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Bevor die Welt verschwand
„Was würdest du tun, wenn du wüsstest, wann die Welt zu Ende ist? Also nächste Woche oder so.“
„Ich würde heulen.“
„Ach quatsch, ich meine doch, wenn du darüber schon hinweg wärst.“
„Was soll der Scheiß, ich will über so etwas nicht nachdenken.“
„Man kann doch mal ganz hypothetisch darüber nachdenken. Du denkst doch auch darüber nach, was du mit einem Lottojackpot anstellen würdest.“
„Du ziehst mich total runter, über so was will ich aber nicht nachdenken.“
„Komm schon, du würdest doch bestimmt die letzten Tage genießen wollen.“
„Nein, ich würde mich an meinem Kind festkrallen und heulen.“
Es war nicht, was ich erwartet hatte. Mit ihr zu reden konnte manchmal schwierig sein, als wären wir aus verschiedenen Welten. Aus einer normalen Unterhaltung wurde ein Streit, wurde eine Kränkung, im schlimmsten Falle etwas, das zu Herzen ging. Ich wollte die Laune nicht noch mehr drücken und ging aus dem Zimmer. Sie verzog sich hinter ihren Laptop und schloss die Umwelt aus. In der Küche, mischte ich einen Rest kalter Nudeln, mit etwas Ketchup und Kräuterfrischkäse, erwärmte das Ganze in der Mikrowelle und starrte in die Nacht. Im Gebäude gegenüber flackerte ein Fernseher. Wusste es dort vielleicht schon jemand? Das Essen war lang genug bestrahlt worden und ich begann, es in mich hinein zu schaufeln. Wieder starrte ich in die Nacht und konnte mich nicht erinnern, jemals in eine solche Dunkelheit hineingesehen zu haben. Am Fenster gegenüber rührte sich etwas. Da wo der Fernseher flimmerte. Eine Gestalt erschien und sah mich an. Einen Moment fühlte ich mich unbehaglich, doch dann hob ich die Hand, wie zum Gruß. Es ist wie in allen Ausnahmesituationen, wenn im Zug plötzlich das Licht ausgeht, eine Flutwelle das Dorf hinfort reißt, oder kurz bevor die Welt verschwindet. Man kommt sich näher, verliert die Scheu vor anderen Menschen.
Drüben ratterte die Außenjalousie herunter und die Dunkelheit war vollkommen. Klar, dachte ich, es gibt bestimmt noch viele Filme, die man unbedingt gesehen haben muss, bevor die Welt untergeht. Kein Grund sich durch neugierige Nachbarn stören zu lassen. Ich wollte noch viele Bücher lesen, das konnte ich wohl vergessen. Nächste Woche schon und mir fiel nichts Vernünftiges ein, was ich tun könnte. Wenn es die ganze Welt schon wüsste, gäbe es vielleicht eine Sendung im Fernsehen, mit den besten Tipps, wie man seine letzten Tage verbringen kann. Für solche Medienspielerein war es nun leider zu spät – noch drei Tage – so knapp vor dem Ende, würde keiner mehr zur Arbeit kommen. Kein Kameramann, kein Regisseur, der nicht bei seinen Lieben wäre, oder nicht wenigstens im Vollrausch versuchen würde, irgendwo einen letzten Fick aufzutreiben. Hätte die Regierung frühzeitig informiert, die Industrie hätte sich darauf einstellen, und die unglaublichsten Produkte auf den Markt werfen können. Weltuntergangsgetränke mit Drogen, unzerstörbare Erinnerungsspeicher für eventuelle außerirdische Archäologen oder noch verrücktere Dinge. Eine gewisse Zeit, hätte das System bestimmt noch funktioniert. Wer würde denn auch alles schon Monate vor dem Ende hinwerfen und sich die Chance entgehen lassen, an der großen Weltuntergangsparty teilzunehmen?
