- Beitritt
- 19.06.2001
- Beiträge
- 2.198
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 11
Blade Runner Blues
"Und laß dir eines gesagt sein, Arschloch!" Torben steht breitbeinig mit heruntergelassenen Hosen da und pißt dem winselnden Mann in sein geschwollenes, mit blauen und grünen Flecken verziertes Gesicht. "Mit dir bin ich noch lange nicht fertig!" Es muß höllisch brennen, wenn Urin in eine offene Fleischwunde eindringt. Zumindest stelle ich es mir so vor. Ich würde vermutlich wie am Spieß schreien, doch der Mann ist dazu nicht mehr in der Lage. Er kann nur noch ächzen, stöhnen und lallen. Und er winselt. Er winselt wie ein Hund, der nicht weiß, warum Herrchen ihm den Arsch aufreißt. Torben zieht sich die Hosen hoch und tritt dem Mann mit der Stiefelspitze in den Unterleib. "Noch lange nicht!", zischt er. Er schnippt mit den Fingern, und einer von seinen Wachhunden bringt ihm ein schneeweißes Handtuch. Torben greift danach, und die Art und Weise, wie er nach diesem schneeweißen Handtuch greift, zeigt, warum er der King ist. Es ist die Mischung aus Gelassenheit, Eleganz und arroganter Kompromißlosigkeit. Selbst bei einer einfachen Sache, wie der, nach einem schneeweißen Handtuch zu greifen, demonstriert Torben überdeutlich, dass nur einer in dieser schmutzigen, dunklen und engen Gasse das Sagen hat. Es ist nicht die arme Sau, die da im Dreck liegt und sich gerade die Lunge aus dem Leib kotzt. Es bin auch nicht ich, der Bruder der armen Sau. Torben wischt sich mit dem schneeweißen Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht, schaut zu mir und grinst mich an. "Keine Angst, Rufus", sagt er freundlich. "Ich werde mich gleich um dich kümmern..." Daran habe ich keine Zweifel. In meinem Kopf hämmert es, alles dreht sich, und als ob irgendwo irgendwer einen Schalter umgelegt hat, sehe ich die Dinge an mir vorbeilaufen, den ganzen Schlamassel, der meinen Bruder und mich schließlich hierher in diese schmutzige, dunkle und enge Gasse geführt hat. Ich hebe den Daumen und nicke. "Laß dir Zeit, Torben..." Der Versuch eines Lächelns scheitert im Ansatz. Stattdessen verwandelt sich Unwohlsein in pure Angst. Ein Wunder, dass es erst jetzt geschieht. Torbens Wachhunde kichern dreckig. Der King zaubert eine kleine Gartenscheere in seine Hand und geht in die Knie. Sekunden später schafft es Rafe doch noch zu schreien. Ich schließe die Augen und wünsche mir eine gute Fee herbei, egal, aus welchem Märchen. Sie soll mich einfach wegzaubern. Schnell und unkompliziert.
***
Zum Leidwesen unserer Mutter hatten Rafe und ich scheinbar mit dem Stempel 'Kriminell' auf der Stirn das Licht der verkorksten Welt erblickt. Jedenfalls verschwand sie still und leise vier Stunden nach der Entbindung aus dem gemeinnützigen Krankenhaus, ließ uns schreiend zurück, verkroch sich vor sämtlicher Verantwortung, die eine Mutter nun einmal hatte, selbst wenn es bloß profane Dinge wie Streicheln, Stillen und Liebe waren. Unsere Kindheit verbrachten wir mal zusammen, mal getrennt, bei dutzenden Pflegeeltern. Jedoch packten wir es einfach nicht. Das Schicksal wollte unbedingt, dass wir möglichst ohne Zuneigung groß wurden. Wir gönnten dem Schicksal seinen Triumph und brachten die nächsten vierzehn Jahre schnell hinter uns. Ereignislose Jahre, von Jugendheimen, Besserungsanstalten und idyllischen Erziehungsstationen in Florida mal abgesehen. Letztere waren immer wieder ein Genuß, konnten wir doch auf Kosten derjenigen, für die wir eine Gefahr darstellten, einige Wochen faul in der Sonne liegen, eiskalte Coke unsere trockenen Kehlen hinunterfließen lassen und, sozusagen nebenbei, kleinere Einbrüche abhalten, um unsere Urlaubskasse ein wenig aufzubessern. Irgendwann sah man wohl ein, dass es keinen Zweck hatte, sich zu bemühen, Musterbürger aus uns zu machen, und da die Gefängnisse aus den Nähten platzten, die Gerichte ohnehin ein Hort von Rechtsverdrehern waren, und wir hoch und heilig versprachen, möglichst bald und ohne Umschweife in den Osten der EU abzuwandern, bekamen Rafe und ich ein Implantat der Stufe D in den kleinen Finger der rechten Hand, womit wir mittels Satellit überwacht werden konnten. Allerdings war uns schnell klar, dass der kleine Finger nicht wirklich von Nutzen war. Einige Zeit waren wir tatsächlich im Osten, im wirtschaftlichen Niemandsland der großen vielsprachigen Nation. Verlorene Jahre, in denen wir uns mehr schlecht als recht über Wasser hielten. Wir kammen zurück. Illegal. Und vom Großen Bruder nicht auffindbar, denn offiziell waren wir tot. Man hatte zwar nur unsere kleinen Finger gefunden, einige Tage nach dem operativen Eingriff, doch die Bürokratie gab sich damit zufrieden. Rafe und mir konnte das nur Recht sein...
