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Berlin bei Nacht

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08.07.2012
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Berlin bei Nacht

Noch bevor Christian Stammer den Stettiner Park erreichte, packte ihn jenes Gefühl der Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, das er in seinen Sitzungen als Tatortdepression bezeichnet hatte. Stammer hörte das im Morgenwind flatternde Absperrband, hörte den Funkverkehr aus den Streifenwagen. Dort, wo am Eingang des Parkgeländes ein paar Beamte schweigend in der Dämmerung standen und den Spezialisten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zuschauten, dort lauerte der Abgrund.
»Morgen, Christian.« Man konnte Brasch und Reckling ansehen, dass es kein guter Morgen werden würde. »Die Jungs von der Spusi sind gleich so weit.«
»Was haben wir?«
»Mädchen oder junge Frau«, erwiderte Brasch. »Wahrscheinlich erdrosselt. Wurde kurz nach fünf gefunden.«
»Keine Hinweise auf ihre Identität?« Stammer verfolgte, wie die Kriminaltechniker im Schein ihrer Arbeitslampen einen bleichen Körper umkreisten, der zusammengekrümmt unter einem Schwarzdornstrauch lag.
»Naja, nichts Definitives zumindest.«
»Heißt?«
Brasch rieb sich das Kinn. »Auf ihrem Oberschenkel steht Asylantenhure, mit einem Marker geschrieben.«
Stammer streckte den Rücken. Irgendwo zwischen den Schulterblättern knackte ein Wirbel. »Schon was zum möglichen Todeszeitpunkt bekannt?«
»Ich habe erst kurz die Leichenflecken sehen können«, sagte Reckling. »Schätze, sie ist etwa seit zwei Stunden tot. Genauer kann ich es erst nach der Untersuchung sagen.«
Stammer schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk. »Also, gegen vier.«
In diesem Moment zuckte ein Blitzlicht auf und riss den Körper der Toten aus dem Schattenspiel der Arbeitsleuchten. Der schimmernde Leib schwebte ein, zwei Sekunden lang im Dunst des anbrechenden Tages, dann löste sich das Nachbild auf.
Als Stammer kurz darauf neben der Leiche stand, spürte er, wie ihn die Kräfte verließen, mit denen er seit Jahren gegen all die Dummheit und Niedertracht ankämpfte, die Leben und Tod in dieser Stadt bestimmten. Er hatte es satt. Er hatte es so satt, sich mit den Motiven von Leuten zu befassen, die bereit waren, einem Nachbarn für ein paar Geldscheine den Schädel einzuschlagen. Er hatte es satt, sein Leben mit der Jagd nach Mördern und Vergewaltigern zu verschwenden, die es immer geben würde, egal, welche Strategien die Gesellschaft entwickelte.
»Verdammt jung, die Kleine.« Reckling hockte sich zu der Leiche. Er setzte seine Arbeitstasche ab, öffnete sie und holte ein Paar Latexhandschuhe heraus.
»Also gut«, sagte Stammer, und nachdem er die in krakeligen Großbuchstaben geschriebene Schmähung betrachtet hatte, warf er einen Blick auf die Reifenspuren, die von der Straße aus dicht an den toten Körper heranführten. »Brasch, was siehst du?«
Brasch räusperte sich. »Unbekleidete Tote, etwa sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Liegt auf der linken Seite, beide Beine angewinkelt, embryonalartige Stellung.« Es klang, als redete er zu sich selbst. »Arme hinter dem Rücken gefesselt, schwarzer Kabelbinder an den Handgelenken.«
Stammer, die Hände in den Hosentaschen, starrte auf das Mädchen hinab. Es wurde Zeit, sich einzugestehen, dass er sich verirrt hatte. Wie konnte es nur so weit kommen? Wann war er zu dem Mann geworden, der seinen Job hasste? Offenbar erteilte ihm das Schicksal die gleiche Lektion, die das Leben seines Vaters ruiniert hatte.
»Herkunft beziehungsweise ethnische Zughörigkeit dem ersten Eindruck nach ...« Brasch unterbrach sich und sagte leise zu Reckling: »Ich tippe auf Naher Osten. Was sagst du?«
Reckling, der dem Mädchen gerade die blutverklebten Haare aus dem Gesicht strich, hielt inne und sagte: »Seh ich auch so.«
Die Beiden wechselten einen Blick.
»Mach weiter«, sagte Stammer.
»Ich kenne die Gegend und den Park.« Brasch sah sich um. »Tagsüber hoch frequentiert. Touristen-Hotspot. Morgens sind hier viele Leute unterwegs, die zu den Öffentlichen wollen. Seltsam, dass die Leiche hier abgeladen wurde.«
In der Tat. Dass die Kleine nicht hier im Park so zugerichtet worden war, lag auf der Hand. Man hatte dieses Mädchen misshandelt und getötet und dann abgeladen wie einen Müllsack. Dazu passten die Reifenspuren. Stammer versuchte, sich den Schock vorzustellen, den der Fund des toten Körpers ausgelöst haben musste. Das Ganze wirkte wie eine Provokation.
»Als ich noch bei der Sitte war, hatten wir hier ein paar Nachteinsätze.«
Stammer sah ihn an. »Weshalb?«
»Es gab da zwei, drei Luden, die abends ihre Mädchen hier laufen ließen.«
»Hier?«
»Ja, gibt 'ne Menge verborgener Ecken im Park und so viele Ausgänge wie in einem Karnickelbau.«
»Verstehe.«
»Die Reifenspuren könnten vom Täter stammen«, sagte Brasch. »Er fährt rückwärts die Einfahrt hoch, zieht die Tote aus dem Wagen und lässt sie hier liegen.«
»Und weiter?«
»In diesem Fall würden sich Spuren im Wagen befinden, vielleicht an den Sitzen ...«
»Was siehst du noch?«
»Der Körper der Toten weist massive Verletzungen auf, die ihr wahrscheinlich durch Schläge oder Tritte zugefügt wurden. Die rechte Schulter ist ausgerenkt, an der Wange klebt Blut.«
»Schon gut.« Stammer winkte ab. »Den Teil übernimmt der Doc.«
»Naja«, sagte Brasch. »Sieht verdammt nach einem Null Sechsundvierzig aus, mit anschließendem Mord.«
Stammer atmete geräuschvoll aus. »Richtig.«
»Ich kontaktiere die Jungs von der Sitte. Vielleicht kennen die sie.«
Ein Mann aus dem Team der Kriminaltechniker trat zu ihnen.