Doch so –
Ich wusste seit heute Bescheid und wartete auf die offizielle Bekanntgabe. Wie bereitet man sich auf das Ende vor, war der einzige Gedanke, den ich noch hatte. Bringen Sie ihre Sachen in Ordnung – wird häufig verwendet, wenn man einem todgeweihten Patienten seine Chancenlosigkeit mitteilt. Doch in diesen Fall – wen interessiert’s? Es musste doch möglich sein, etwas zu finden, das ich mit meiner Frau und unserer Tochter unternehmen konnte, um aus diesen letzten Tagen noch das Beste rauszuholen. Das Problem war nur, solange es nicht offiziell wäre, würde mir kein Mensch glauben – ich wäre nur ein Irrer mit Wahnvorstellungen.
Später vor dem Spiegel, die Zahnbürste im Mund, fragte ich mich, warum meine Trauer ausblieb. Keine Panik, kein Fall in emotionale Tiefe. Nichts. Lag es an der Endgültigkeit, dem Fakt, dass es keine Rettung in letzter Sekunde geben würde? War es ein hormonelles Ungleichgewicht, das mich gleichgültig machte? Stand ich unter Schock? Eine unglaubliche Müdigkeit überfiel mich. Meine Augen ließen sich auf dem Weg ins Schlafzimmer kaum offen halten. Gerade als ich die Decke über meinen Kopf gezogen hatte, hörte ich meine Frau, für die es noch zu früh zum Schlafen war, fragen:
„Alles Okay? Du hast nicht mal Gute Nacht gesagt.“
„Gute Nacht.“
Der Schlaf zog all meine Aufmerksamkeit nach innen, das entfernte Knallen einer Tür war wie ein Schalter, der mich in die Dunkelheit kippte.
Bevor der Wecker am nächsten Tag klingelte, lag ich bereits hellwach im Bett, sie schlief tief und fest, die ersten Sonnenstrahlen verirrten sich über die Dächer in unser Schlafzimmer. Ich war aufgeregt. Sollte ich zuhause bleiben? Jegliche Lust am Aufstehen hatte sich verflüchtigt. Es erschien mir plötzlich völlig sinnlos noch auf Arbeit zu gehen, ich wollte mich eigentlich nur noch an sie schmiegen und festhalten. Als ich mich ihr jedoch näherte, klingelte der Wecker. Kein guter Zeitpunkt. Das schrille Geräusch war kaum zu ertragen und zwang mich aus dem Bett. Gleichzeitig wachte sie auf.
„Wann musst du los?“, ihre Stimme war belegt.
„Weiß nicht genau.“
„Hast du noch Zeit, den Vertrag mit Grombach durchzulesen, ich konnte die halbe Nacht nicht einschlafen, weil ich daran denken musste.“
„Nein, keine Zeit. Nicht dafür.“
„Wann musst du denn los?“
„Weiß nicht.“
Ihr Blick sagte mehr als ich wissen wollte. Ich konnte ja schlecht sagen: Hör zu Schatz, die Welt ist bald nicht mehr. Lass uns die letzten Tage nicht mit solchen Banalitäten vergeuden. Sie würde mir nicht glauben. Erst wenn die Regierung die Nachricht herausgab, durfte auch ich darüber sprechen. Andernfalls könnte ich mich gleich wie einer von diesen Verrückten mit einem Schild auf die Straße stellen. Ich wäre ähnlich glaubhaft.
„Was hältst du davon, wenn wir heute einfach mal zuhause bleiben, vielleicht mit Lana in den Zoo gehen, irgendwas zusammen machen“, sagte ich. Sie lächelte.
„Das wäre schön.“
Es klang ein bisschen traurig und mein Gewissen meldete sich zu Wort, wieso musste erst der Weltuntergang bevorstehen, dass mir dieser Wunsch in den Sinn kam. Wie oft hatte ich mir anhören müssen, dass ich nicht genug Zeit in die Familie investierte. Ich ging auf sie zu, legte meine Hände auf ihre Hüften, aber sie bellte mich an.
