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Bis ans Ende der Welt
BIS ANS ENDE DER WELT
Vorsichtig nahm Laura die Proben und packte sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Dann holte sie das kleine Diktiergerät aus dem Parka. „Dreißigster September...“ Sie hielt kurz inne und betrachtete die Landschaft. Unendliches Weiß und ganz weit weg die Berge. Laura lächelte und schüttelte kurz den Kopf. Sie drückte wieder die Aufnahmetaste. „Dreißigster September... Proben aus Planquadrat B19 entnommen. Erwartete Ankunft im Lager in...“ Sie sah auf die Uhr. Verdammt, viel zu spät. „In etwa zwei Stunden... gegen neunzehn Uhr...“ Laura drückte die Stoptaste und steckte das Gerät wieder weg. Wo ist der Rucksack? „Ah...“ Sie hob den Rucksack vom gefrorenen Boden auf und setzte sich dann auf den Schlitten. Tu mir den Gefallen und spring an. Spring einfach an. Sie drückte den kleinen roten Knopf am Lenker. Sofort sprang der Motor an. Laura atmete erleichtert auf. Das Wetter war gut. Es wird keine Probleme geben, sagte sie sich. Keine Probleme.
„Nein... bleib stehen und beweg dich nicht, bitte...“ flüsterte Nikolas. Das Motiv war atemberaubend. Es hatte Stunden gedauert, aber jetzt war es perfekt. „Ja, bleib so. Nikolas flehte den Eisbären in Gedanken an. Klick... Die Kamera machte leise Geräusche. Das werden gute Bilder, dachte er. Sehr gute Bilder. Als er fertig war, kroch er langsam hinter den Felsen zurück. „Wow...“ murmelte er zufrieden und steckte die Kamera in den Rucksack. Vorsichtig lugte er hinter dem Felsen hervor. Der Bär war immer noch da. Er wird dich nicht sehen. Er hat die Kamera nicht gehört. Du warst vorsichtig. Er wird dich nicht sehen. „Trau dich!“ Nikolas stand auf und lief geduckt zu der Stelle, wo er die Skier gelassen hatte. Laura wird begeistert sein, dachte er und lächelte. Der Gedanke an sie ließ ihn für einen kurzen Moment die Kälte vergessen, die hier draußen herrschte. „Ja.“ Er schnallte sich die Skier an und machte sich auf den Weg ins Lager.
„Was denkst du?“ Er strich Laura zärtlich durchs Haar.
„Es ist wunderschön.“
„Ja, das ist es. Ich bin am Überlegen, ob ich nicht...“
„Du solltest Fotos machen, weißt du?“ Sie lächelte Nikolas an. „Das solltest du wirklich.“
„Ja.“ Er nickte. Laura hatte Recht. Das hat sie meistens, dachte er.
Sie schubste ihn leicht an. „Nun geh schon und mach die Fotos.“ Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange. „Es ist so schön. Sieh es dir doch an.“
„Ja.“ sagte Nikolas und legte einen Arm um sie. „Wunderschön...“
„Ich werde inzwischen mit den Australiern reden.“
„Bestell ihnen Grüße von mir, ja?“
„Klar.“
„Okay.“ Er sah sie an und sagte: „Es werden bestimmt sehr schöne Fotos werden. Wir könnten sie morgen entwickeln und in zwei Wochen dann...“
„In zwei Wochen kommt die Post. Ja.“
„Ja.“ Er nickte. „Du hast Recht, weißt du das?“
„Hm?“
„Der Anblick ist wunderschön.“ sagte Nikolas ernst und sah nach draußen. „Oh man... ich sollte mich beeilen, hm?“
„Ja. Solltest du. Nun geh endlich.“ sagte Laura mit einem verschmitzten Lächeln.
