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Blaue Guramis
Grundgütige Augen hat er, als wolle er mir etwas nachsehen. Und Tränensäcke. Die gewölbten Brillengläser verstärken den milden, verständnisvollen Ausdruck seiner Augen. Nur will ich keine Beichte ablegen, ich brauche Fischfutter.
Der Laden floriert, jetzt kommt er auf mich zu:
„Oh, es tut mir leid, dass Sie warten mussten – aber nun bin ich ja für Sie da. Wie kann ich helfen?“
Auf fünfzig, sechzig Jahre schätze ich ihn. Er hat lichtes Haar und ein fliehendes Kinn. Das fällt in zahlreichen Falten bis zum ersten Hemdknopf, unter dem sanft die Wölbung seines stattlichen Bauches beginnt.
Auf Anhieb gefällt er mir, genau so stelle ich mir eine Vertrauensperson vor. Er ist so groß wie ich. Das ist, als ob wir im gleichen Verein wären.
Kleine Leute mag ich nicht.
Mit deren Stimme fängt es schon an. Damit sie nicht übersehen werden, erhöhen sie die Lautstärke. Sie quengeln und sind rechthaberisch. Als ob sie es uns, den Großen, zeigen wollten.
Wir sind da ganz anders, eher gemütlich, großzügig. Leben und leben lassen.
„Ehm“, räuspert sich der sympathische Herr und nestelt an seiner Strickjacke, „vielleicht wollen Sie sich erst einmal gründlich umschauen?“
Gott noch, bin ich unkonzentriert. „Ach“, sage ich, „war mit meinen Gedanken grad ganz woanders, Entschuldigung. Nein, nein, ich brauch nur bisschen Fischfutter für meinen Neffen“.
Mit ernstem Gesicht schaut mich der Verkäufer an: „Wirklich?“
Wie ich meinen Patzer bemerke, gefällt mir der Humor dieses Mannes.
„Aber natürlich nicht“, erwidere ich, und um auf gleichem Level zu bleiben: „Ich glaube nicht, dass er davon nascht.“ Mir fällt ein, dass Heiko Veganer ist – und getrocknete Wasserflöhe sind ja auch Tiere. So sage ich nur: „Nein, für seine Fische, meinte ich.“
Er verzieht keine Miene und bleibt beim Thema: „Und was hat er für Fische?“
„Was für Fische? Nun, Blaue Guramis hat er – nur Blaue Guramis. Das ist vielleicht ungewöhnlich, aber er hat’s mit Style und Design und so’m Zeugs. Alles Bunte ist ihm ein Greuel. Non Colour, sagt er immer, das wär’ das einzig Geschmackvolle.“
Der Verkäufer tippt sich mehrmals an die Nasenspitze: „Oder eben nur eine Farbe. Er hat ja Blaue Guramis, wie Sie sagen.“ Er betont das ‚Blaue’.
„Ja, freilich. Etwas Blau und sonst nichts – alles reduziert und sparsam“, bestätige ich und füge noch hinzu: „Ein mattes Weiß oder helles Grau vielleicht noch, aber auf keinen Fall bunt – stylisch eben.“ Ich weiß das von Heiko.
„Ei, da sind wir ja schnell auf den Punkt gekommen“, sagt der füllige Herr und will wissen, wie viel ich benötige.
„Na, so für ein paar Tage. Er ist gerade in Irland, da ist er ganz verrückt drauf. War schon paar Mal da, hat mir einen schönen Whiskey mitgebracht. Ganz mild ist der. Fabelhaft. Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel davon trinkt, den Alkohol merkt man gar nicht. Also hinterher schon. Aber in der Hauptsache geht es ihm um die Musik.“
Mein Verkäufer blickt nervös zu den wartenden Kunden, doch das will ich ihm noch erklären: „Da ist jetzt ein Festival, in ... in ... ah, jetzt, wo ich ihn bräucht’, fällt mir doch der Name nicht ein. Kune ..., Conne – ich komm einfach nicht drauf. Coonemarra, glaub’ ich, bin mir jedoch nicht sicher. Die haben aber auch Namen dort, meine Herren!“
„Irische Namen halt“, meint der Verkäufer, etwas kurz angebunden, wie mir scheint.
