- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Bleib stehn
Mühsam kämpfte sich Maria an den schwitzenden Leibern in der Konzerthalle vorbei, um wieder an ihren Platz in den hinteren Reihen zu gelangen. Die Musik war laut, die Stimmung gut und ein leichter Schwipps ließ eine wohlige Wärme durch ihren Körper strömen.
Lange hatte sich Maria auf das Konzert gefreut. Knorkator – das war jedes Mal ein besonderer Abend, ein besonderes Konzert. Nur mit Mühe hatte sie ihre Freundin Anna zum Mitkommen überreden können, denn diese fand, mit fast 40 Jahren seien sie für solche Hottentottenmusik schon zu alt. Doch auch sie stand nun headbangend in der Masse und hatte jede Menge Spaß.
Maria gesellte sich wieder zu Anna. Die ersten Töne eines neuen Liedes drangen in sie ein. „Erleuchtung, Verdammnis, am Boden – reglos und schwer…“ Die Musik brachte jeden Muskel, jede Zelle in Maria zum Schwingen. Es war, als würde ihr Körper auf den Tönen schweben.
„Bleib stehn, du kannst nicht entkommen…“ Maria und Anna sangen begeistert mit. Sie schloss die Augen und gab sich ganz der Musik hin.
Mit einemmal stellten sich Maria die Nackenhaare auf. Irgendjemand hatte sie so leicht an den Haaren berührt, wie es bei Konzerten kaum passiert. Sie schüttelte sich kurz und dann drang ein bedrohliches Flüstern dicht an ihr Ohr: „Bleib stehn, du kannst nicht entkommen…“ Maria riss die Augen auf und wirbelte herum – aber da war niemand, der auch nur ansatzweise auffällig gewesen wäre. Alle Männer um sie herum sangen voller Begeisterung mit, den Blick auf die Bühne gerichtet. Vielleicht hatte sie sich das Ganze nur eingebildet. Möglich war es. Sie konnte nicht behaupten, noch völlig nüchtern zu sein.
Doch egal, wie sehr sie sich anstrengte, die vorherige Stimmung ließ sich nicht mehr herbeirufen. Ihr ganzer Körper befand sich in einer Alarmbereitschaft, wie sie es noch nie erlebt hatte. Um sich ein wenig zu entspannen, drängte Maria zur Bar und bestellte sich einen Wein, den sie innerhalb weniger Minuten leerte.
„Gib auf und lass es geschehn…“ Da war es wieder dieses bösartige höhnische Flüstern. Doch als Maria sich umdrehte, war wieder niemand Auffälliges zu sehen.
„Was ist denn los mit dir?“, fragte Anna, die ihr an die Bar gefolgt war.
„Ach, ich weiß auch nicht. Ist egal. Nicht so wichtig. Komm, lass uns das Konzert genießen.“
Irgendwie gelang es Maria dann doch, sich wieder von der Musik einfangen zu lassen. Sie sang mit und genoss den Rest des Konzertes, wenn auch mit einem mulmigen Gefühl im Hintergrund.
Plappernd und aufgeregt wie Teenies verließen die beiden Frauen am Ende des Konzertes die Halle. „Wenn wir rennen, schaffen wir die Straßenbahn und müssen nicht bis Babelsberg laufen“, sagte Anna. „Ach, ist doch egal, die Luft ist gut und zum Runterkommen ist es doch ganz schön, wenn wir noch ein Stück laufen“, erwiderte Maria.
Sie überquerten die Humboldtbrücke und redeten über den Abend. Ihnen fiel nicht auf, wie wenige Menschen mit ihnen den Weg teilten.
Plötzlich gab es einen Knall und Anna sackte neben Maria zusammen. Hinter Maria stand ein Mann und grinste ihr frech ins Gesicht. „Hast du sie nicht mehr alle?“, schrie Maria ihn an. Da fiel ihr das Messer in seiner Hand auf. Maria stockte der Atem, als ihr bewusst wurde, dass der Typ summte. Sie kannte das Lied nur zu genau und ihr lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Stolpernd bewegte sich Maria rückwärts und stotterte: „Was soll das hier werden?“
Statt einer Antwort hörte sie „Bleib steh, du kannst nicht entkommen, gib auf und lass es geschehn. Genieß die letzte Sekunde…“ Mit jedem Ton war ihr der Mann näher gekommen.
Scheiße, scheiße, scheiße, ging es Maria durch den Kopf. Wie komme ich hier heil raus? Der hat sie doch nicht alle… Hastig ging sie ihre Möglichkeiten durch. Wegrennen war eine Option. Womöglich war der Typ nicht so fit, wie er dachte. Oder aber sie versuchte ihn zuzuquatschen, irgendwas auszuhandeln. Sie hatte ja schließlich keine Ahnung, was genau er wollte.
„Verdammt, was willst du?“, stotterte sie.“Kohle hab ich kaum noch.“ Doch dieser dämliche Typ gab ihr einfach keine Antwort, sondern grinste sie nur weiter blöd an und summte vor sich hin. Maria bewegte sich Schritt für Schritt rückwärts und er folgte ihr gemächlich. Sie bemerkte den Glanz freudiger Erregung in seinen Augen. Wenn sie nur schnell genug wäre und die Häuserfront erreichen würde, dann könnte sie irgendwo klingeln und ihr würde hoffentlich jemand öffnen. Dann wäre der Spuk vorbei.