Wann man die Mauer um Grünau hochgezogen hatte, wußten nur noch diejenigen, die damals dabei waren. Es war unwichtig. Wichtig war nur, dass diese Mauer existierte. Sie trennte arm von bettelarm, soliden Abschaum von verachtenswertem Müll. Rafe und ich hatten eine Wohnung in Beschlag genommen, sie notdürftig hergerichtet, so dass man halbwegs normal darin leben konnte. Rafe schaffte es sogar, einen alten Plasmafernseher aufzutreiben und ihn an das Netz anzuschließen. Von buntfarbenen Querstreifen begleitet, die sich diagonal über das Bild schoben, konnten wir das Wichtigste vom Tage live im Fernseher mitverfolgen. Ich stand am Fenster und starrte nach draußen. Die tristen Häuserblocks standen Reihe an Reihe bis zum Horizont. "Kaum zu glauben, dass ein Provinzkaff wie Leipzig mal eine zehnstellige Einwohnerzahl haben würde..." Mit dem Zeigefinger malte ich kleine Kreuze auf die völlig verstaubten Fensterscheiben.
Rafe saß vor dem Fernseher, trank ab und zu einen Schluck aus der Flasche, popelte gründlich in den hinteren Regionen der Nase und summte irgendeine Melodie. Er wirkte abwesend.
"Was ist mit dem Koffer?", fragte ich. "Rafe?"
Er stellte die Flasche ab und zuckte mit den Schultern. "Torben...", murmelte er schließlich.
Ich drehte mich um und sah zu dem Koffer. Ein unhandliches, schweres Monstrum aus Stahl. "Du willst dich an Torben wenden?"
"Klar." Rafe gähnte. "An wen denn sonst?"
Es war ein Zufall, der uns an den Koffer geraten ließ. Inmitten eines Polizeieinsatzes, der sich gegen eine linksextremistische Splittergruppe richtete, versuchten wir möglichst unbeschadet den Wasserwerfern und den Tränengasbomben zu entgehen, als wir auf einen dünnen Mann trafen, der den Koffer hinter sich her schleifte. Vielleicht war er verrückt, vielleicht war er auch einfach nur dumm. Jedenfalls schrie er uns an: "Ich schaffe es nicht mehr! Bringt ihn zum geplanten Ort!" Der dünne Mann ließ den Koffer los und rannte schreiend davon.
Rafe brüllte ihm geistesgegenwärtig hinterher: "Was ist drin?"
Der dünne Mann blieb augenblicklich stehen und drehte sich zu uns um. Bevor ein schwergepanzertes Einsatzfahrzeug der Polizei ihn über den Haufen fuhr, schaffte er es noch, uns anderthalb Sätze durch das lärmende Chaos hindurch mitzuteilen. Der erste Satz war: "Die Bombe!" Der nicht vollendete Satz lautete: "Moment mal, gehört ihr überhau..."
"Ich hatte eher an Leute aus dem nahen Osten gedacht." Ein logischer Gedanke, immerhin waren Länder wie Israel, Saudi-Arabien, Iran und vor allem Palästina konfliktreiche Krisenherde wie eh und jeh. Auch würde dort eine Bombe Sinn machen, zumal es sich um die Bombe handelte, die wir in einem Koffer aus Stahl mitten in unserem versifften Wohnzimmer stehen hatten. Sicher, an Leute aus dem nahen Osten zu gelangen würde schwierig werden.