Ja, logisch. Doch um Namen geht es nicht so sehr – um die Musik geht es. Und Heiko ist bei dieser Musik hin und weg. Ich mag sie auch. Sie ist wunderschön, trifft Herz und Seele, macht die Augen nass, schreit nach Betäubung. Moll – schräge Töne, die beinahe wehtun, fast wie danebengegriffen, und dann die kraftvolle Vereinigung, von der sie alle träumen, zu der sie tanzen wie verrückt und der sie dann doch mit ihrem verdammten Stolz im Wege stehen.
„Jedenfalls muss ich auf seine Fische aufpassen“, sage ich.
„Ich denke, die werden schon keinen Blödsinn anstellen.“
„Ach nein, ich will sagen, dass ich sie füttern muss.“
„Und darf ich fragen, um wie viele Blaue Guramis es sich handelt?“
Hier trifft er mich unvorbereitet. „Gute Frage! Lassen Sie mich einmal nachdenken.“
Das Ladenglöckchen schellt zum wiederholten Male, mein Verkäufer tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Ich muss mich beeilen: „ Tja, wie viele könnten es wohl sein? Sagen wir, es sind zwölf. Ja, ein Dutzend – das kommt wohl so ungefähr hin.“
„Zwölf. Gut.“ Jetzt macht er auf Tempo. „Ein Päckchen reicht für fünf Fische und eine Woche. Wie viele Päckchen möchten sie?“
„Wie viele?“, wiederhole ich und gerate ins Schwimmen. „Ach, bedienen Sie nur erst die anderen Kunden, ich muss mir das mal fix ausrechnen. Es sind voraussichtlich acht oder neun Tage, bis er wieder zurück ist, und es sind wohl eher zehn als zwölf Blaue Guramis.“ Schließlich muss ich das Futter aus meiner Tasche bezahlen.
Als der letzte Kunde gegangen ist, wende ich mich wieder an den freundlichen Herrn. Der hat mein Vertrauen. „Ach, seien Sie so gut und helfen Sie mir mal. Mit meinen Guramis komm’ ich nicht so richtig klar. Es sind zehn, ungefähr, so haargenau kann ich das natürlich nicht sagen, und sie bekommen einmal täglich ihr Futter. So zur Mittagszeit.“
Mir ist das fast peinlich, deshalb mache ich noch einen kleinen Scherz: „Wasser haben sie ja genug.“
Der Freundliche schaut mich über den Brillenrand an und sagt: „ Hab ich das richtig verstanden: für acht oder neun Tage?“
„Acht, möglicherweise auch neun Tage, ja, so hat er gesagt, glaube ich. Der ist ja jetzt in Irland, wegen der Musik.“
„Ja, ja, ich weiß. Sie sagten es schon. Für die Fische brauchen Sie drei Päckchen, bitte sehr. Macht fünf Euro vierzig.“
Ich glaube, das habe ich passend. Mit Hilfe des netten Herrn zähle ich die Münzen. Vier achtzig. Verdammt. Und jetzt? Wir überlegen beide – dann sagt er:
„Ich kann auch größeres Geld wechseln. Kein Problem.“ Und zeitgleich sage ich:
„Ach, ich hab ja glücklicherweise die Karte dabei. Die akzeptieren Sie doch, oder?“
„Ja, ja – gewiss, gewiss“, eifert der Verkäufer, weil wieder neue Kunden im Laden warten.
Ich reiche sie ihm: „Bitte sehr, hier ist sie.“
Er schiebt sie durch ein Kästchen und bittet mich, den Code einzugeben.
Den Code? Ach du lieber Gott. So schnell fällt der mir nicht ein. Ich hab den irgendwo aufgeschrieben. Acht sieben und zweimal die ... oder sieben acht und dann zweimal die ...? Ich verspüre ein Brennen oben im Kopf, an der Schädeldecke.
So blamiert habe ich mich selten. Ich werde mit einem Schein bezahlen.
Mein Bargeld trage ich an verschiedenen Stellen am Körper, damit Räubern im Falle eines Überfalls nicht das gesamte Geld in die Hände fällt.
Ich finde einen Zehner und bitte ihn, mir die Karte zurückzugeben.
Jetzt geht’s ans Fische füttern. Zuvor muss ich noch mal nach Hause. Ich habe vergessen, Heikos Schlüssel mitzunehmen.