„Jetzt nicht nerven. Ich muss mich beeilen. Kümmere dich um Lana.“
Schnell befreite sie sich und begann ihr Gesicht zu pudern. In meinem Brustkorb entstand ein ungutes Gefühl, etwas zog sich da zusammen.
„Schatz, ich brauche Urlaub. Mit dir, mit Lana, jetzt sofort.“
Sie rollte mit den Augen. „Lass uns heute Abend drüber reden. Musst du nicht auch langsam los?“
„Wir können zu unserem Platz gehen. Zum Aussichtspunkt“, flüsterte ich, aber sie hatte sich weggedreht. Ihr Spiegelbild tupfte etwas Glitzerndes von ihrer Wange und aus dem Kinderzimmer rief es:
„Papa! Paaapaaaa!“
Ich lächelte und gleichzeitig wurde mir schlecht. Keine Zukunft. Dieser Gedanke rasselte mir direkt vom Kopf in den Magen. Ich drehte mich Richtung Kinderzimmer und die Welt entglitt. Kreislaufprobleme. Das Atmen wurde schwer. Panikattacke. Das Herz raste. Ich musste mich regelrecht ins Bad schleppen, und spritzte kaltes Wasser in mein Gesicht, um wieder runter zu kommen. Es funktionierte nicht. Das Badezimmer begann zu schaukeln, wurde kleiner, drohte mich zu zerquetschen und nahm mir die Luft. Raus, einfach nur raus.
Irgendwie schaffte ich es auf dem Weg nach draußen ein paar Sachen anzuziehen. In einer Gasse hinter unserem Wohnhaus ging ich in die Knie und würgte. Viel kam aber nicht, mein Magen war leer, und obwohl der Uringeruch in dem Durchgang meine Übelkeit noch verstärkte, richtete ich mich auf und ging wieder zurück in die Wohnung. Meine Frau war schon fertig, als ich zur Tür hereinkam.
„Wo kommst du denn her?“
„Briefkasten.“
„Okay, ich muss los. Bis heute Abend.“
Kein Küsschen, sie war einfach verschwunden. Vor mir stand die Kleine, zuckersüß lächelnd. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu heulen anzufangen. Keiner konnte verstehen, was im Augenblick mit mir los war. Schon gar nicht meine vierjährige Tochter.
Völlig benebelt brachte ich Lana in die Kita. Ich empfand es nicht als sinnvoll, sie jetzt aus ihrem gewohnten Alltag zu reißen. Vor allem nicht, da ich mich selbst in einem so unsäglichen Zustand der Verwirrung befand. Ich musste meine Fassung zurückgewinnen, um dann, wenn es offiziell war, eine Stütze für meine Lieben sein zu können. Niemandem nützte es etwas, wenn ich jetzt den Boden unter den Füßen verlöre und damit alle belastete.
Auf dem Rückweg kam ich ins Grübeln, ich trug immer noch die achtlos übergestreiften Sachen und sah nicht besonders gesellschaftsfähig aus, trotzdem wurde mir in der Straßenbahn keine große Beachtung zuteil. Jeder war mit sich selbst beschäftigt. Die Blicke der Menschen gingen ins Leere. Ich konnte sehen, wie sie ihre Probleme wälzten, Pläne machten oder vor sich hinträumten. Keiner war wirklich da, alle nur Hüllen, die ihr Bewusstsein von Punkt A zu Punkt B brachten, um sich vielleicht dort mit der Realität auseinanderzusetzen. Der Gedanke belustigte mich, weil mir plötzlich klar wurde, dass die eine Realität nicht existiert. Jeder lebt in seiner eigenen Wirklichkeit und ist abgetrennt von der Wirklichkeit seiner Mitmenschen. Nun ja, jedenfalls bis zu dem Moment, an dem alle erfahren, dass ihr Ende unweigerlich bevorsteht. Dann würde alles menschliche Streben seine Bedeutung verlieren und vielleicht der wahre Sinn erkennbar werden - niemanden würden mehr unbezahlte Rechnungen oder die nächste Gehaltserhöhung interessieren. Es würde egal sein, was die Nachbarn oder die Eltern denken, alle wären am gleichen Punkt.