"Leute aus dem nahen Osten?", fragte Rafe spöttisch und griff nach der Bierflasche. "Dürfte schwierig werden. Die machen da verstärkte Sicherheitskontrollen."
"Der Grund für diese dämlichen Kontrollen ist doch schon längst weg...", winkte ich seufzend ab.
"Quatsch! Die sind immer noch da! Deshalb auch die verstärkten Sicherheitskontrollen! Nein, Bruderherz, ich denke, wenn wir ordentlich Kapital draus machen wollen, sollten wir uns an Torben wenden. Okay?" Er grinste und rülpste. "Torben wird Verwendung dafür haben."
Ich zeigte zum Fernseher. "Hast du das mit den Sicherheitskontrollen aus dem Fernsehen? Die bringen doch gar nichts darüber!"
Rafe trank die Flasche leer und warf sich achtlos hinter sich. "Manipulation! Aber das ist seit dreißig Jahren bekannt." Er stand auf und streckte sich. "Nein! Wir gehen zu Torben. Beim King können wir ordentlich abkassieren." Plötzlich wurde unser Wohnzimmer etwas heller. "Der Staat wünscht seinen Bürgern eine gute Nacht." Rafe zeigte grinsend nach draußen. Hubschrauber flogen an uns vorbei, Scheinwerferlicht tauchte unsere Wohnung in ein diffuses Licht.
Ich hob die Hand und winkte. "Na schön, wenden wir uns an den King."
Einen Termin bei Torben zu bekommen, gestaltete sich überraschend unkompliziert. In einem flachen Gebäude residierte der King seinem Spitznamen entsprechend: Außen ein Hochsicherheitskomplex, innen die edelste Ausstattung, die man sich vorstellen konnte. Kaum auszurechnen, wieviel Geld er ausgegeben haben mußte, um inmitten der Müllhalde Grünau so ein dekadentes Domizil zu errichten. Torbens Arbeitszimmer wirkte dagegen schlicht. Ich kam mir fehlplaziert vor, und Signale aus dem Körperinneren meldeten, dass ich schleunigst verschwinden sollte. Rafe saß breitbeinig in dem Ledersessel und schlürfte den Schaum des Bieres weg. Er war die Ruhe selbst. Verstohlen sah ich zu meinem Glas. Mir fiel ein, dass ich Zeit meines Lebens noch nie aus einem Glas getrunken hatte. Ich war aufgeregt und bis auf die Unterhose durchgeschwitzt.
Torben zog ab und zu an der Zigarette, die er auf filigrane Art zwischen Daumen und Mittelfinger hielt. "Also..." Er nickte uns freundlich zu. "Nennt mich Torben. Ich weiß, man nennt mich auch den King, aber ich selbst bevorzuge Torben. Das ist der Name, den mir meine Eltern gaben. Ich habe damit kein Problem, ihr?" Er wartete eine Antwort von uns nicht ab. "Nein? Gut! Mag sein, dass Torben vielleicht ein Scheißname für einen Mann ist, aber mir ist es egal. Also nennt mich Torben!" Der King drückte die Zigarette aus und musterte uns. "Was ist mit euch? Rafe und Rufus? Sind das eure Namen? Sind das eure echten Namen?"
Rafe räusperte sich. "Nun, im Grunde genommen..."
"Er heißt Sven", sagte ich. Leise fügte ich noch "Markus" hinzu und tippte mir gegen die Brust.
"Sven und Markus, ja?" Stirnrunzelnd lehnte sich Torben etwas zurück. "Das sind wirklich Scheißnamen, Jungs. Wißt ihr was? Ich werde euch weiterhin Rafe und Rufus nennen. Ich denke, ihr habt damit kein Problem, oder?"
"Nein...", murmelte Rafe und sah zu mir.
Ich hustete leicht. "Kein Problem..."
Zufrieden stand der King auf und klatschte in die Hände. "Dann hätten wir das geklärt. Kommen wir nun zum geschäftlichen Teil. Ihr habt also eine Bombe." Er holte tief Luft. "Die eine Bombe..."