Gespannt schließe ich seine zartblau lackierte Tür auf. Hui! Aufgeräumt hat er. Das ist neu. Seit ihn Monika – so hieß ... nein Veronika, egal, verlassen hat, ist er an Aufräumen nicht sehr interessiert. Aber aha – er wusste ja, dass ich komme.
Übrigens, die Vera oder Moni, wie auch immer, die war das Bild von einer Frau. Bunt angezogen wie ein Hippymädchen, bezaubernd und schön. Die hätte mir auch gefallen. Komisch, den Heiko hat sie nur ein einziges Mal besucht und weg war sie.
Vielleicht ein Autounfall, oder was beim Sport?
Ich kenne mich in seiner Wohnung aus und gehe, vorbei an der Bonsai-Galerie, rüber zum Wohnzimmer. In der Mitte das Prachtstück von einem Aquarium. Kristallklar. Scheiben und Wasser – alles piccobello. Leichtes Surren vernehme ich. Ja, die Technik. Alles vom Feinsten. So etwas hätte mir damals auch gefallen, aber nun ja, das waren andere Zeiten.
Ich hatte nur Guppys. Die kosteten beinahe nichts und vermehrten sich rapide. Allerdings war das Saubermachen nicht mein Ding. Aller Naslang grüne Scheiben, Algenschlieren, Schleim mit Bläschen, ziemlich unappetitlich. Der Kies musste gewaschen werden, na ja, eben alles unangenehme Sachen.
Ach, schon wieder ertappe ich mich, wie meine Gedanken abschweifen. Füttern wollte ich, hab doch das Päckchen schon in der Hand. Fehlt nur noch, dass ich vergesslich werde.
Wunderbar gleiten sie dahin, diese merkwürdigen blauen Fische. Oder scheint es nur so?
Ja, ich bilde mir das ein. Beim zweiten Hinsehen bemerke ich, dass sie sich fast nicht bewegen, quasi auf der Stelle stehen. Doch wie sie schauen!
Das irritiert mich gewaltig. Ich meine, sie kennen mich ja fast gar nicht – warum dann also dieser blasierte Gesichtsausdruck? Wäre ich sensibler, würde ich den als Beleidigung empfinden, doch sie wissen wohl nicht, dass ich es bin, der ihnen von jetzt an die Mahlzeiten reichen wird.
Ich schaue noch mal hin. Nein, ‚blasiert’ trifft es nicht, ihre Blicke sind verächtlich.
Ops, jetzt sehe ich Heikos Zettel:
‚Welcome, Onkel Walter, bitte sei so gut und gieb Ihnen einmal am Tag ein Drittel Päkchen. Das reicht schon. Mehr braucht nicht. Für dich ist Bier im Kühlschrank.
Vielen Dank für deine Hilfe und prosit. Am 28 ten bin ich wieder da.
Viele liebe grüße Heiko.’
Hat er mit seinem Computer ausgedruckt. In hundert Jahren wird er’s noch nicht begreifen, dass mein Vorname mit ‚th’ geschrieben wird. Aber unsereiner macht ja auch Fehler.
Jedenfalls kann er sich auf mich verlassen, nur am letzten Tag habe ich einen Auftritt im Kinderkrankenhaus – bin so eine Art ehrenamtlicher Clown – da kann ich erst gegen Abend meiner Pflicht nachkommen.
Und ach, verflixt – wenn ich das gewusst hätte, dass er hier schon die Futterpäckchen parat hat, dann hätte ich, na ja .... Oder hat er mir das gesagt?
Aber zurück zu diesen scheelen Blicken. Na, da haben die sich aber was angewöhnt! Wenn mich ein Mensch so anschauen würde, dann bekäme er von mir eine reingehauen. Direkt, frontal, gnadenlos.
Ja, das sieht man mir nicht an. Aber in gewissen Situationen – ich meine: So guckt man nicht.
Ich habe das Gefühl, sie schauen durch mich hindurch, zu Tode gelangweilt, auf etwas Besseres wartend als auf mein Rieselfutter.
Doch da muss ich durch. Ich hole mir ein Bier und fläze mich in einen dieser Drehsessel im Astronauten-Look – Blickrichtung Aquarium. Die Blauen stehen und glotzen. Wir sind Bewohner unterschiedlicher Welten.