Noch drei Tage. Eigentlich hätte ich zur Arbeit gehen müssen, aber ich konnte nicht. Ich saß zu Hause vor dem Fernseher und schaltete durch die Kanäle. Keine Nachrichten zum bevorstehenden Weltuntergang. Keine Sondersendung. Nicht das geringste Anzeichen, das darauf hindeuten könnte. Ein ganz normaler Tag für alle Unwissenden. Doch irgendwo waren die Eingeweihten und bereiteten alles vor. Nur ich tat nichts, fühlte mich hilflos und ausgeliefert, nicht einmal in der Lage mit irgendwem darüber zu reden. Offiziell wusste ich ja auch gar nichts. Die Meldungen konnten aber jeden Moment losgehen und mit ihnen das Chaos auf den Straßen. Die Verwirrung der restlichen Bevölkerung würde in den ersten Stunden alles durcheinanderbringen. Vor meinem inneren Auge spielten sich Hamsterkäufe, Aufstände, Plünderungen und Anarchie ab.
Mit einem entsetzten Keuchen sprang ich auf. Ich Idiot! Ich musste sofort zurück und Lana holen, es war nicht auszudenken, was passieren konnte, sobald es alle wussten. Die ersten Reaktionen würden höchstwahrscheinlich unlogisch und panisch ausfallen. Ich musste sofort mein Kind holen und Lebensmittel kaufen. Ich hatte nicht richtig nachgedacht, sie hätte bei mir bleiben müssen. Die Erkenntnis meiner Dummheit brachte mich fast zur Verzweiflung. Das Wissen, dass ich wertvolle Zeit vergeudet hatte, machte mich wahnsinnig. Mein ganzer Vorsprung vergeudet mit Lethargie und Verwirrung. Die Bilder vor meinem inneren Auge ließen mich in Hektik verfallen, nichts funktionierte mehr auf Anhieb, selbst Schnürsenkel binden misslang. So schnell wie es ging raste ich die Treppe hinunter und scheiterte daran das Fahrradschloss zu öffnen. Auf öffentliche Verkehrsmittel durfte ich mich nicht länger verlassen, sie konnten jederzeit ausfallen. Zum Glück hatte ich einen Kindersitz am Fahrrad. Mit Öffnen des Schlosses atmete ich kurz auf, sprang auf den Sattel und trat in die Pedale, doch schon in der ersten Kurve, die ich viel zu eng nahm, streifte ich mit meiner Schulter eine Hausecke und schlug mit voller Wucht auf dem Boden auf. Benommen versuchte ich, wieder aufs Rad zu kommen. Der Sturz war allerdings so schmerzhaft gewesen, dass ich kaum weiterfahren konnte. Ich biss die Zähne zusammen. Für meine Familie. Die ersten Meter waren kaum zu ertragen, da sich immer mehr Stellen an meinem Körper meldeten, die Blessuren davongetragen hatten. Je mehr ich jedoch an Fahrt aufnahm, desto besser kam ich voran und motivierte mich durchzuhalten. Ein Rennen gegen die Zeit. Ich war so dumm, natürlich würde Panik ausbrechen. Ich war panisch. Ein Rennen um die letzten Reserven, Fanta, Cola, Zigaretten und Schnaps. Ein Rennen für die letzten Stunden Genuss. Ich hätte Sie anflehen sollen bei mir zu bleiben. Auf Knien rutschend, um gemeinsame Zeit betteln sollen. Ein Rennen um die letzten Stunden mit der Familie.
