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- Anmerkungen zum Text
‚Trafikant’ ist der Inhaber einer Trafik. Steht so auch bei Google.
Blick vom Balkon
Das ist ein Supergefühl, hier in der ersten Etage. Alles barrierefrei, die hohen Fenster lassen Licht in die Räume.
Im Erdgeschoss fand ich es bedrückend. Wuchtige Pfeiler und Gewölbe pressten mich in mein Gefährt, ich nahm alles aus der Froschperspektive wahr.
Ja, ich bin kleiner geworden. Alle sehen auf mich herab. Stehen sie neben mir, muss ich den Kopf zurücklehnen, um sie anschauen zu können. Das schmerzt, doch ich will ihren Blick erwidern – allerdings mit dem merkwürdigen Gefühl eines Bittstellers auf Knien.
Hier oben fühle ich mich frei. Bin mit den Bäumen auf Augenhöhe, und was noch schöner ist: Wenn ich auf den Balkon rolle, bin ich es, der auf die anderen hinabschaut.
Fremde Menschen im steten Wechsel. Wegen der Tabletten dämmere ich oft weg, dann stelle ich mir vor, wie sie alle zu mir emporschauen und mich bemitleiden. Das berührt mich, ich winke ihnen zu, werde wach dabei, ich winke tatsächlich! und sehe, dass einige zurückwinken. Ich bekomme feuchte Augen.
Das erlebe ich zum ersten Mal. Nein, ich will ihre Freundlichkeit nicht als Mitgefühl auslegen, sie wissen ja nicht, wie es um mich steht – und ich schäme mich auch ein bisschen.
Weil ich nicht zu denjenigen gehörte, die zurückwinken. Ist nicht meine Art, warum sollte ich? Der junge Mann auf dem Balkon ist mir unbekannt, würde ich denken, und als neuer Kunde kommt er wohl nicht in Frage.
Ich will das elterliche Geschäft erhalten. Eine Traditionsfirma mit einigen Filialen – in ihrer Glanzzeit.
Jetzt, in der vierten Generation, glänzt nichts mehr. Alles hat sich verändert, nur die Firma nicht. Meine Eltern haben resigniert, mein Bruder trampt durch die Welt – also muss ich die Firma retten, es zumindest versuchen. Deswegen hatte ich Monica einen Heiratsantrag gemacht.
Ich kenne sie von der Tanzstunde – ja, ich hab tatsächlich tanzen gelernt! 'Und wozu?', fragt ein Teufel in mir, aber ich hau ihm aufs Maul. Jedenfalls kann sie mit Menschen und Zahlen gut umgehen. Auch mit mir: Lächelt, sagt und findet immer das Passende, gestattet Zärtlichkeiten und sitzt im nächsten Moment wieder an den Bilanzen.
So sinniere ich vor mich hin. Ich heirate eine Frau, die rechnen kann, und rette das Geschäft meiner Eltern. Geschäftssinn statt Liebe – ein Wahnsinn. Aber was rede ich? Fairerweise sollte ich vorschlagen, unsere geplante Ehe zu annullieren; ich kann nicht erwarten, dass sie mit einem behinderten Ehemann den Rest ihres Lebens verbringt. Und ehrlich gesagt, mein Herz würde nicht zerbrechen – es wäre nur schade um die Firma.
Oder sollte ich eiskalt kalkulieren: Ich habe eine Krankenschwester, sie wird Chefin?
Gleichzeitig kommen Schwester Helena und meine Verlobte ins Zimmer: „Herr Moritz, Sie haben Besuch!“ und „Hey, Liebling! Alles gut?“
„Schon, schon“, sage ich. „Du siehst ja, ich habe, was ich brauche.“ Nur das sage ich.
Sie erzählt von neuen Lieferanten, Stundungen, Personalproblemen. Was Monica vorschlägt, hat sie schon entschieden. Wir unterhalten uns über Geschäftliches, wie sonst - vor dem Unfall - beim Mittagessen. Oder beim Abendessen.