»Wurden irgendwelche Kleidungsstücke gefunden?«, fragte Stammer.
»Nein, gar nichts«, erwiderte der Mann. »Wir suchen den Park jetzt großräumig ab.«
»Okay. Wie sieht's mit Spuren aus? Schuhabdrücke?«
»Wir haben ein paar lausige Abdrücke. Bei dem Untergrund ... mache ich mir da keine großen Hoffnungen. Aber es gibt ja diese Reifenspuren hier.«
»Ein Transporter?«, fragte Stammer.
»Ja, gut möglich«, gab der Kriminaltechniker zurück. »Sieht nach einem Leicht-LKW-Reifen aus.«
Er zeigte auf die Nummerntafeln am Boden direkt neben der Toten. »Wir konnten außerdem ein bisschen Kleinkram sicherstellen. Zigarettenstummel, Streichholzreste und ein Papiertaschentuch. Könnte alles schon länger hier liegen.«
Stammer nickte. »Trotzdem. Gleich ins Labor damit. Vielleicht haben wir einen Treffer beim DNA-Check.«
Nachdem der Mann von der Spurensicherung gegangen war, wandte sich Stammer an Brasch: »Kümmere dich um die Koordination der Passanten- und Anwohnerbefragungen. Ich will wissen, ob irgendjemand was gehört oder gesehen hat. Verdächtige Personen, Fahrzeuge, das ganze Programm. Schärfe den Kollegen ein, dass sie sich nicht einfach abwimmeln lassen sollen. Wenn hier heute Nacht irgendwo eine Wagentür geknallt hat, will ich es wissen. Und lass im Kommissariat die Vermisstenmeldungen der letzten Tage prüfen.«
»Okay, bin schon weg.«
»Warte.«
»Ja?«
Stammer senkte die Stimme. »Reckling soll dir nachher aus der Gerichtsmedizin ein paar Fotos vom Gesicht des Mädchens schicken. Benutze nicht die Fotos von hier. Du nimmst dir vier oder fünf Leute, und ihr checkt die Flüchtlingsunterkünfte. Beginnt mit denen in der Nähe, also Prenzlauer Berg und Mitte. Wendet euch an die Betreuer. Vielleicht erkennt sie jemand.«
»Alles klar.«
Stammer hockte sich zu Reckling, der den Hals des toten Mädchens untersuchte.
»Was sagt der Rechtsmediziner?«
»Geschlossene Strangmarke und Stauungsblutungen. Ich tippe auf Erdrosseln mit einem Seil, das dann mit einem Stock oder Stab zugedreht wurde.«
»Scheiße.«
»Ja. Die Marke ist deutlich, aber nicht scharf abgegrenzt. Ich vermute, die Schlinge hat sich mehrfach gelockert und wurde dann wieder zugezogen.«
»Abwehrbewegungen?«
»Möglich«, erwiderte Reckling. »Oder der Killer hat sie gefoltert.«
Stammer ließ seinen Blick über den geschundenen Körper des Mädchens wandern. »Sind diese Spuren das, wofür ich sie halte?«
»Ja, angetrocknete Spermareste und Speichelfäden«, sagte Reckling. Er stand auf und ging um die Leiche herum. »Hier hinten, an den Beinen, vermischt mit all dem Blut, das ist Kot.«
»Hm.«
»Der Abgang von Urin und Kot ist typisch bei allen Strangulationsarten.«
Reckling rückte seine Brille zurecht. »Trotzdem kommen auch andere Todesursachen in Frage«, sagte er. »Du siehst ja die Hautabschürfungen und Hämatome. Bei solchen Blutunterlaufungen in der Brust- und Bauchregion sind schwere innere Verletzungen nicht unwahrscheinlich.«
Stammer hob den Blick von der Toten und betrachtete seinen Kollegen. Es war schwer einzuschätzen, was in Reckling vorgehen mochte. Der Mann hatte in seinem Berufsleben Hunderte von Toten gesehen. Doch Stammer konnte sich nicht vorstellen, dass ein Fall wie dieser den Arzt völlig kalt ließ, dass dieses Mädchen in den Augen des Mediziners lediglich eine fachliche Herausforderung darstellte.
»Ich nehme gleich jetzt eine Reihe von Abstrichen«, sagte Reckling. »Blut, Urin, Sperma, Kot.«
Stammer erhob sich. »Okay.«
»Danach werde ich jemanden rufen, der mir hilft, die Leiche umzudrehen. Du musst nicht bleiben. Ich gebe dir nachher den vorläufigen Bericht. Gründlich kann ich sie sowieso erst untersuchen, wenn ich sie auf dem Tisch habe. Du musst nicht warten.«
Stammer zog ein Klappmesser aus seiner Manteltasche. Er ging um den Körper des toten Mädchens herum und öffnete das Messer. Reckling beobachtete ihn schweigend.
Mit einem Schnitt löste Stammer die Fessel an den Handgelenken des Mädchens.
»Ich bleibe und helfe dir, sie umzudrehen«, sagte er.