Die nächste Kreuzung zwang mich zu einem Halt. Kurze Verschnaufpause. An der roten Ampel, ein Fahrzeug neben mir, drinnen saßen ein Mann und eine Frau, die gebannt auf ihr Radio starrten und gespannt zuzuhören schienen. War das die Meldung? Erfuhren sie gerade, was uns bevorstand? Ich musste mich beeilen. Die Ampel wurde grün, und jeder meiner Tritte von stechendem Schmerz begleitet. Es war derselbe Weg zur Kita, dem auch die Schienen der Straßenbahn folgten. Ich versuchte, in den Gesichtern der Menschen, die mir entgegenkamen, Anzeichen zu entdecken, die auf die Bekanntmachung des Weltuntergangs hindeuteten, aber ich war mir nicht sicher. Bis ich an einer Hauswand vorbeikam, die am Morgen noch rein und weiß gewesen war, auf der nun mit frischer Farbe in roten Lettern stand: DAS ENDE IST NAH.
Völlig durchgeschwitzt erreichte ich die Kita und betrat das Gebäude wie ein alter Mann auf der Suche nach einem Arzt. Mit einiger Mühe schaffte ich die Treppe in die Etage mit Lanas Gruppenraum und stand einer schockiert dreinblickenden Erzieherin gegenüber, die fragte:
„Was machen Sie denn hier?“
„Ich will Lana abholen.“
„Aber Ihre Frau war schon hier. Lana ist nicht mehr da.“
Sie wusste es, es musste jetzt in den Nachrichten sein. Ganz frisch, so, dass die Information noch nicht bis überall vorgedrungen war.
„Was hat sie gesagt?“, wollte ich wissen.
Die Erzieherin sah aus, als wollte sie am liebsten nicht mit mir reden.
„Sie hat nichts gesagt, vielleicht versuchen Sie besser Ihre Frau anzurufen.“
Okay, die Erzieherin wusste anscheinend noch nichts. DAS ENDE IST NAH - mehr konnte ich in diesem Moment nicht denken. Auf der Suche nach meinem Telefon, ich durchwühlte alle meine Taschen, schossen mir weitere Gedanken durch den Kopf, ich musste zurück. Am besten ich machte mich wieder auf den Weg nach Hause. Das Telefon hatte ich wohl in der Wohnung liegen lassen und meine Familie würde dort auf mich warten. So konnte ich zumindest noch schnell in einen Supermarkt, Lebensmittel einkaufen. Meine Frau hatte es irgendwie im Büro erfahren, wenn sie mich erreichen wollte, dann auf meinem Telefon. Ich schlug mir gegen die Stirn, Idiot - diese Weltuntergangssache brachte mich ganz durcheinander.
Im Supermarkt war alles ruhig, keiner rannte wie ein Wahnsinniger durch die Gänge und schubste den Inhalt der Regalreihen wahllos in seinen Wagen, so wie ich mir das vorgestellt hatte. Es fiel mir äußerst schwer, die Beherrschung nicht zu verlieren. Unaufhaltsam verstrichen die Minuten. Mit jeder Sekunde, die verging, wurden die Verbleibenden wertvoller. Schweiß lief an mir herab, mein Herz klopfte, die Menschen um mich herum sahen mich an, als hätte ich eine ansteckende Krankheit und wichen vor mir zurück. War denn von denen noch keiner im Bilde? Dass Ganze passte nicht zusammen. Meine Frau wusste es, sie hatte Lana schon in Sicherheit gebracht. So eine Nachricht müsste sich schneller verbreiten und die Menschen bis aufs Mark erschüttern, weit mehr noch als ein 11. September. In der Schlange zur Kasse atmete ich tief ein und aus, um mich zu beruhigen. Eine ältere Dame mit vollem Einkaufswagen fragte, ob alles in Ordnung sei, und ließ mich nach vorn. Zum Glück hatte ich überhaupt Geld dabei, allerdings war der Wagen viel zu voll, um all die Sachen, die ich gekauft hatte mit dem Fahrrad zu transportieren. Kurzerhand machte ich mich mit Einkaufswagen auf dem Nachhauseweg.
