaschen und getrocknet zu bekommen.
Nachdem die automatische Tür hinter ihr zugefallen war, bemerkte sie eine zweite Besonderheit. Wie immer roch der Waschkeller nach nasser, trockener und halbtrockener Wäsche, nach flüssigem und nach Pulverwaschmittel unterschiedlicher Preisklassen, und nach dem Muff eines Kellerraums in einem Haus, das Mitte der Siebziger gebaut worden war. Aber an diesem sehr, sehr frühen Sonntagmorgen hatte sich noch ein weiterer Geruch unter die Waschmittel-Moder-Melange gemischt. Ein metallisches Kitzeln in der Nase, als würde man an einer Fleischtheke vorbeigehen.
Judith stellte ihren Korb ab. Noch etwas war so ungewöhnlich, dass es ihr selbst nach drei Caipi auffiel: Jemand wusch seine Schuhe und nicht viel anderes, sodass die Sneaker oder Boots oder was auch immer stumpf in den sich drehenden Trommeln vor sich hin polterten: Bum. Bum-Bum-Bum. Bum-Bum. Bum.
Sie schob die Bettlaken zur Seite und näherte sich Reihe um Reihe den Maschinen. Eigentlich wollte sie sehen, ob es sich lohnte, hier unten zu warten und dabei ein bisschen auf dem Telefon zu spielen. Vielleicht sogar ihr Referat noch einmal durchgehen, sie hatte ihre Stichpunkte in Notes geschrieben. Das Warten könnte sich lohnen, wenn schon kaum noch Wasser in den Trommeln stand, dann waren die Waschgänge fast durch. Sie würde die Maschine öffnen, die fremde Wäsche in ihren Korb legen und hier unten stehen lassen. Das ging, dafür war die Stimmung unter den Mietern gut genug.
In der vorletzten Reihe blieb sie stehen und zog den Fuß zurück. Die Schuhspitze einer ihrer Vans hatte bereits den roten Rinnsal auf dem Boden berührt und zog nun eine schmierige Spur. Zuerst dachte sie an an einen Defekt in einer der Maschinen. Die waren alt. Möglicherweise war irgendwas durchgerostet oder durchgeschmort und jetzt lief eine Flüssigkeit aus, oder das Waschwasser …
Judith stellte den Wäschekorb ab. Als sie sich dafür bückte, konnte sie unter den hängenden Laken hindurchsehen. Auf der anderen Seite der Bettwäsche war noch viel mehr von der Flüssigkeit. Die Decke, vor der sie jetzt stand, war braun. Wie im Traum sah sie sich selbst dabei zu, wie sie sie zur Seite zog. Und ebenfalls wie im Traum wollte sie sich selbst zurufen, es nicht zu tun, einfach zu gehen, stellte aber fest, dass sie den Mund zwar öffnete, aus diesem aber kein Ton kam.
Hinter der braunen hing noch eine weiße Decke. Die rote Flüssigkeit war dagegen gespritzt. Sehr viel davon. Judiths Hand zitterte. Sie wollte nicht, aber ein unsichtbarerer Peiniger hielt sie am Handgelenk gepackt und zog ihren Arm nach vorn. Sie schob den letzten Schleier zur Seite.
Die Maschinen und der Fußboden davor waren so besudelt, als wäre das Blut aus Duschköpfen an der Decke auf sie hinabgeregnet. Jetzt erkannte sie den metallischen Geruch als das, was er war: Der Gestank von Blut.
Aber das Blut war nicht das Schlimmste. Vor den Maschinen lag der Körper eines Mannes. Judith erkannte ihn nicht am Gesicht, denn er hatte keinen Kopf. Die Arme waren weiß, das meiste der sechs Liter Blut im menschlichen Körper musste aus dem Hals gelaufen sein. Auf der Waschmaschine lag ein Stück blutiger Metallschnur, das die Polizei später als Gitarrensaite identifizierte.
Judith interessierte sich in diesem Moment nicht für den Tathergang. Sie sah nur den Soundgarden-Aufnäher auf der Hose. Sie machte einen Schritt zur Seite und rutschte aus. Das Blut sog sich in ihre Hose und verschmierte ihre Hände. Instinktiv wischte sie sie an ihrem Alice-in-Chains-T-Shirt ab. Wie es klebte!
Dann stoppte das Bum. Bum-Bum-Bum. Bum. Die Trommel der Waschmaschine hielt an. Sie war noch mitten im Waschgang, das Wasser war schaumig und rot und reichte bis zur Hälfte des Sichtfensters. Etwas patschte hinein und das rote Schaumwasser spritzte von der anderen Seite ans durchsichtige Plastik. Der Mund stand offen. Ein müdes, halb geschlossenes Auge glotzte Judith aus der Maschine heraus an. Die andere Gesichtshälfte lag im Wasser. Die Trommel nahm wieder Fahrt auf. Bum. Bum-Bum. Bum-Bum-Bum.