Die Tenpoint Carbon Fusion verschoss Pfeile mit einer Geschwindigkeit von mehr als einhundert Metern pro Sekunde. Dennoch gelang einigen Tieren das Kunststück, dem heranrasenden Pfeil auszuweichen. Thomas Rasske nannte sie Ducker, und er hatte ein Gespür für die verfluchten Biester. Es waren die argwöhnischen Beobachter, die Zögerer und Trippler, chronisch nervöse Tiere, die genau im Moment des Schusses einen Satz machten und dem Jäger einen sicheren Kill verdarben. Doch Rasske wusste, wie man mit ihnen umzugehen hatte. Ihm hüpfte so ein Ducker nicht einfach davon.
Während er den Jährlingsbock durch das Zielfernrohr seiner Armbrust anvisierte, genoss Rasske die vertrauten Empfindungen des Jagdfiebers. Da perlte etwas das Rückgrat empor, ein lustvoller Schauer, die Vorfreude darüber, den Abzug durchzudrücken und den Pfeil davonschwirren zu sehen. Dieser Rehbock dort lag bereits als Kadaver im Laub, daran bestand kein Zweifel. Nichts würde das verhindern.
Das Reh stand unter den tief herabhängenden Ästen einer Fichte und hob witternd den Kopf. Irgendetwas beunruhigte den Bock. Doch Rasske hatte sich gegen den Wind herangepirscht. Schließlich war er kein Anfänger, seine Abschussliste konnte sich sehen lassen. Elf oder zwölf Rehe, einige Stücke Rot- und Damwild, sogar einen verfluchten Keiler hatte er zur Strecke gebracht. Und das alles mitten im Biosphärenreservat, mit einer Waffe, die man frei im Sportfachhandel oder im Internet erwerben konnte. Das bewies so einiges: Jeder hatte die Freiheit, alles zu tun. Jeder hatte die Möglichkeit, zu nehmen, was immer man wollte. Vorausgesetzt, man ließ sich nicht die Birne weichquatschen, von diesen Kanaillen, die meinten, das Sagen zu haben.
Beim Wildern in der Schorfheide bestand der entscheidende Trick darin, die Beute im Wald zurückzulassen. Klar wurden andauernd Idioten erwischt, die glaubten, man könnte eine blutige Hirschkeule quer durch den Forst schleppen. Doch Rasske jagte nicht, um sich am Abend ein Stück Fleisch in die Pfanne zu hauen. Er jagte, um den Kopf frei zu bekommen und um die Sinne zu schärfen. Besonders nach Nächten wie der letzten zog es ihn in den Wald. Das Rascheln der Zweige und Blätter, das Grün von Fichten und Kiefern, der Geruch des Buchenlaubs – all das half ihm, wieder zu sich selbst zu finden.
Die Amis nannten es Jumping the String, wenn Wild dem Pfeil eines Bogens oder einer Armbrust davon sprang. Doch die Bezeichnung passte nicht, wie Rasske wusste. In Wahrheit bestand die erste Bewegung eines Duckers in einem Abtauchen, so schnell, dass das Auge kaum folgen konnte. Aus diesem Grund schob Rasske den Leuchtpunkt seines Jagdvisiers jetzt auch tief nach unten, hinter das Blatt des Bocks und dann noch ein gutes Stück abwärts.
Diese Beute würde ihn nicht austricksen. Rasske holte sich, was er wollte. Immer. Brauchte er Geld, wusste er, wie man es beschaffte. Brauchte er einen Kampf, wusste er, wie man das arrangierte. Und brauchte er einen Fick, dann fand sich auch da eine Lösung. Hin und wieder ließ sich das alles auch in einer einzigen Session miteinander verbinden. Dann traf er sich mit den Jungs und machte einen drauf.
Rasske atmete aus und suchte den Druckpunkt des Abzugs. Mit einem Zischen schnellte der Pfeil davon, und die Leuchtnocke zog eine orangefarbene Spur durch den Halbschatten des Waldes. Der Bock vollführte einen abrupten Sprung. Er setzte zur Flucht an, doch schon einen Augenblick später wälzte er sich als zuckendes Bündel im Herbstlaub. Rasske beobachtete, wie das Tier vergeblich versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Der Todeskampf würde ein paar Minuten dauern, aber die Sache war gelaufen.
Rasske schulterte die Armbrust und ging langsam auf das Reh zu. Mehr als einmal hatte er die Panik in den Augen seiner Beute gesehen, und dieser Anblick löste zwei seltsam widersprüchliche Empfindungen in ihm aus: Erregung und Ekel.
Während er aus den Augenwinkeln verfolgte, wie der Bock hilflos mit den Hinterläufen in die Luft schlug, näherte sich Rasske dem Pfeil, der einige Zentimeter tief im Waldboden steckte. Ein sauberer Treffer demnach, hatte glatt das Herz und beide Lungen durchschlagen. So sah Präzision aus, und war diese Fähigkeit, sein Vermögen, zielstrebig und effizient zu handeln, nicht auch der Grund für seine Überlegenheit? Es lag doch auf der Hand, dass er besser war, als all die Schwachköpfe, die ein durchschnittliches Leben in Routine und Monotonie führten. Die nicht wussten, was es bedeutete, sein eigener Herr zu sein.
Rasske wandte sich dem sterbenden Tier zu, dessen Flanken von Krämpfen geschüttelt wurden. »Das war's für dich«, sagte er und zog sein Jagdmesser.

Stammer hatte im Kommissariat gerade den Mantel abgelegt, da meldete sich bereits die Chefetage. Hartweg, der Kommissariatsleiter, war der geborene Politiker. Bei Stammers Kollegen galt er dennoch als respektabler Mann. Offenbar hatte er auf seinem Karriereweg noch niemandem in den Rücken geschossen, und das zeugte von Charakter.