DAS ENDE IST NAH. Da war sie wieder, die frische Schrift auf der Hauswand. Den Einkaufswagen im Laufschritt vor mir her schiebend zog sie an mir vorüber. Eine unglaubliche Botschaft, die normalerweise niemals jemand ernst nehmen würde. Vielleicht war das die Lösung. Die Nachricht wurde verkündet, aber niemand nahm sie ernst. Hatten nicht schon viele den Weltuntergang vorhergesagt und lagen falsch. Religionen, Sekten, Wissenschaftler, wieso sollte man irgendwem glauben, wenn alle Tatsachen dagegen sprachen. Kein Feuerball am Himmel, der auf die Erde zurast, keine Erdbeben, kein Atomkrieg, keine außerirdische Invasion, keine vernünftige Erklärung. Ich wusste es allerdings. Meine Quelle war sicher und meine Frau wusste es jetzt auch, hoffentlich. Ein anderer Grund fiel mir nicht ein, warum sie sonst Lana abgeholt haben könnte.
Als ich die letzte Stufe erklommen hatte, fiel mir fast der Schlüssel aus den zittrigen Fingern. Drinnen war auf den ersten Blick alles so, wie ich es verlassen hatte. Sofort schaltete ich den Fernseher ein und landete bei der Wiederholung einer alten Serie. Mein Telefon lag auf dem Wohnzimmertisch und blinkte, sechzehn entgangene Anrufe, alle von meiner Arbeit. Mir wurde schwindelig. Was war hier los? Mit der eingespeicherten Kurzwahl wählte ich die Nummer meiner Frau, es meldete sich die Mailbox:
„Dies ist der Anschluss von … “ das Ergebnis blieb bei jedem Versuch dasselbe. Resigniert setzte ich mich wieder vor den Fernseher und wartete. Wo waren denn die Meldungen, wieso blieb alles wie immer? Dann klingelte es. Der Bruder meiner Frau. Fast hätte ich den Anruf abgelehnt, weil ich mit der berührungssensitiven Oberfläche des Handys in meiner Erregung nicht zurecht kam.
„Ja. Ja. Ich bins, was ist los? Sie sind bei dir. Bei euch. Gut. Ich kann kommen. Sie abholen oder ganz zu euch kommen, was euch lieber ist. Nein? Was meinst du damit, das ist keine gute Idee? Ihr wisst doch, was los ist. Dann müssen wir zusammen sein. Nein. Was redest du denn da? Ja, das meine ich doch, das Ende. Nein wir haben keine Zeit. Woher soll ich Zeit nehmen. Es sind nicht mehr ganz drei … “
Plötzlich schrie er mich an, ich solle mich jetzt mal zusammenreißen und nicht so eine Szene machen. Ich hätte genug Zeit gehabt mir Mühe zu geben, und dass ich jetzt, wo ich spüre, das da etwas in der Luft liegt natürlich Himmel und Hölle in Bewegung setzen möchte, nur um noch irgendwie die Kurve zu kriegen. Er sagte, dass es vorbei ist, dass sie genug von mir hat, dass sie mit Lana bei ihm und seiner Familie wäre, und dass ich mich dort ja nicht blicken lassen solle. Weil sie Zeit bräuchte. Gib ihr Zeit hatte er immer wieder gesagt.
DAS ENDE IST NAH. Eine Botschaft auf einer Wand. Das war alles. Mehr hatte es nicht gegeben. Keine Sondersendung. Keine Radiomeldung. Nichts. Man hatte wohl beschlossen, dass es so einfacher für alle würde – ohne Vorwarnung. Vielleicht hätte man es erkennen können, wenn man die Anzeichen bemerkte. Signale aus einer anderen Welt, schwer zu entschlüsseln, aber da. Ich saß auf einer Bank, unser Aussichtspunkt über der Stadt und gleich würde es so weit sein. Für mich nur eine weitere Welt, die verschwinden würde.