Bin wieder auf dem Balkon. Mit der Zeit erkenne ich im Gewusel unter mir eine Ordnung, ein System. Denen, die täglich ein- oder mehrmals auftauchen, beginne ich Namen zu geben. Das ist gut gegen schwarze Gedanken.
Manches Mal muss ich den Namen ändern. Das passiert immer, wenn ich mich länger mit jemandem beschäftige, mir Gedanken mache über seine Familie, Beruf, und Leidenschaften – wenn ich ihm welche zutraue. Bin erstaunt, wie treffend ein Name sein kann, als ob er einen Menschen beschriebe, beinahe ein Portrait.
Bin schon dabei, Querverbindungen zu erdenken, ein ganzes Netzwerk, wie ein Romancier, der seine Figuren miteinander verknüpft.
Schicksale denke ich mir aus, entdecke dabei meine Neigung zum Tragischen – oder hat das mit meiner Situation zu tun?
Die versuche ich immer wieder auszublenden, sie scheint mir oft abstrakt, als ob es jemand anderem zugestoßen wäre. Doch das gelingt nur für kurze Zeit.
Vierundzwanzig Stunden am Tag hab ich geschrien: „Warum ich?“, immer wieder „Warum gerade ich?“ Keine Antwort. Und der liebe Gott? Weit weg, sehr weit weg.
Mein Unglück zwingt mich zu einem anderen Leben. Nicht zu glauben, mit welcher Wucht das geschieht, wie brutal das geht!
Ich verzichte darauf, durch die Stadt zu rollen. Es wäre mir egal, wie man mich anschaute, doch habe ich ein diffuses Gefühl, nicht dazuzugehören, eher als Hindernis empfunden zu werden.
Nach dem Essen kommt Martin, der Psychologe; jede Woche einmal, fünfundvierzig Minuten.
Wir sind recht unterschiedlich, doch wer uns zuhören würde, hielte uns für Freunde. Er hat eine besondere Art, mit mir zu sprechen. Oder auch mit den anderen, vielleicht nur während der Dienstzeit, das kann ich nicht beurteilen.
Meistens versuche ich mir vorzustellen, wie er ohne diesen wirklich attraktiven Vollbart aussehen würde. Nein, nicht langweilig, das meine ich nicht. Er würde auch rasiert bei den Frauen gut ankommen. Sie könnten ihn mit seinem Nasenring ans Bett fesseln. Aber das fiel mir nur wegen seiner Kettentattoos ein. Komisches Gefühl, dass ich von ihm gar nichts weiß, er von mir jedoch so einiges.
Jedenfalls finde ich gut, dass er mit Ideen kommt, die mir später helfen könnten. Aber manchmal spinnt er, heute zum Beispiel: Bringt mir Bilder mit von den Paralympics und versucht, mir Hoffnung zu machen, dass das Leben weitergehe, beinahe ohne Abstriche. Ich weiß, dass er jeden Freitag ins ‚Ben Galy’ geht, die heißeste Disco aller Zeiten. Und mir empfiehlt er die Paralympics! Okay, ich war gut in meiner Disziplin, aber ich lasse mich nicht vorführen. Früher hatten sie die Dame ohne Unterleib auf den Jahrmärkten, jetzt geilen sie sich an Krüppeln auf. Einer ohne Beine ist mal auf Stahlfedern gerannt, hat das aber psychisch nicht verkraftet.
Genau hier fällt mir Jochen ein, Trafikant aus Linz. Einen Buckel hat der, ist so alt wie ich, macht sich aber nicht klein und unscheinbar, sondern lässt dieses Ding tätowieren und zeigt’s überall im Freibad herum. In der Umkleide weint er. Vielleicht, weil die Mädchen schreiend davongerannt sind.
Der Unfall hat mich verändert.