»Bis auf Weiteres leiten Sie die Ermittlungen«, sagte der Kriminaldirektor am Telefon mit einer Betonung, die ahnen ließ, dass ihm der Fall Kopfschmerzen bereitete. »Schließen Sie sich mit der Staatsanwaltschaft kurz, und passen Sie bei der Pressemitteilung auf. Ich möchte nicht, dass Begriffe wie Asylant oder Flüchtling fallen.«
»Ist klar.«
»Hat die Spurensicherung im Park noch was gefunden?«
»Nichts, was sich irgendwie mit der Toten in Verbindung bringen lässt.«
»Okay, halten Sie mich auf dem Laufenden.«
»Sicher.«
»Und noch was, Stammer.«
»Ja?«
»Sie haben heute Abend einen Termin.«
»Ich weiß.«
»Tischen Sie mir morgen nicht die Ausrede auf, dass Sie wegen des Falls zu beschäftigt waren.«
Nachdem er aufgelegt hatte, wählte Stammer die Nummer von Brasch.
»Wie sind die Anwohnerbefragungen verlaufen?«
»Ist bislang nicht viel bei rausgekommen. Ein Rentner meint, er hätte am Abend einen dunkelgrünen Lieferwagen vor dem Park stehen sehen.«
»Klingt nach Grünflächenamt. Überprüfe, wann die das letzte Mal im Park gearbeitet haben und ob die solche Transporter verwenden.«
»Okay.«
»Was ist mit den Passanten? Der Typ, der sie gefunden hat ...«
»Ist sauber. Hat sonst niemanden gesehen. Auch von den anderen Leuten, die in der Nähe waren, kam nichts Verwertbares.«
Da legte jemand ein totes Mädchen im Stettiner Park ab, blutig geprügelt und vergewaltigt, und kein Mensch hatte etwas gehört oder gesehen. Es war zum Verzweifeln. Braschs Freunde bei der Sitte wussten ebenfalls nichts. Niemand dort kannte die Kleine.
»Die Vermisstenmeldungen?«
»Nichts bei den aktuellen. Ich lasse jetzt die Meldungen des letzten Monats prüfen.«
»Gut. Hat dir Reckling die Fotos geschickt?«
»Yep. Vier Leute sind schon unterwegs. Ich fahre jetzt zum Flüchtlingsheim in der Danziger.«
»Okay. Schön sachte. Die Geschichte könnte uns um die Ohren fliegen.«
»Ist klar. Was hat der KL gesagt?«
»Hat mir die Leitung der Ermittlungen übertragen. Ich gehe gleich rüber zum Staatsanwalt und dann in die Pathologie.«
»Gut, bis später, Christian.«

In der Hütte sah es furchtbar aus, und das überraschte Rasske nicht. Gegen zehn Uhr hatte er kurz mit Wallack telefoniert und konnte sich deshalb vorstellen, wie die frühen Morgenstunden hier verlaufen waren. Die Geschichte stank zum Himmel. Er fühlte es in den Knochen, die Sache konnte zum Problem werden. Es waren gute Jungs, aber sie brauchten ihn. Ohne ihn machten sie Fehler. Nach dem verpatzten Deal waren sie offenbar noch einmal hergekommen, um weiter zu pokern und zu saufen. Danach hatte sich jeder von ihnen in seine Wohnung verdrückt.
Rasske sah sich um und fluchte. Es hasste soviel Chaos und Dreck. Er musste den Jungs noch eine Menge beibringen. Dass ein Mann nicht unter den Tisch kotzte, egal wie betrunken er war. Dass man am Morgen nach einer Party Ordnung schaffte. Und dass man niemals unvorbereitet so eine verfluchte Nacht-und-Nebel-Aktion durchzog.
Aber verdammt noch mal, war die ganze Scheiße nicht auch seine eigene Schuld? Hätte er, der Alpha, nicht die Pflicht gehabt, bis zum Ende dabei zu bleiben?
Rasske rieb sich den Nacken. Er fluchte abermals, machte ein paar Schritte durch den Raum. Diesen Stall auszumisten, das konnte gut zwei Stunden dauern. In einer Kiste unter dem Spültisch fand er eine Packung mit Müllbeuteln. Während er Bierflaschen und Getränkedosen aufsammelte und durchweichte Pappschachteln samt Essenresten in Müllsäcke beförderte, gingen ihm die Bilder der vergangenen Nacht durch den Kopf. Das war schon eine verdammt gute Session. Soviel Spaß hatten sie alle zusammen lange nicht mehr gehabt. Ein paar geile Kämpfe waren dabei gewesen. Selbst Wallack, ein Bulle von einem Mann, hatte einmal am Boden gelegen, und das sollte etwas heißen.
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als sein Blick auf den schwarzen Kapuzenpulli fiel, der zerrissen und verdreckt in einem Winkel der Hütte lag. Diese Schlampe ... ein echter Glückstreffer. Ja, so sah es aus, das gute Leben. Frei, selbstbestimmt. Ihm und den Jungs schrieb niemand vor, was sie zu tun und zu lassen hatten. Sie lebten ihren eigenen Kodex. Sie durchschauten die Lügen, und sie waren auf die kommende Katastrophe vorbereitet. Dabei ging es nicht nur um das Horten von Lebensmitteln und Wasser, um das Bunkern von Ausrüstung, von Diesel und Medikamenten. Überleben war eine Frage der geistigen Einstellung. Und die konnte man nicht einfach an- und ausschalten.
All die Spinner, die glaubten, sie wären bereit, weil sie ein paar Vorräte angelegt und einen Survivalkurs besucht hatten, verstanden nicht, dass letztlich nur diejenigen überleben würden, die bereits jetzt nach dem Kodex handelten. Es machte keinen Sinn, auf die Katastrophe zu warten.
Rasske packte ein paar Müllsäcke und brachte sie nach draußen. Auf dem Schotterweg vor der Hütte stand der alte Van, den sie alle seit Jahren benutzten. Gemeinschaftseigentum gewissermaßen. Rasske öffnete die Seitentür.
»Scheiße nochmal.« Der Boden des Laderaums im Inneren des Transporters war blutverschmiert. Rasske schlug mit der Faust auf das Dach des Lieferwagens. Diese Idioten hatten nicht mal den Van gesäubert.