Am nächsten Tag das Gleiche. Ein Hund würde mit dem Schwanz wedeln, aber nein – hier werde ich angeschaut, als ob ich störte. Vielleicht muss ich mich noch entschuldigen, dass ich mich um ihre Fressalien kümmere. Wenn die weiterhin ihre Hochnäsigkeit pflegen, schütte ich ihnen Salzsäure ins Luxusbad. Oder Essigessenz. Arrogante Bande.
Ich überlege, warum sich mein Neffe ausgerechnet für diese Fischsorte entschieden hat. Es gäbe doch sicherlich freundlichere, lebhaftere Fische als diese blassblauen Mumien. Es muss an ihrer Farbe liegen. Vom ‚Gesamtkonzept’ spricht er immer.
Dann müsste er, so spinne ich meinen Gedanken weiter, nur introvertierte, farblose Frauen hofieren – aber da ist er erstaunlich locker.
Im Frühjahr begegneten mir Heiko und seine neue Freundin Sonja. Er war mächtig stolz auf sie – und das mit Recht. Auch ich war fasziniert. Eine prächtige junge Frau mit dichtem braunen Haar und einer wunderbaren Haut, in einem Seidenkleid mit Blutlilien, Jadeblättern und schwarzen Taranteln. Fast peinlich, wie sich mein Puls beschleunigte.
Ich mochte gar nicht hören, dass er sie zum Tofu-Sukiyaki bei sich zu Hause eingeladen hat. Der blanke Neid stieg in mir hoch.
Doch schon am nächsten Tag sah alles ganz anders aus. Heiko rief mich verstört an und erzählte, dass Sonja das japanische Essen verschmähte und lieber eine Pizza wollte. Sie hatten sich gestritten, er war beleidigt und wohl auch etwas besoffen; jedenfalls fiel die Liebesnacht ins Wasser, weil Sonja im Wohnzimmer auf der Couch schlafen wollte. Und als er morgens zu sich kam, war sie nicht mehr da.
„C’est la vie!“, hätte ich sagen und zum Trost einige meiner verunglückten Liebesabenteuer zum Besten geben können. Aber seinem Elend wäre das kein Balsam gewesen.
Er hat ein sehr schönes Wohnzimmer. Altbau, hohe Decke, doch es wirkt wie ein Eispalast. Es fehlen die Farben. Zartes Grau herrscht vor, mattes Blau dazwischen, in dezenten Abstufungen.
Leider ist sein Bier nicht doll. Kommt aus Malaysia, in silberblauen Dosen. Trinken kann man’s, aber ohne Genuss. Allein diese Blechbüchsen stoßen mich ab. Und der Verschluss erst! Es hat ordentlich gespritzt beim Versuch, dessen Geheimnis zu lüften.
Ein leckeres Bier hätte ich mit einem Husch weggeputzt, aber dieses Gesöff dauert. Doch ich will es nicht wegschütten. Der menschliche Körper benötigt Flüssigkeit, außerdem kommt es von weither.
Die ausdruckslosen Augen der Guramis erschüttern mich. Diese Tiere leben, und sie leben nicht. Was ist ihre Aufgabe in der Welt? Wozu sind sie da? Wozu bin ich da?
Das Bier wird noch bitterer. Was für eine Frage: Wozu bin ich da? Das spielt doch gar keine Rolle! Hab ja nur gearbeitet, mein ganzes Leben nur gearbeitet. Und jetzt fragen die mich, wozu ich da bin. Tja, wahrscheinlich zum Gurami-Füttern. Doch ein Hauch von Alkohol stimmt mich versöhnlich.
Versonnen blicke ich auf die Fische. Schon, schon, ich weiß, die haben – wie jede andere Kreatur auch – ihr Programm. Nein, diesmal frage ich nicht: Wie ich?
Bei mir ist das anders, denn ich bin es, der das Programm bestimmt – nur ich allein. Die aber sind im Käfig, hinter Glas.
Ich gehe auf die andere Seite des Aquariums. Keine Ahnung, was ich da erwarte, nur einfach so. Ungemein spaßig, es ist das gleiche Bild, nur dass der kleine Felsen jetzt links steht. Sie mussten sich nicht bewegen, sondern haben mich jetzt mit dem anderen Auge im Visier.