„Schon gut... ich geh ja schon.“ Nikolas gab ihr einen Kuß und ging zur Tür. „Ach...“ Er drehte sich zu ihr um. „Sieh mal in deiner Kabine nach. Da ist was für dich.“
„Was denn?“
„Sieh einfach nach, wenn ich draußen bin, okay?“
„Okay.“ sagte Laura. Ob er es tatsächlich nicht vergessen hatte? Sie lächelte. „Okay, mach ich.“
„Ja.“ Er nickte und verließ den Raum.
Laura saß auf ihrem Bett und hielt das Geschenk in den Händen, das sie von Nikolas bekommen hatte. Sie war sprachlos. Das muß er vor dem Abflug besorgt haben, dachte sie sich. „Hier gibt es so etwas nicht... unmöglich.“ Sie hielt es gegen das Licht. Die Farben begannen sich zu verändern. Aus Rot wurde Blau, aus Grün Orange. „Wunderschön...“ flüsterte sie und stellte das Geschenk auf den kleinen Tisch neben dem Bett. Dann lehnte sie sich gegen die Wand und verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf. Sie sah zu dem Geschenk. Wie lange waren sie jetzt schon zusammen... gut vier Jahre? Gleich nach der Universität waren sie zusammengezogen. Laura erinnerte sich an die erste gemeinsame Wohnung. Nein, dachte sie. Eher ein winziges Zimmer. Unwillkürlich mußte sie lachen. Sie dachte an Nikolas, der jetzt draußen war, um ein einzigartiges Panorama festzuhalten.
Die dunklen Wolken ergaben einen einzigartigen Kontrast zu der hellen Oberfläche der Schneelandschaft. Laura hatte Recht gehabt. „Wie immer.“ murmelte Nikolas und drückte auf den Auslöser. Zwei gute Filme an einem Tag. Nicht schlecht, dachte er. Nicht schlecht. Wieder drückte er auf den Auslöser. Er ging in die Hocke und betrachtete die Landschaft. War es ein Fehler, hierher zu kommen? Zehn Monate weg von zu Hause, von allem? „Nein, war es nicht!“ Warum auch? Laura konnte ihren Forschungen nachgehen und er... Was war das? Er stand wieder auf und hielt sich die Hand vor Augen. Ein kleiner Punkt, der sich bewegte. „Das gibt’s doch nicht.“ Er schüttelte den Kopf. Ob es der selbe Eisbär war, den er heute fotographiert hatte? Er steckte die Kamera weg und lief zurück zum Lager. „Das gibt’s doch nicht.“
„Du denkst, es war der selbe?“ fragte sie ihn.
„Es gibt hier nicht so viele, weißt du?“
„Weiß ich doch.“ antwortete Laura mit einem spöttischen Lächeln. „Weiß ich doch.“
„Warum fragst du dann?“
„Nur so.“
„Nur so, hm?“ Nikolas sah Laura herausfordernd an. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. „Wir müssen unbedingt nachbestellen.“
Laura nickte zustimmend. „Nicht mehr viel da.“ Sie stand auf und setzte sich auf seinen Schoß. „Danke, daß du es nicht vergessen hast.“ Sie gab ihm einen Kuß.
„Hast du wirklich gedacht, ich hätte es vergessen?“
„Ja. Das habe ich wirklich gedacht.“ sagte sie leise. „Ich hab das wirklich gedacht.“ Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
Nikolas strich ihr durchs Haar. „Nun. Ich habe aber daran gedacht. Alles Gute, Schatz.“ Er drückte sie an sich und schloß die Augen. Sie war manchmal schon recht eigenartig. Die ganzen vier Jahre. Leise seufzte er auf.
„Nikolas?“
„Nichts. Alles in Ordnung, Laura.“ Sie hatten sich geschworen, alles zusammen durchzustehen. Er stand zu diesem Schwur. So wie sie. Nichts wird mich daran hindern können, dachte er. Nikolas wollte gerade etwas sagen, als das Funkgerät sich einschaltete...
„... Posi... 45 Grad... Verl... lfe....“
Nikolas kratzte sich am Kinn. „Was denkst du?“ fragte er und sah zu Laura.