Zuerst nahm man das Beißen scharfer Reinigungsmittel wahr, dann folgte der Geruch des Todes. Ein süßlicher Dunst, der einen metallischen Geschmack auf der Zunge hinterließ. Oder bildete Stammer sich das nur ein? Obwohl er viele Male hier unten vor dem eingemauerten Seziertisch gestanden hatte, um Recklings Analysen zu hören, frustrierte ihn die Gerichtsmedizin wie am ersten Tag.
Todeszeit, Todesart, Todesursache – damit befasste sich der Arzt, wenn eine Leiche vor ihm auf der Stahlplatte lag, und die Gespräche zwischen dem Ermittler und dem Pathologen in diesen Kellerräumen kreisten in Endlosschleifen bei jedem Toten aufs Neue um diese zermürbenden drei Fragestellungen.
Reckling, in Kittel und schwerer grüner Schürze, begrüßte Stammer mit den Worten: »Das wird dir nicht gefallen, Christian.«
Im Schein der Untersuchungslampen wirkte die Haut der Toten fahl und beinahe transparent. Stammer wusste, was es bedeutete, wenn man auf Recklings Tisch landete. Nach der äußeren Leichenschau wurde der Thorax mit einer Rippenschere aufgeschnitten, die Organe der Brust- und Bauchhöhle entnommen, gewaschen, begutachtet und gewogen. Mit Hilfe der Oszillationssäge öffnete Reckling den Schädel, nachdem er Kopfhaut und Gesicht abgezogen hatte. Er schnitt das Gehirn in Scheiben, suchte nach Tumoren und anderen Auffälligkeiten. Am Ende wurden Haut und Gewebe glattgezogen, die Organe zurück in den Körper gelegt und Hohlräume mit Papier ausgestopft. Eine letzte Naht schnürte das Paket zusammen. Und dieses Bündel aus Fleisch und Knochen hier war gestern noch ein lebendiger Mensch, ein Mädchen mit Plänen, Hoffnungen, Absichten.
»Was gibt's, Doc?«
»Also der Reihe nach«, begann Reckling und setzte seine Brille ab. »Geschätzter Todeszeitpunkt - nach Begutachtung der Leichenflecken, der Leichenstarre und Messung der Rektaltemperatur - war heute Nacht zwischen vier und fünf Uhr.«
Stammer betrachtete das Gesicht des Mädchens. Es war ein bleiches, schönes Gesicht, mit sanften Zügen, und von ein paar kleineren Blessuren abgesehen, wirkte es unverletzt. Reckling hatte die Augen der Toten geschlossen. Blendete man den Anblick des misshandelten Körpers aus, konnte man auf die Idee kommen, dieses Mädchen würde irgendwann einfach wieder erwachen, sich die Stirn reiben und sagen: Hey, das war ein mieser Traum.
Mit einer Geste, die auf den Hals der Toten wies, fuhr der Arzt fort: »Dem Abdruck der Strangmarke zufolge, wurde sie mit einer durchgehenden Schlinge erdrosselt, und da ich an ihrem Nacken einige Polypropylen-Kunstfasern gefunden habe, tippe ich auf so etwas wie eine dicke Reepschnur oder ein Abschleppseil im Durchmesser von vierzehn bis achtzehn Millimetern.«
»Du sagtest vorhin etwas von Lockerungen und mehrfachem Festziehen der Schlinge.«
»Ja, möglicherweise wurde sie aufgrund der Mangeldurchblutung des Gehirns ein paar Mal bewusstlos, dann hat man sie wahrscheinlich einfach wieder aufwachen lassen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Schließe ich aus dem Gesamtbild. Ich denke, dass die Strangulation sehr lange dauerte, mehrere Stunden womöglich.«
Stammer presste die Lippen zusammen.
»Ich habe Arme und Beine abgetastet«, sagte Reckling, als Stammers Telefon klingelte.
»Moment, Doc - ja, ich höre.«
»Schlechte Nachrichten.« Es war Brasch. »Die Flüchtlingsunterkunft in der Kremmener Straße brachte den Treffer. Eine Betreuerin von Jugendlichen ohne Eltern hat sie erkannt.«
»Okay.«
»Das Mädchen heißt Nesrin Rahmani, kommt aus Afghanistan, siebzehn Jahre alt.«
»Wurde sie sicher erkannt?«
»Absolut. Die Betreuerin sagte, dass sie gestern Abend zu einer Aikido-Schule im Brunnenviertel wollte, um dort ein Probetraining zu machen. Seitdem wurde sie im Flüchtlingsheim nicht mehr gesehen.«
»Hat man nach ihr gesucht?«
»Nein, ziemliches Chaos dort. Für die Betreuer ist es schwer, den Überblick zu behalten.«
»Okay, schick mir die Adresse der Aikido-Schule. Wir treffen uns dort in einer Stunde.«
Reckling betrachtete Stammer einen Augenblick lang. »Noch mehr schlechte Nachrichten?«
»Ja. Der KL wird durchdrehen ... Okay, mach weiter.«
»Also, wir schicken sie gleich in die Radiologie, aber du kannst sicher sein, dass wir auf den Bildern multiple Knochenbrüche sehen werden. Und das waren nicht nur Schläge mit der Hand. Sieh dir diese Prellungen an. Ich denke, sie wurde mit einem Stock oder einem Knüppel geschlagen.«
»Was noch?«
»Nun, letztlich ist sie in Folge der Strangulation erstickt, aber ich habe außerdem Rupturen an Milz und Leber gefunden. Das führte zu inneren Blutungen. Diese Verletzungen wurden meiner Ansicht nach durch Schläge, Tritte und Hiebe verursacht.«
»Was hast du zum Null Sechsundvierzig?«
»Wie vermutet«, erwiderte Reckling. »Sie wurde vergewaltigt. Ich habe Zeichen für gewaltsame Penetrationen gefunden, vaginal und anal. Die Abstriche vom Fundort sind bereits im Labor und die Proben, die ich eben genommen habe, sind auch unterwegs. Aber dem Gesamteindruck nach vermute ich, dass es mehrere Täter waren.«
»Verdammte Scheiße.«
»Naja, es ist noch nicht amtlich, aber es sollte mich sehr wundern, wenn es anders wäre. An ihrem Körper habe ich Blut von mehreren Personen gefunden, drei verschiedene Blutgruppen. Es ist nicht gesagt, dass dieses Blut von den Tätern stammt, aber ...«
»Ich verstehe.«
»Wir müssen einfach sehen, was die DNA-Proben des Spermas ergeben.«
»Zu dem Marker irgendwas Besonderes?«
»Nein, das war ein gewöhnlicher Permanentmarker mit wasser- und abriebbeständiger Tinte. Kriegst du in jedem Supermarkt.«
Stammer atmete schwer aus.