In diesem Moment war mir klar, dass die ganze Sache jedes nur erdenkliche Ende haben würde, nur kein gutes. Es war so klar wie die Gewissheit, dass die Planeten sich um die Sonne drehten, dass Reiche reicher und Arme ärmer wurden, dass nicht bestrahltes Obst schnell verfaulte und ich nie den Saft einer feuchten Fotze schmecken würde. Doch es war zu spät, Rafe und ich saßen vor Torben, mit der Absicht, ihm die Bombe zu verkaufen. Nicht irgendeine Bombe. Die Bombe. Zwar hatten wir es bis in sein Arbeitszimmer geschafft, aber ausreichend abgesichert hatten wir uns natürlich nicht.
"Es ist eine Bombe."
"Es ist eine Atombombe, Scheiße nochmal!"
"Woher willst du das wissen?"
"Der Typ hat es uns doch zugerufen."
"Nein, das hat er nicht. Der Kerl schrie was von einer Bombe, aber nicht..."
"Scheiße, Rufus! Es ist eine Atombombe!"
"Das können wir nicht wissen!"
"Doch, das wissen wir! Der Scheißkoffer steht hier vor uns in unserer Scheißwohnung, und Scheiße verdammt, der Scheißkoffer ist scheißschwer, klar! Er ist aus Scheißstahl, klar!"
"Du bist verrückt!"
"Mach ihn doch auf!"
"Was?"
"Mach den Scheißkoffer auf!"
"Eher lasse ich mich vom Teufel in den Arsch ficken..."
Der King setzte sich und verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. "Angenommen, ich glaube euch, und ihr zwei Penner habt tatsächlich eine verfluchte Atombombe in eurem Saustall unter dem Sofa versteckt. Was, um alles in der Welt, läßt euch glauben, dass ich etwas mit einer verfluchten Atombombe anfangen kann?"
Rafe trank sein Glas leer und stellte es auf den kleinen Tisch, der zwischen den Sesseln stand, in denen wir saßen. "Nun...", sagte er. "Sie haben doch sicherlich Kontakte in der arabischen Szene?" Er hatte wohl genau den richtigen Punkt getroffen.
Wütend sah ich zu Rafe. Als ich den nahen Osten vorschlug, hatte er nur abgewunken.
Torben fing an zu lachen. Es war kein normales Lachen. Er freute sich nicht darüber, dass er eine lustige Szene in einem Kinofilm sah, er war nicht glücklich darüber, dass jemand einen guten Witz gerissen hatte, sein Lachen war diabolisch, und seine Augen funkelten hintergründig. Der King schlug mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch. Dann atmete er einmal tief durch und hob den Daumen. "Ich könnte euch zwei jetzt einfach bei lebendigem Leib vergraben lassen." Er schnippte mit den Fingern. "Ein einfaches Fingerschnippen genügt. Aber..." Mit einer gönnerhaften Geste winkte Torben ab. "Wie es der Zufall will, habe ich in der Tat einen geschäftlichen Kontakt. Nun gut... Dann sind wir also im Geschäft, Rafe und Rufus! Fünfhunderttausend!"
Rafes "Wir werden Sie nicht enttäuschen!" klang ehrlich.
Ich kämpfte dagegen an, mich nicht auf der Stelle übergeben zu müssen.
"Alles in Ordnung, Rufus?", fragte mich Torben. Er sah besorgt aus.
Ich machte die OK-Geste. "Klar, alles in Ordnung..." Ich begann panisch zu planen, doch noch ein gutes Ende herbeizuführen.
Dass Torben die Angelegenheit noch am gleichen Abend erledigen wollte, war natürlich Pech. Keine Chance für Rafe und mich, irgendwie aus dem Schlamassel, von dem Rafe selbst noch nichts wußte, rauszukommen. Torben hatte es sich nicht nehmen lassen, mit uns zu unserer Wohnung zu fahren. Vielleicht reizte ihn der Gedanke, eine Bombe in seinen Händen zu halten, die ganz Leipzig innerhalb von Sekundenbruchteilen in Schutt und Asche verwandeln konnte. Immerhin zeigte er so etwas wie Ekel, als wir nach oben fuhren. Auf dem Boden des Fahrstuhls vermischte sich Scheiße mit Pisse und Blut.
"Man gewöhnt sich daran", meinte Rafe lapidar und zuckte mit den Schultern. Es machte Ping, der Fahrstuhl hielt und knarrend schoben sich die Türen auseinander.