Noch einige Male öffnete Judith den Mund ohne jeden Laut, nur gekeuchtes Atmen brachte sie hervor. Dann fand sie ihre Stimme wieder und schrie.
***
Nach der Beerdigung saßen sie auf dem Sofa, Lars und Nina, in der Mitte Lotte. Sie waren gerade erst wieder rein und hatten noch ihre schwarzen Sachen an. Lars strich Lotte über den Kopf. „Alles gut?“, fragte er.
Ohne ihn anzusehen, erwiderte Lotte: „Mein Papa ist tot, Lars.“
Der Sarkasmus stach Nina ins Herz, bis sie grinste. Es war, als bräuchten sie einen Exorzisten. Als wäre er in sie gefahren.
Lars räusperte sich. „Tut mir leid.“
Hinter Lottes Rücken legte Nina ihm die Hand auf die Schulter. Als er sie ansah, lächelte sie und schüttele leicht den Kopf.
„Ich hab Hunger“, sagte Lotte.
„Sollen wir was holen?“, fragte Nina.
Lotte schüttelte den Kopf. „Ich will Spaghetti.“
Später lagen Lars und Nina auf dem Bett. Zwischen ihnen schnarchte leise Lotte.
„Glaubst du das wirklich, dass sie das war?“, flüsterte Nina.
„Was?“, fragte Lars.
„Die Studentin. Dass die sowas gemacht hat.“
Lars zuckte die Schultern. „Die Polizei hält’s für möglich.“
„Ich glaub das nicht.“
„In der Zeitung stand, sie hat eine Polizeiakte. Drogen, Gewalt. Wilde Jugend. Da soll mal was mit einem Messer gewesen sein. Mit fünfzehn soll sie sogar im Knast gesessen haben. Also, in so einem Knast für Fünfzehnjährige. Geschlossenes … Erziehungshaus, weiß ich nicht, wie das heißt. Vielleicht hatte sie was genommen.“
„Aber deshalb macht sie doch nicht … um Gottes Willen, Lars, ich weiß nicht, wie ich da jemals mit klarkommen soll. Und kannst du mir sagen, wie sie da jemals mit klarkommen soll?“ Sie strich Lotte so vorsichtig übers Haar, dass sie es kaum berührte. „Das wird bei ihr bleiben. Für immer.“
„Sie hat es ja nicht gesehen.“
„Es ist Stadtgespräch, Lars. Es ist egal, was sie gesehen hat, sie hat das im Kopf, hundertprozentig. Sogar in der BILD war es. Die anderen Kinder in der Schule … Kinder können entsetzlich sein.“
Darum hatte Lars eigentlich nie welche haben wollen. Darum und weil sie ein Schweinegeld kosteten. Aber wenn er in Nina steckte und die Muskeln ihrer Vagina ihn auspressten wie eine Faust eine Tube Mayonnaise, dann dachte er an seine Oma: Vor den Erfolg hat der liebe Gott den Schweiß gestellt. In diesem Fall hieß das, sich um ein Kind kümmern, das ein Typ in die Welt gesetzt hatte, der für alle ersichtlich nicht in der Lage war, sich um sich selbst zu kümmern.
Lars wischte sich durchs Gesicht. Scham prickelte in seinen Wangen. Liebe Güte ja, Lennard war eine verkrachte Existenz gewesen, aber sie hatten ihn heute unter die Erde gebracht, wahrscheinlich mit einer dicken Narbe um den Hals, wo der Bestatter den Kopf wieder angenäht hatte. Er sollte nicht über ihn denken, wie er über ihn dachte.
„Willst du schlafen?“, fragte er.
„Weiß ich nicht“, sagte Nina.
„Ich kann noch nicht, ich mache mir im Wohnzimmer was an.“
Nina schüttelte den Kopf. „Ich bin platt.“
Er beugte sich über das schlafende Kind zwischen ihnen und küsste es auf die Wange.
Lars nahm die Reste der Nudeln aus dem Kühlschrank. Es war eine große Schüssel voll. Sie hatten nur kurz angefangen zu essen und dann gemeinsam beschlossen, dass sie eigentlich keinen Hunger hatten. Lotte hatte darauf bestanden, es so zu machen, wie sie es immer mit ihrem Vater gemacht hatte. Aber sie hatten kein Oregano im Haus gehabt. Da hatte Lotte angefangen zu schluchzen. Ohne Oregano, hatte sie immer wieder gesagt. „Wie soll das denn gehen?“
Lars’ fehlender Appetit war ein Akt der Solidarität mit Frau und Kind gewesen. Um nicht zu sagen, eine Lüge. Er saß jetzt hier mit der Schüssel auf dem Schoß, um nicht mit knurrendem Magen wachzuliegen. Wer hätte etwas davon? Es würde nicht ungeschehen machen, was Lennard passiert war.