»Verstehe«, sagte er nochmal. »Wer war Zeuge der Obduktion?«
»Mein Assistent«, antwortete Reckling.
»Gut. Erinnere den Mann an seine Verschwiegenheitspflicht. Das hier darf unter keinen Umständen bekannt werden. Nicht, bevor wir die Sache aufgeklärt haben.«

Wallack und Müller zogen die Köpfe ein.
»Seid ihr völlig irre?« Rasske trat gegen die Wand der Baracke, dass die Scheiben in den Fenstern klirrten. »Tot? Und ihr habt sie in dem scheiß Park abgeladen?«
»War nicht geplant, Tom«, erwiderte Wallack. »Wir wollten zur Übergabe, aber dann ...«
Rasske starrte ihn finster an.
»Auf der Fahrt hat Katz sie noch mal richtig rangenommen«, sagte Müller. »Hinten im Van.«
»Er war total dicht«, ergänzte Wallack. »Dabei muss es passiert sein.«
»Und warum, verdammte Scheiße, habt ihr ihn nicht daran gehindert?«
»Also ich ... ich war auch ziemlich breit«, gab Müller zurück. Er steckte sich eine Zigarette an und spuckte auf den Boden. »Du kennst ja Katz. Manchmal ist der ...«
Rasske konnte es nicht fassen. Diesen Pennern war nicht zu helfen.
»Du hast mir vorhin gesagt, dass der Deal mit den Tschechen geplatzt ist.«
Wallack nickte.
»Und da war dir entfallen, dass ihr die Schlampe gekillt habt?«
»Ich nicht«, sagte Wallack. »Wie gesagt, Katz hat sie fertiggemacht.«
Rasske spürte ein dumpfes Ziehen in der Magengrube. Stráský, ging es ihm durch den Kopf.
»Scheiße, ich dachte, die Tschechen hätten die Aktion abgeblasen.«
Müller schüttelte den Kopf und zog die Schultern hoch. Er schien etwas sagen zu wollen, schwieg aber.
Marek Stráský gehörte zu den skrupellosesten Männern, die Rasske in seinem Leben kennengelernt hatte. Der Typ bezahlte gutes Geld für elternlose Flüchtlingskids und verschacherte sie dann für noch mehr Geld irgendwo in Osteuropa. Es hieß, dass er nicht lange fackelte, wenn jemand so dumm war, ihm auf die Nerven zu gehen. Und in einen Mordfall verwickelt zu werden, den die Presse breitwalzte, würde ihm sicher nicht schmecken.
Rasske fluchte bei dem Gedanken, dass er selbst sich die Frage stellen musste, weshalb er das alles nicht verhindert hatte. Er dachte an den Moment zurück, als er in der vergangenen Nacht auf seine Enduro gestiegen war, müde vom Prügeln, Pokern und Ficken, sattgefressen und ziemlich betrunken. Das Mädchen diesen drei Schwachsinnigen zu überlassen, war ein Fehler gewesen.
»Katz ist ausgerastet«, sagte Wallack. »Wollte sie unbedingt loswerden. Gleich im Stettiner.«
»Diese verdammte Nutte wird uns in Schwierigkeiten bringen«, sagte Rasske. »Da wette ich drauf.«
Ein totes Flüchtlingsmädchen im Stettiner Park – das würden die Bullen nicht ignorieren. Und so verkommen und unfähig der ganze Staatsapparat dieses Landes auch war, jetzt konnte die Sache gefährlich werden.
»Ihr macht den Van sauber. Aber gründlich.«

Während Stammer im Nieselregen über den Parkplatz des Kommissariats ging, fragte er sich, ob es bei ihm eine definitive Belastungsgrenze geben mochte, eine Sollbruchstelle, die ihn eines Tages zwingen würde, aufzuhören. Bei seinem Vater hatte es diesen Schalter gegeben. Statt Verbrecher aufzuspüren oder Kinder, die auf dem Strich gelandet waren, zu ihren Eltern zurückzubringen, saß der früh gealterte Mann nun auf der Bank vor seinem Haus irgendwo in der Brandenburger Pampa und resümierte sein misslungenes Leben.
Stammer steuerte seinen schwarzen Volvo durch das Stadtzentrum. Berlin hatte einen heißen Sommer hinter sich, und obwohl es bereits überall auf den Straßen, Alleen und Plätzen nach Herbst roch, lastete nachmittags ein Rest von Augustschwüle über den inneren Bezirken. Sommer - das war für Stammer der Gestank schnell verwesender Leichen. Seit der ersten Hitzewelle Ende Mai hatte er ein gutes Dutzend Tatorte betreten. Näherten sich die Temperaturen der Dreißig-Grad-Marke, blähte der im Körperinneren ansteigende Gasdruck die Toten im Handumdrehen zu Fäulnisbomben auf. Der Anblick und Geruch eines toten Menschen, dem Fäulinisempyhseme die Bauchdecken platzen ließen und den Inhalt von Enddarm und Blase nach außen beförderten – das konnte man nicht einfach nach Dienstschluss hinter sich lassen. Oder ging es nur Stammer so? War er schlicht nicht hart genug für diesen Job? Möglicherweise gab es da eine Verbindung zu seinem Vater. Möglicherweise besaßen sie beide eine Art Versager-Gen, einen angeborenen Makel, der sie daran hinderte, die Arbeit zu tun, für die sie bezahlt wurden.