„Klingt nach einem Notruf.“ Sie drückte eine Taste. „Hallo? Können Sie mich verstehen? Hier spricht Laura Franklin, Lager Bergenheim, Deutschland. Können Sie mich verstehen?“
„... allo... könn... schwach... ande... Frequ... Berg... m...“
Nikolas stellte eine andere Frequenz ein. „Versuch es nocheinmal, Laura.“
Sie nickte. „Können Sie mich verstehen?“
„Ja. Jetzt ist es besser. Können Sie mich verstehen?“
„Ja. Wer sind Sie? Was ist passiert?“
„Larsen... von den Australiern. Laura? Sind Sie es?“
„Ja. Larsen, was ist los?“
„Wir hatten einen Unfall und hängen fest. Ungefähr achtzig Kilometer von Ihrer Position aus.“
Nikolas bekam ein ungutes Gefühl. Er nahm das Funkgerät und sagte: „Was ist mit Ihren Leuten, Larsen?“
„Nikolas?“
„Ja. Was ist mit Ihren Leuten?“ Laura sah Nikolas fragend an, doch er schüttelte nur den Kopf. „Larsen?“
„Wir erreichen niemanden. Poulder und Johnsen sind verletzt. Können nicht gehen. Die Schlitten sind kaputt. Hängen in einer Gletscherspalte fest.“
„Gib her!“ sagte Laura. Er gab ihr das Mikrofon. „Larsen? Was meinen Sie?“
„Was ich meine? Daß wir die Nacht nicht überstehen werden. Das meine ich! Können Sie uns helfen?“
„Geben Sie uns ihre genaue Position. Können Sie das?“
„Ja, warten Sie. Jetzt...“
„Achtzig Kilometer, Laura. Und es wird langsam dunkel.“ Nikolas zündete sich eine Zigarette an.
„Wir können sie nicht da draußen lassen.“
„Ja.“
„Wo ist das Problem, Nikolas?“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich weiß nicht... eine Vorahnung oder so.“ Er lächelte. „Unsinn. Natürlich können wir sie nicht da draußen lassen. Hast du die Australier erreichen können?“
„Nein... da tut sich nichts.“ Sie stand auf. „Wir brauchen Zelte, Decken, Verbandszeug... den ganzen Kram.“
„Ja. Sagen wir... zwanzig Minuten. Ich überprüf die Schlitten.“
„Okay.“
Bevor sie ihre Kabine verließ, sah Laura noch einmal zu dem Geschenk. „Ich liebe dich.“ flüsterte sie lächelnd und schloss die Tür hinter sich.
Nikolas befestigte die Decken an dem Schlitten. Er runzelte die Stirn und hielt inne. Dieses ungute Gefühl ließ ihn nicht los. „Kannst du nicht verschwinden, hm?“ Kopfschüttelnd überprüfte er noch einmal die Halterungen.
Es hatte angefangen zu schneien. „Siehst du was?“ rief er und leuchtete mit der Taschenlampe in die Spalte. „Larsen? Hallo?“ Er drehte sich zu ihr um. „Ich kann nichts sehen.“
„Es ist die richtige Stelle.“ Sie beugte sich etwas weiter über den Rand.
„Sei vorsichtig.“
„Ja.“ sagte sie leicht verärgert. Das mußt du mir nicht sagen, dachte sie. „Larsen?“ Keine Antwort. Da.... „Ich kann die Schlitten sehen... und...“ Oh nein. „Nikolas. Dort...“ Sie leuchtete etwas nach rechts. „Kannst du sie sehen?“
Nikolas schluckte. „Ob sie... ob sie...“
„Larsen? Poulder? Johnsen?“ Sie rief noch einige Male die Namen. Dann gab sie auf. „Ich denke, sie sind tot.“
„Ja.“ Nikolas nickte.