Sie scheinen mehr zu wissen als ich, sie haben etwas Überlegenes, was ich nicht habe.
Keine Ahnung, wie alt solche Lebewesen werden, und erst recht nicht, wie die ein Jahr empfinden. Mal zehn, mal hundert, mal tausend – oder wie einen einzigen Tag, an dem es in steter Abfolge blitzschnell hell und dunkel wird?
Sie mustern mich.
Auch in den nächsten Tagen stehen die Blauen mit ausdruckslosen Augen und unbeweglich in ihrem Milieu. Unsere Blicke treffen sich immer wieder, beinahe magnetisch. Und dabei – das ist ganz sicher – haben wir uns nichts, absolut nichts zu sagen.
Oder doch? Sie geben mir Rätsel auf. Sind sie vielleicht auf der Welt, um die Menschen zum Nachdenken zu bringen? Wie ein Spiegel, der nicht sagt, wie schön jemand ist, sondern fragt, wer er ist.
Ich hatte schon den Schlüssel im Schloss, dann hab ich ihn wieder abgezogen und bin zurück in Heikos Wohnzimmer.
Senil bin ich noch nicht, bemerke schon, dass ich immer länger vorm Aquarium verweile – und sinniere. Ich gerate in einen träumerischen Zustand, muss lächeln: Sie bringen meine Gedanken in Schwung. Sie, die Stummen, die mir nicht den Kopf heiß reden, die Passiven, die philosophische Gelassenheit und Ruhe pflegen. Ich gewinne Respekt vor diesen klugen Wesen.
Fische sind ja ein paar Millionen Jahre länger auf der Welt als der Mensch. Könnte es sein, dass ihr kalter Blick das Resultat aller komplizierten Überlegungen ist, die wir noch vor uns haben? Dass auch wir verstummen, weil in den Zeiten, in denen wir miteinander redeten, zu viel Blut geflossen ist?
Freitag, mein letzter Tag als Gurami-Sitter. Es ist fast Abend, als ich das Fest verlasse. Die übergroßen roten Schuhe und die Perücke habe ich abgelegt, doch mein Clownkostüm behalte ich an, der Mantel wird es verdecken. Und tatsächlich nimmt niemand Notiz von mir, als ich zu Heikos Wohnung eile. Ich hänge den Mantel in den Flur und kümmere mich, wie ich mir das vorgenommen habe, auch heute um die Guramis. Die paar Stunden Verspätung müssen sie leider in Kauf nehmen.
Nach dem Füttern knipse ich die Aquariumbeleuchtung aus, jetzt strahlt nur noch die Stehlampe. Dann rücke ich näher heran an meine stummen Blauen, erkenne mein Spiegelbild.
Der kleinste durchpflügt meine Stirn so langsam, wie der Mond aufgeht. Ein anderer stupst meine Lippen, einer Liebkosung gleich, ein dritter nähert sich meinem Ohr mit einer vertraulichen Botschaft. Alle schauen mich an, wie wachgeworden – ich bin der neue Mittelpunkt ihrer Welt. Fürwahr ein magischer Moment.
Ich fühle mich wunderbar entspannt. Morgen ist Heiko zurück. So nehme ich die letzte Dose Malaysia-Bier an mich und stibitze eine Winzigkeit von seinem Irish Wiskey. Dann gehe ich wieder zur Couch und gebe mich der Betrachtung meiner neuen Freunde hin.
Bald überkommt mich eine wunderbare Schläfrigkeit und ich lasse mich treiben. An Tausenderlei denke ich, an eine Reise an die Loire mit ihren Schlössern, an Heikos silberblauen Flitzer, an meine Hammerzehen, an Roswitha.
Beim Einnicken merke ich, wie mir das Glas entgleiten will. Im selben Moment ein Schnappen und Platschen, ich will mich aufrichten, doch da sind die Blauen schon über mir. Sie haben Zähne wie Piranhas. Rasender Schmerz durchfährt mich – an Händen und Beinen, überall sind sie, am Bauch, im Gesicht. Es wütet wie Phosphor, brennt wie Napalm auf blankem Fleisch. Reißen, Zerren und Beißen, ich werde aufgeschnitten, aufgerissen – wie tausend Skalpelle dringen ihre Zähne in mich.