Als Stammer am vereinbarten Treffpunkt ankam, war Brasch schon vor Ort.
»Ist noch geschlossen«, sagte er und wies mit einem Nicken auf die Eingangstür der Aikido-Schule. »Das erste Training beginnt um sechzehn Uhr.«
Stammer spähte durch die Glasscheiben der Fensterfront. »Gut, lass uns zum Chinesen gehen. Hab seit heute früh nichts gegessen.«

»Okay, war ein Fehler«, sagte Katz und grinste. »Die Sache ist etwas außer Kontrolle geraten. Bin eben ein leidenschaftlicher Typ.«
Niemand am Tisch lachte. Katz sah sich in der Hütte um und nickte anerkennend.
»Ey, ihr habt die Bude wieder auf Vordermann gebracht. Stark. Also, wenn ich noch was tun kann ...«
»Und was sollte das mit dem Edding?«
Katz' Blick huschte zu Müller und Wallack.
»Sie haben es mir erzählt«, sagte Rasske. »Also. Was sollte der Scheiß?«
»War nur so ne Idee, Tom«, erwiderte Katz und kratzte sich am Kopf. »Einfach, um zu zeigen, wie man mit denen umgehen sollte.«
Für ein paar Augenblicke herrschte tiefes Schweigen in der Hütte. Es war so still, dass man den Regen hören konnte, der auf das Dach niederging.
»Verstehe. Deshalb kippst du sie auch in dem verdammten Park raus, statt die Leiche verschwinden zu lassen.«
Rasske durchbohrte Katz mit einem eisigen Blick. Dieser Mann war nicht einfach nur unfähig. So viel Schwachsinn grenzte an Sabotage, an Verrat.
»Ist dir klar, wie so eine Ermittlung nach Vergewaltigung und Mord abläuft?« Rasske sprach mit ruhiger Stimme. Er musste diese Geschichte regeln und zwar so, dass es alle kapierten.
Katz zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert's? War ne Schlampe aus Afghanistan.«
»Die Bullen können bei Mord nicht einfach wegsehen, du Idiot.«
»Hey, alle jammern, dass immer mehr von denen her kommen. Millionen von Irakern, Syrern und Afghanen. Glaub nicht, dass die Bullen der Nutte eine Tränen hinterher weinen.«
Dieser Penner war wirklich das Letzte.
»Den Bullen ist die Schlampe völlig egal«, bestätigte Rasske. »Aber die werden Druck bekommen und zwar gewaltigen Druck. Wenn die Geschichte öffentlich wird, beginnt eine verdammte Hetzjagd auf uns.«
»Tom hat recht«, sagte Müller. »Du hättest sie im Van in Ruhe lassen sollen.« Wallack nickte.
»Und noch was«, sagte Rasske. »Marek wird Amok laufen. Oder glaubst du, dieser Schwanzlutscher freut sich darüber, dass du die Bullen direkt zu ihm führen könntest?«
Katz wollte etwas erwidern, doch Rasske hob die Hand und sagte: »War nicht dein erster Fehler. Von uns allen bist du der Einzige, der wegen Vergewaltigung gesessen hat.«
»Und?«
Rasske erhob sich und machte ein paar Schritte durch den Raum.
»Was, wenn die Bullen deine DNA im System haben?« Im Grunde war das reine Spekulation, aber dieser Typ stellte eine Gefahr für sie dar.
»Mann, das ist mehr als zehn Jahre her.«
»Und wenn sie dich finden, finden sie uns.«
Katz hob die Hände. »Tom, du weißt, dass ich das Maul halten würde.«
Rasske zog die Glock ohne Eile.
»Hey Tom, das ... das kannst du nicht tun.« Katz starrte ihn entgeistert an. »Das ... war doch nur so 'ne verfickte Asylantenschlampe.«
Müller und Wallack erhoben sich und traten ein paar Schritte zurück.
»Du hast es versaut«, sagte Rasske. Aus der Mündung seiner Pistole zuckte ein Feuerstoß, und Katz kippte seitlich vom Stuhl.

Stammer beobachtete, wie Brasch eine Frühlingsrolle nach der anderen verdrückte.
»Hast du immer noch nicht genug?«
Brasch hob die Schultern. »Die Portionen hier sind zu klein. Der reinste Beschiss.«
Sie waren die einzigen Gäste des Restaurants. Aus den Lautsprecherboxen klingelte leise ein chinesischer Singsang. Es roch nach Currypulver und Koriander.
»Wie lief es beim Staatsanwalt?«, fragte Brasch.
»Gut so weit. Pisst uns nicht aufs Beet. Ist auch nicht scharf auf hysterische Schlagzeilen.«
Die Staatsanwaltschaft stimmte mit dem Kommissariat darin überein, dass der Fall aus ermittlungstaktischen und politischen Gründen höchste Diskretion erforderte. Stammer hatte klargemacht, was passierte, falls die Medien die Sache so aufblasen würden, wie das im Winter bei der angeblichen Vergewaltigung einer jungen Russin passiert war. Wenn sich die öffentliche Meinung derart aufheizte, wurde nicht nur die Arbeit der Ermittler sehr viel schwieriger.
»Wir könnten uns vor gefakten Hinweisen nicht retten, und jeder Arsch hatte eine Meinung«, brummte Brasch.
Stammer nippte an seinem Tee und versank in Gedanken. Bislang hatten sie nicht viel. Immerhin kannten sie ihre Identität. Das war der natürliche Ansatzpunkt für alle weiteren Nachforschungen.