Blitzschnell drehte sie sich um und rannte los. Sie hörte ihn hinter sich. Ihr Herz schlug so schnell, dass es sie zu zerreißen schien. „Bleib stehn, du kannst nicht entkommen. Gib auf und lass es geschehn…“ Maria hörte seinen Atem neben sich. Dann riss er an ihrem Arm und warf sie auf den Boden. Sie wollte schreien, doch er steckte ihr ein Tuch in den Mund, so dass sie würgen musste. Tief durchatmen, sagte sie sich. Wenn du ruhig bleibst, hast du vielleicht eine Chance. Wieder dieses genüssliche Summen des Songs. Das Messer blitzte vor ihren Augen beleuchtet durch das Licht der entfernten Straßenlaterne. Er zog sie hoch, legte den Arm um sie und führte Maria in einen kleinen Park. Vorbeifahrende Autos würden sie als Liebespaar wahrnehmen, ging es ihr durch den Kopf. Wieder und wieder ging sie Fluchtmöglichkeiten durch, doch sie spürte, welche Kraft dieser Mann hatte. Sein fester Griff ließ ihr keinen Freiraum. Nicht einmal den Schritt zu verlangsamen vermochte sie. Und immer wieder dieses Lied, dieses Summen. Es fraß sich in ihr Gehirn.
Im Park schubste er Maria wieder auf den Boden. Er hockte sich neben sie. Sein Atem roch säuerlich und nach Bier. Maria spürte das kalte Metall des Messers auf ihrer Wange, fühlte, wie er den Druck verstärkte und den brennenden Schmerz des Schnittes. Mit einer Mischung aus Angst und Ekel blickte sie ihm direkt in die Augen und sah nur Kälte.
„Du kannst jetzt weglaufen. Aber ich werde dich jagen und ich werde dich kriegen. Ich geb dir die Illusion einer Chance. Lauf! Jetzt!“
Maria richtete sich so schnell es ging auf und rannte los. Wieder sang er, diesmal lauter. „Bleib stehn, du kannst nicht entkommen. Gib auf und lass es geschehn. Erleb die letzte Sekunde. Bleib stehn!“ Dann folgte ein höhnisches Lachen.
Als Maria ein Stück gerann war und sich umblickte, konnte sie ihn nicht sehen. Obwohl sich ihre Augen an das Dunkel des Parks gewöhnt hatten, war sie nicht sicher, ob er nicht doch hinter ihr war. In welche Richtung sollte sie weiterrennen? Sie kannte sich in Potsdam doch nicht aus. Plötzlich stand er vor ihr. Er stellte ihr ein Bein, als sie versuchte, an ihm vorbeizurennen.
„… du kannst nicht entkommen… Gib auf… und lass es geschehn…“ Die Worte sprangen in Marias Kopf hin und her. Doch ihr Peiniger sang nicht, er summte nur. Von ihm ging eine dermaßen überwältigende Macht und Bedrohung aus, wie sie es noch nie erlebt hatte. Maria spürte, nein, wusste, dass es vorbei war. Das war es also – ihr Leben. Aus und vorbei. Alle Kraft, sich zu wehren wich aus ihr.
Der Mann drehte sie in aller Ruhe auf den Rücken und setzte sich auf sie. Er lächelte, glücklich, zufrieden, beugte sich dicht an Marias Ohr. Ihr fielen seine blendend weißen, gut gepflegten Zähne auf, ein Perlweißgebiss. Wie kann man in so einem Moment nur an so einen Scheiß denken, schoss es ihr durch den Kopf. Er flüsterte: „Erleb die letzte Sekunde!“, und hielt das Messer an ihren Hals.
Eine innere Ruhe überkam Maria. Die Zeit schien stillzustehen. Langsam schloss Maria ihre Augen, wollte es nur noch hinter sich bringen. Es war vorbei. Kein Ausweg, keine letzte Hoffnung, keine Hintertür, kein Erwachen aus dem Albtraum – einfach nur aus und vorbei. Sie war müde.
„Komm, sei ein braves Mädchen und öffne die Augen. Ich will sehen, wie das Leben aus ihnen entweicht. Lass uns deine letzte Sekunde gemeinsam erleben.“
Trotzig öffnete Maria die Augen und sah ihrem Mörder stolz in die Augen. Der Stolz in ihren Augen, wo er vermutlich Angst erwartet hatte, verwirrte ihn erst und machte ihn dann wütend. Mit einem gewaltigen Hieb durchschnitt er ihre Kehle. Maria spürte den Schmerz nur kurz und merkte, wie die Dunkelheit langsam von ihr Besitz ergriff.
Robert war enttäuscht. Es war diesmal anders gewesen. Zuerst hatte es Spaß gemacht – wie immer. Aber diese blöde kleine Schlampe hatte nicht genug Angst gehabt. Für das nächste Mal musste er sich etwas anderes überlegen und die Frau seiner Wahl genauer aussuchen, vorher besser beobachten.
Egal, es würde ein nächstes Mal geben und das stimmte ihn fröhlich. Schon in der nächsten Woche könnte er in Hannover und Hamburg alles besser machen, besser genießen, wieder seinen Spaß haben, mehr Spaß haben.
Er pfiff vor sich her, stieß das Messer in die Erde, um es so zu reinigen. Als er „Bleib stehn“ das erste Mal in Bad Salzungen gehört hatte, hatte er gewusst, dass das sein Lied war, seine Hymne und die Konzerte, auf denen er das Lied hörte, steigerten den Reiz des Spiels ungemein.
Mit Leichtigkeit setzte er sein Opfer so an einen Baum, dass man sie nicht gleich vom Weg aus sah und man, selbst wenn man sie von Weitem erblickte, nicht gleich auf ein Verbrechen schließen konnte. Dann gab er ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte: „Danke!“
Summend schlenderte Robert in Richtung Waschhaus, wo er sein Auto geparkt hatte, und schmiedete voller Vorfreude Pläne für seine Reise nach Hannover und Hamburg in der nächsten Woche.