Wir gingen den dunklen Gang entlang, den an die Wände gemalten Sprüche wie 'Marktwirtschaft ist ungesund für die Jugend von Übermorgen', 'Deutschland über alles' und 'Resignation ist so schmerzhaft wie Arschficken ohne Gleitgel' zierten.
"Wir sind da." Rafe nickte mir zu.
Zu gerne hätte ich in diesem Augenblick alles auf eine Karte gesetzt: Torben bewußtlos schlagen, mit Rafe abhauen, untertauchen, wieder zurück in den Osten, oder nach Afrika... Ich zählte einen Countdown von Zehn abwärts. Als ich bei der Zahl Drei angelangt war, ballte ich meine Hände zu Fäusten. Vielleicht hatten wir doch noch eine Chance. Zumal keiner von Torbens Wachhunden uns mit nach oben begleitet hatte. Rafe...
Rafe schob mich zur Seite und deutete grinsend auf eine dunkelbraune Tür. "Sie werden es nicht bereuen, Torben." Er öffnete die Tür und verbeugte sich.
Fassungslos sah ich zu meinem Bruder. Er hatte sich noch nie verbeugt. Noch nie in seinem Leben.
"Na dann..." Torben betrat unsere Wohnung. Rafe zwinkerte mir zu und folgte dem King.
Zu meinem eigenen Erstaunen folgte ich den beiden, anstatt abzuhauen.
Was dann passierte, war körperlich nicht schmerzhaft, tat jedoch in der Seele weh. Es handelte sich um eine Bombe. Es handelte sich nicht um die Bombe. Es handelte sich um eine stinknormale Bombe. Torben war sehr verärgert, und noch bevor Rafe und ich das ganze Ausmaß des sich anbahnenden Endes begreifen, und somit vielleicht noch etwas unternehmen konnten, standen Torbens Wachhunde in unserer dreckigen Wohnung. Ich hörte noch, wie der King uns anbrüllte, uns beschimpfte. Dann wurde ich ohnmächtig. Es lag wohl an der Eisenfaust, die mein Kinn berührte...
***
Wir haben uns schlicht und ergreifend verzockt. Ein letztes Mal sieht Rafe zu mir, dann trifft ihn die blutverschmierte Stiefelspitze von Torben mitten ins Gesicht. Rafes Körper zuckt zusammen, er bäumt sich auf, und bleibt schließlich bewegungslos liegen. Es fängt an zu regnen. Die Regentropfen fühlen sich überraschend warm an. Dass es sich um giftigen Regen handelt, kann ich verschmerzen, schließlich bleiben mir nur noch wenige Minuten. Der King brüllt seinen Wachhunden zu, dass sie gefälligst den "verfluchten Regenschirm" holen sollen. Selbst King Torben scheint Angst vor dem Regen zu haben. Keine Fee ist da, um mich zu retten. Ich kann erkennen, wie die Regentropfen Blut und Rotz von Rafes Gesicht spülen. Für einen kurzen Moment sieht er unschuldig aus, doch schnell weicht Wunschdenken der Realität. Dass unser Leben im höchsten Maße Scheiße war, streite ich nicht ab. Dass wir uns wie Idioten verhalten haben, das nagt an mir. Dass ich in einer dunklen, schmutzigen und engen Gasse sterben werde, das kotzt mich an. Einer der Wachhunde kehrt mit einem Regenschirm zurück und reicht diesen Torben. Der nickt nur und spannt den Regenschirm auf. Die abprallenden Regentropfen klingen wie Kugelhagel. Der King hat in seiner Hand das Handtuch. Ich bin überrascht, dass es immer noch schneeweiß ist. Er hat sich Schweiß und Blut damit abgewischt. Aber das Handtuch ist schneeweiß. "Nun, Rufus", sagt Torben und geht langsam auf mich zu. "Du denkst, dein Bruder ist tot?" Er grinst. "Möglich... Aber er wird keinen Frieden finden!" Ich glaube ihm. Frieden zu finden, wäre für Rafe und mich wie der Gewinn des Jackpots. In einer verkorksten Welt zu leben ist nicht einfach. Sich in einer verkorksten Welt zu behaupten ist noch schwieriger. Ein letztes Mal wünsche ich mir die gute Fee herbei, die alles, wirklich alles ungeschehen macht. Sie erscheint nicht. Eine Supernova entfaltet sich in meinem Kopf. Regentropfen prasseln auf mich herab. Sie sind das letzte, was ich hören und spüren kann.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
25./26.07.2004