Was kümmerten mich andere Leute? Nichts, gar nichts. Als Fußgänger eine stupide Masse, als Autofahrer Idioten. Zu blöde, in der Spur zu bleiben. Und weil sie überholen müssen, auf Teufel komm raus, versauen sie anderen das Leben. Wegen ein paar Sekunden. Es kann doch nicht sein, dass irgendjemand mich zum Krüppel macht – es ist doch kein Krieg! Aber wartet! Ich werde mit einem Panzer durch den Verkehr walzen und alle kräftig aufmischen, diese ... Oh merde, das ist alles so sinnlos.
Ich machte Pläne, wie ich dieses Schwein vernichte, hatte mir vieles ausgedacht, was ihm sehr weh tun würde – auch wenn das keinen Deut an meiner Lage verbesserte. Mir egal, dann gibt’s eben noch mehr Elend auf der Welt; und er wüsste, wie das ist, statt Beine Räder zu haben, eine halbe Stunde zum Ankleiden, dieser Wahnsinn im Bad, wenn sich ganz einfache Sachen nur noch sehr umständlich erledigen lassen. Und wenn Pläne explodieren in der Wolke aus Lacksplittern, Metallteilen und Rauch. Das Feuer kommt näher, tödliche Hitze. Die Sirenen gellen und kreischen, steigern die Panik, heulen immer weiter und nützen nichts, gar nichts. Sind nur Alibi für die Ohnmächtigen in den orangefarbenen Overalls. Es ist passiert.
Das grelle Blau und Rot lassen sie weiter zucken, als ob sie alles rückgängig machen könnten.
Sie sollten dieses hektische Licht ausschalten. Es ist passiert.
Windstill. Milde Luft umlagert mich, zart und einfühlsam, Wechselspiel Sommer - Herbst. Wie schön das ist, das Fallen der Blätter – ein feiner Stummfilm in Farbe. Wehmut kommt auf, der Winter lauert. Fahles Weiß bricht durchs Geäst. Jetzt zu sterben wäre mir gerade recht, in diesen hohen, stillen Räumen. Eine wundervolle Injektion, ein Pavillon am See, mit Schwänen. Oder mit Flamingos. Deren Rosa empfinde ich noch trauriger als Weiß. Ich hätte Flügel, würde die Beine nicht vermissen.
„Stückchen Rührkuchen, Herr Moritz? Und Kaffee?“, fragt Schwester Helena.
„Ach nee, besten Dank. Werd’ ja immer fetter, nur `n schwarzen Kaffee, bitte.“
„Dann bist du Jens, Jens Moritz?“
Timbre! Ja, Timbre hinter mir. Was für eine Stimme! Ich reiße den Kopf herum und schrei vor Schmerz.
„Langsam, mein Lieber.“ Ich nehme ihre ausgestreckte Hand und sie sagt: „Thea, deine neue Therapeutin. Wir werden uns jetzt öfter sehen. Die Prothesen sind fertig und wir können die ersten Übungen machen. 15 Uhr würde ich vorschlagen, ich hol dich ab.“ Was, wie? Ich verstehe nichts. Sie steht vor mir und ich gucke und gucke. Wo gibt’s denn Kupferhaar? Wie einen Hahnenkamm hat sie’s zusammengesteckt, tolles Gesicht, tolle Augen. Mir bleibt der Mund offen.
„Äh, ja. Klar. 15 Uhr, geht in Ordnung.“ In Zeiten ohne Rollstuhl hätte ich gesagt ‚Ich muss mich erst mal setzen!’ Es macht gewaltig ‚bling!’.
Thea schießt wie eine Flipperkugel in mein Inneres, ohne Orientierung, berührt viele empfindliche Stellen: Resignation, Verrücktwerden, Hoffen – ich ziehe mit ihr ins ‚Ben Galy’ und wir tanzen wie die Weltmeister.