Dieses Ja von ihm... es kam so... Laura konnte es nicht richtig einordnen. „Nikolas?“
„Wir werden die Stelle markieren, Laura. Mehr können wir nicht tun. Wir sind zu spät gekommen.“
„Da muß was weggebrochen sein... von der Wand. Der ganze Schnee...“
„Ja.“
Laura ging zu ihm. „Alles in Ordnung?“ fragte sie besorgt. Nikolas kniete im Schnee. Sie ging in die Hocke und nahm sein Gesicht behutsam in ihre Hände. Sie wußte, was er fühlte. Und sie teilte diesen Schmerz. „Alles in Ordnung? Nikolas?“
Er sah sie an und versuchte zu lächeln. Es gelang nicht. Laura nickte stumm. Er schluckte kurz und sagte: „Lass uns die Stelle markieren und dann weg... weg von hier. Im Lager versuchen wir noch einmal die Australier zu erreichen. Wenn nicht... Wir werden morgen zurückkommen.“
„Ja.“
Eine Zeitlang saßen beide im Schnee. Wind kam auf. Dieser Augenblick der gegenseitigen Nähe... Irgendetwas würde passieren. Aber was, das wußten zu diesem Zeitpunkt weder Laura noch Nikolas.
Als Nikolas die Stelle markiert hatte, an der die drei Australier den tödlichen Unfall hatten, lief er zu seinem Schlitten. Es schneite jetzt dichter. Kalt und unangenehm. „Sieht nicht gut aus.“ sagte er.
„Ein Sturm wird es wohl nicht werden.“
„Nein, aber beeilen sollten wir uns.“ Er startete seinen Schlitten. „Ich bleib dicht hinter dir, okay?“
„Okay.“ Sie hob den Daumen. „Laß uns heim fahren.“
„Geht es dir gut?“ fragte Nikolas leise. Laura zitterte am ganzen Körper. Er hatte sie in den Schlafsack gepackt und mehrere Decken um sie gelegt. Verbittert dachte er zurück an den Unfall. Als er ihren Schlitten gestreift und beide dadurch die Kontrolle verloren hatten. Ich hatte Glück, dachte Nikolas wütend. Scheiße. Bei ihr sah es anders aus. Laura hatte sich das Bein gebrochen, und die Stelle hatte sich entzündet. Er schüttelte den Kopf. Es war wirklich alles schiefgegangen, was nur schiefgehen konnte. „Geht es dir gut?“ fragte er sie erneut.
„Kalt.“ murmelte Laura. „Nicht weggehen.“
„Ich gehe nirgendwo hin ohne dich, Laura.“
„Nicht weggehen.“
„Ich bin hier. Es wird alles gut werden.“ Warum sagst du das, fragte er sich selbst. Warum sagst du das? Was soll ich sonst sagen? Ich kann nichts anderes sagen. Er hörte den Schneesturm, der sie beide anzubrüllen schien. Ja, brüll nur. Aber noch sind wir da.
„Nikolas?“
„Laura?“
„Mir ist kalt. Und ich habe Angst.“ Sie hatte kaum noch Kraft, um zu reden.
„Sag nichts, Schatz.“ Er küßte sie sanft auf den zitternden Mund. „Sag nichts.“
„Versprich mir, nicht aufzugeben.“
Nikolas schloss die Augen. Aufgeben... Seit sechs Tagen irrten sie durch das ewige Eis. Durch diesen verdammten Sturm. Und sie... „Weißt du noch, was wir uns damals versprochen haben?“
„Wir beide zusammen... wir beide.“
„Ja. Daß wir alles zusammen durchstehen werden, Laura. He...“ Er drückte sie an sich. „Wir werden das. Hörst du? Wir werden das packen!“ Er fühlte sich so hilflos.
„Laß mich nicht los.“
„Nein.“
„Gut.“ Laura drehte sich und schrie leise auf. „Es tut so weh... der Schmerz. Es...“
„Ich weiß... Sag nichts, Laura. Morgen gehen wir weiter.“
„Hast du noch die Kraft, mich zu ziehen?“
„Ja. Die habe ich.“ Bei diesem Gedanken zuckte er kurz zusammen. Ich werde ihr nicht sagen, wie schwer es für mich ist. Das kannst du ihr nicht sagen. Alles was sie jetzt braucht, ist Zuversicht. „He du, ich werde dich bis ans Ende der Welt ziehen... nur machen wir vorher Station bei einem Arzt, hm?“ Als er das sagte, lächelte Laura ein wenig. „Ich werde dich bis ans Ende der Welt begleiten, Laura.“ Nikolas lächelte bei diesem Gedanken. Es ist mein voller Ernst...