Er aß die Spaghetti kalt, damit die Glocke der Mikrowelle nicht oben zu hören war. Kalt hatte es etwas von Nudelsalat. Oregano vermisste er nicht.
Scheiße, Lennard. Die irre Nachbarin hatte seinen Kopf in die Waschmaschine gestopft. Immer wenn sie Lotte brachten, hatte Lars das Gefühl gehabt, das Haus ziehe einen gewissen Menschenschlag an. Leute, die selten vor zehn Uhr aufstanden. Aber doch nicht …
Bis hierher hatte er den Fernseher nur laufen lassen, ohne wirklich hinzusehen. Als er ins Wohnzimmer gekommen war, hatte sich noch jemand eine missglückte Tätowierung von einem Hai auf dem Rücken entfernen lassen. Es musste wohl sein, denn der Raubfisch sah aus wie ein Ei mit Parodontose. Danach ging es um Autos, wie man sie lauter machte, wie man sie schneller machte, wie man sie bunter machte. Drei schwarze Männer in einer Werkstatt erklärten das auf Englisch mit Untertiteln, dazu lief Rap-Musik.
Jetzt plötzlich erklang eine bekannte Melodie, unterlegt von juvenilem Gekicher. Dann wechselten sich Zeichentrickbilder und Szenen aus Heavy-Metal-Musikvideos ab. Ein unsichtbarer Kommentator kündigte den Beavis-und-Butt-Head-Retro-Marathon am kommenden Wochenende an.
Lars lächelte. Auch wenn er die Musik nicht gemocht hatte, die Sendung hatte ihm gefallen in seiner Jugend. Er nahm sein Handy zur Hand und machte sich eine Notiz in den Kalender. Sollte er dazu kommen, würde er mal reinsehen. Natürlich bestand die Gefahr, dass der Humor nicht mehr zündete. Aber das Risiko war es wert. Zuletzt hatte es nicht so viel zu lachen gegeben. Es war ein langer Tag gewesen. Ein harter Tag. Ein langer, harter Beerdigungstag. Lars schlief ein.
Das Summen des Handys in seiner Hand weckte ihn. Wie ein leichter elektrischer Schlag fühlte sich das an. Lars öffnete die Augen und blickte umher. Kurz musste er überlegen. Ach ja. Das Wohnzimmer.
Im Fernsehen waren jetzt Kletterer zu sehen. Ungesichert an der Steilwand empor. Zwei Teufelskerle. Und eine Frau.
„Bescheuert“, flüsterte Lars. Er sah aufs Handy. Das Display war schon wieder dunkel. Vielleicht war es eine Push-Nachricht von Auto, Motor & Sport gewesen. Die machten das manchmal, zu den unmöglichsten Zeiten, was auch immer die werbestrategische Überlegung dahinter sein mochte.
Lars tippte einmal aufs Display. Es war kurz nach drei. Er hatte eine WhatsApp-Nachricht erhalten. Den Anfang des ersten Satzes konnte er lesen: hallo du ich Bin …
Ein Foto war auch dabei. In Verbindung mit der Rechtschreibung musste es sich um eine Nachricht von Jolanda handeln, neunzehn Jahre alt, unheimlich feucht und geil, die dringend Nummer und Pin seiner Kreditkarte wissen musste. Aber vielleicht war ja das Bild ganz brauchbar.
Er tippte auf die Nachricht und gab seinen Code ein. Sein Mund öffnete sich nicht einfach. Es war, als fiele sein Kinn auf die Brust. Ein Laut entfuhr ihm, irgendwo zwischen Erbrechen und Aufheulen. Die Temperatur seines Blutes schien um zehn Grad zu sinken. Er konnte die Nachricht lesen. Das Handy in seiner Hand zitterte.
Das Bild zeigte Lennard. Lennard jetzt. Die Haut wächsern gelb, die Augen blass und leer, der Mund einen Schlitz weit geöffnet und zur Andeutung des leichtesten Lächelns verzogen. Er trug den Anzug, in dem sie ihn beerdigt hatten, aber die Krawatte hing lose und die obersten Knöpfe des Hemdes waren offen wie später am Abend bei einer Hochzeitsfeier. Um seinen Hals verlief die dicke Narbe wie Schmuck. Unter dem Bild stand:
hallo du ich Bin Len-O ich war ganz krank Im kopf da hat meine Freundin ihn abgeschnitten sie ist in der Hölle. ** du hast drei tage schick mich an drei deiner freunde mach es abends bevor, du schlafen gehst Wenn du es nicht machst wachst du bald nachts auf und ich Steher neben dein Bett !!!