- - - - -
„Du bist im Schlaf gestorben. Mit Schmerzen... Es tut mir so leid, Laura. Ich...“ Er schloss die Augen. Hast du alles getan, was tun konntest? Nikolas wußte darauf keine Antwort. Hast du wirklich alles getan? Vorsichtig glättete er den Schnee auf ihrem kalten Grab. Dann markierte er die Stelle und stand auf. Der Schneesturm hatte nachgelassen. War ja klar, dachte er wütend. „Als ob du nur darauf gewartet hast, was? Scheiße!“ Er setzte sich den Rucksack auf und nahm die Schneeschuhe. „Ich werde wiederkommen, hörst du? Ich werde wiederkommen... und dann...“ Er schluckte und hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. „Dann wirst du die Ruhe finden, die du brauchst. An unserer Stelle, die nur wir beide kennen. Ja... Und wir werden uns wiedersehen.“ Nikolas konnte nicht mehr und ließ seinen Tränen freien Lauf. Der Schmerz, der ihn von innen heraus aufzufressen schien... Ein lauter, trauriger und einsamer Schrei erklang irgendwo inmitten der Eiswüste...
Er schreckte auf. „Laura?“ Beruhig dich, es ist nur der Sturm. Es ist nur der Sturm, welcher die Zeltwände streift. Seit zwei Tagen hing er fest. Der erbarmungslose Sturm verhinderte ein Weitergehen. Nikolas war gezwungen, in dem kleinen Zelt auszuharren und zu warten, bis der Sturm wieder vorbei war. Du hast dir da nur was eingeredet. Und trotzdem hatte er das Gefühl, daß da draußen irgendetwas war... „Das redest du dir nur ein. Da ist nichts. Absol...“ Wieder ein Geräusch. „Oh Gott.“ flüsterte Nikolas. Bleib ruhig. Bleib ruhig und überlege. Der Eisbär wird sich schon wieder verziehen. Das wird er. Während Nikolas an dem Glauben festhielt, suchten seine Augen nach etwas, womit er sich verteidigen konnte, falls es wirklich... Mit einem unangenehmen Geräusch zerfetzte eine mächtige Pranke das Zelt und streifte sein Bein. Nikolas schrie laut auf. Der Bär brüllte. „Nein!“ Nikolas hatte keine Zeit zum Überlegen und schoß die Leuchtpistole ab. Daneben. Du hast nicht getroffen. Du hast ihn verfehlt. Nikolas konnte sich nicht bewegen und saß zitternd da, in Erwartung eines schmerzvollen Todes. Doch nichts tat sich. „Er ist weg.“ Er begann hysterisch zu lachen. Der Schuß hat ihn verscheucht. „Bist du weg?“ Er traute sich nicht, durch die zerfetzte Zeltwand nach draußen zu sehen. Unsinn, es ist nur ein Tier. Beweg dich und sieh nach, verdammt! Langsam kroch er auf das Loch zu. Gleich ist es vorbei... Dann sah er nach.
Vier Tage waren seit dem Zwischenfall mit dem Bären vergangen. Er wußte nicht, ob er in die richtige Richtung ging... „Das ist kein Gehen, alter Junge. Du schleppst dich einen Berg hinauf. Mitten in der Nacht.“ Nikolas hatte zwei oder drei Mal daran gedacht, einfach aufzugeben. Sich hinzulegen und die Augen zuzumachen. An nichts mehr denken. Außer an die willkommene Dunkelheit, die auch den Schmerz der eiternden Wunde am Bein vergessen ließ. Und den Schmerz, Laura verloren zu haben. Und trotzdem lebte er noch. Er hatte ihr etwas versprochen. Nicht aufzugeben. Er sah nach oben. Obwohl es dunkel war, konnte er den Gipfel des Berges erkennen. Ein Berg... Nikolas lächelte kurz. Ein großer Hügel. Und dahinter? Nichts. Ewiges Eis. Viele Hügel. Sonst nichts.
Er hatte alles erwartet, als er an dem Felsen lehnte... nur nicht die Lichter. Menschen, dachte er. Da unten sind Menschen. Waren es die Australier? Ist es nicht egal?
„Nikolas?“
Er drehte seinen Kopf nach links. „Laura, du siehst.wunderschön aus.“
„Hast es geschafft.“
„Nein, Laura. Wir haben es geschafft. Da unten... siehst du? Lichter. Da ist eine Station. Da sind Menschen.“
„Ja.“ Sie lächelte und deutete auf seinen Parka. „Du mußt dich bemerkbar machen.“
Er schluckte und lehnte sich wieder an den Felsen. „Kann nicht... zu schwach.“
„Ich helfe dir.“ Laura öffnete den Reißverschluß der einen Tasche und holte die Leuchtschußpistole hervor. „Da ist keine Patrone drin, Nikolas.“
„Andere Tasche.“ Das Atmen fiel ihm schwerer. „Ist in der... in der anderen Tasche.“
„Ja.“ Sie nickte und beugte sich etwas nach vorn. Ihre Haare streiften sein Gesicht.
„Ich hab versucht...“
„Nein. Sie sind gleich da.“ Sie holte die Patrone aus der Tasche und lud die Pistole. Dann hob sie den Arm und feuerte ab. „Gleich sind sie da.“
„Ja.“
„Nicht aufgeben, Nikolas. Nicht jetzt. Noch nicht!“
„Ja.“ Es war ein sehr leises Ja von ihm gewesen. Der Stein fühlte sich gut an. Kalt irgendwie... aber... „Laura?“ Er hatte keine Kraft mehr, sich zu bewegen, geschweige denn die Augen zu öffnen. „Laura? Ich...“ Dann fiel er zur Seite und wurde bewußtlos.
Er hörte weit entfernte Stimmen.
„... Augen geöffnet. Können Sie mich verstehen?...“
Sie stand an seinem Bett und lächelte ihn an. „He du...“ flüsterte Nikolas. Was ist das? Schläuche...
„... sagen Sie da?... Reden... Reden Sie mit uns?... Können...“
Sie stand einfach nur da und lächelte. Er wußte nicht, ob er jemals so etwas Schönes gesehen hatte. „Wartest du auf mich? Hm?“ Sie nickte ihm zu. „Das ist gut.“
„... verlieren ihn... schnell... Tun Sie... He Sie...“
„Ich bin gleich bei dir.“ flüsterte Nikolas und schloss die Augen wieder. Die Stimmen verschwanden. Nur noch Leere und Dunkelheit umgaben ihn. Und das Gefühl, eine Reise anzutreten, an deren Ende seine große Liebe auf ihn warten würde.
„Gefällt es dir?“ Sie gab ihm einen innigen, zärtlichen Kuß. „Hast du mich vermißt?“
„Ja.“ Er lächelte sie an. „Sehr sogar. Und weißt du, es ist nicht so kalt hier.“
„In der Tat.“ Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
„Es tut gut, daß du da bist. Daß du bei mir bist.“ sagte er und strich ihr durchs Haar. „Ich werde niemals wieder von dir weggehen.“
Sie gab keine Antwort, sondern schmiegte sich enger an ihn.
„Ja.“ Er nickte. Sie waren an ihrem Ort. An dem Ort, den nur sie beide kannten. „Wir werden für immer hier bleiben. He?“
Sie sah ihn an. „Hm?“
„Es ist... Ich liebe dich!“ Er schmunzelte und gab ihr einen langen, ewig andauernden Kuß.
ENDE
copyright by Poncher (SV)
13.03.2002
[Beitrag editiert von: Poncher am 14.03.2002 um 22:02]