»Hast du im Flüchtlingsheim nachgefragt, ob sie Ärger hatte? Gab es Streit mit anderen Bewohnern oder sonst irgendwas?«
Brasch schüttelte den Kopf, wischte sich die Lippen mit einer Serviette und sagte: »Nichts dergleichen. Ich habe mit der Leitung telefoniert. Die Kleine soll sehr umgänglich gewesen sein. Hatte mit niemandem Stress.«
»Wissen die im Flüchtlingsheim, wo ihre Eltern sind?«
»Beide tot«, erwiderte Brasch. »Auch der Rest ihrer Familie. Umgekommen bei der Bombardierung ihres Dorfes. Nesrin war Waise.«
»Nenn sie nicht beim Vornamen.«
Brasch warf die Serviette auf den Tisch. »Ist nur so, dass mir die Sache gewaltig stinkt.«
»Geht mir auch so.« Stammer rieb sich die Schläfen.
»Wenn ich mir vorstelle, was das wohl für eine Kindheit war«, fuhr Brasch fort. »Was sie erlebt hat.«
»Ja.«
»Und dann kommt sie hier her und stirbt auf diese Weise. Vor ihrem achtzehnten Geburtstag.«
Stammer schob den Ärmel sein Sakkos zurück und warf einen Blick auf die Uhr.
»Kurz vor vier«, sagte er. »Lass uns gehen.«

»Bitte setzen Sie sich, ich bin gleich wieder da«, sagte Pierre Scarron zu den beiden Ermittlern. Stammer fasste ihn scharf ins Auge. Der Mann ging auf die fünfzig zu, wirkte aber erstaunlich fit. Ein Blick auf die Unterarme des Aikido-Meisters und man wusste, dass man sich besser nicht mit ihm anlegte. War das der Killer, den sie suchten?
Von der Tee-Ecke aus konnte man das Training auf den Matten des zentralen Übungsraums verfolgen. Scarron, der einen weißen Judoanzug mit schwarzem Hakama trug, stand bei seinen Schülern und erteilte einige Anweisungen.
Stammer hatte sich die Schule anders vorgestellt, mehr wie ein Gym, in dem Leute schreiend Kicks und Schläge austeilten. In diesen Räumlichkeiten hingegen herrschte eine ungewöhnlich friedliche Atmosphäre. Es war ein Ort konzentrierter Übung. Die Bewegungen der Schüler waren sanft und gleichmäßig.
»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Scarron, als er sich zu Brasch und Stammer an den Tisch setzte. »Im nächsten Monat stehen die Prüfungen an. Es gibt noch viel zu tun.«
»Wir haben ein paar Fragen zu einer jungen Frau, die gestern bei Ihnen ein Probetraining machen wollte«, begann Brasch.
Scarron nickte. »Ich weiß, wen Sie meinen.«
»Ihr Name ist Nesrin Rahmani.«
»Ja.«
»Dann war sie hier?«
»Stimmt. Sie hat das Probetraining absolviert.«
Stammer beobachtete Scarron mit wachsendem Interesse. Anders als die meisten Menschen, die von einem Beamten der Kriminalpolizei befragt wurden, zeigte der Mann keinerlei Nervosität. Er wirkte entspannt und aufgeräumt, als er berichtete, wie ihn ein paar Tage zuvor eine Sozialarbeiterin kontaktiert und den Trainingstermin für Nesrin vereinbart hatte.
»Wie sollte das mit der Bezahlung des Trainings laufen?«, fragte Brasch. »Ich meine, Sie betreiben hier eine kommerzielle Schule. Die kleine Rahmani war mittellos.«
Stammer registrierte, wie sich Scarrons Augen verengten. Offenbar hatte er Braschs Patzer bemerkt.
»Eine Probetraining ist für beide Seiten unverbindlich. Ich erlebe ständig, dass Leute einmal beim Training mitmachen und sich dann nie wieder blicken lassen.«
»Und trotzdem haben Sie sicher Optionen besprochen«, beharrte Brasch. »Möglichkeiten einer dauerhaften Trainingsteilnahme.«
»Ich sagte der Betreuerin, dass ich auf die Schulgebühren verzichten würde, wenn Nesrin genug Geld für Trainingskleidung und Ausrüstung zusammenbekäme.«
»Und?«
»Die Betreuerin sagte mir, dass es dafür einen öffentlichen Topf gäbe, und sie würde es hinbekommen.«
Brasch hatte einen Notizblock aus seiner Manteltasche gezogen und kritzelte nun mit einem Bleistift darin herum.
Stammer machte eine Handbewegung zu den Trainierenden hin, die jetzt auf den Matten verschiedene Griff- und Wurftechniken übten.
»Das sieht alles sehr elegant aus«, sagte er. »Funktionieren diese Techniken auch in der Wirklichkeit?«
Scarrons Blick folgte der Geste. Er beobachtete seine Schüler ein paar Augenblicke lang und lächelte dann. »Ich fürchte nicht, so wie sie es jetzt machen.«
Dann sah er wieder zu Stammer. »Aber ich weiß, wie Sie es meinen.«
»Ja, ich frage mich einfach, ob sich das für Menschen eignet, die in einem gefährlichen Umfeld leben.«
»Die Kunst der Selbstverteidigung steht beim Aikido nicht im Vordergrund, zumindest nicht in dem Sinne, wie Sie es sich wahrscheinlich vorstellen.«
Stammer hob die Augenbrauen. »Und das bedeutet?«
»Aikido ist ein Lebensweg«, erwiderte Scarron. »Ich denke, dass wir uns vor unserem Stolz, vor unserer Ungeduld und Gier mehr in Acht nehmen müssen als vor anderen Menschen.«
Stammer und Brasch wechselten einen Blick.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte Scarron. »Mit Nesrin.«
Stammer sah ihn nachdenklich an. Dann sagte er: »Wir haben sie heute morgen drüben im Stettiner Park gefunden. Sie wurde ermordet.«
Einige Momente des Schweigens vergingen. Vom Trainingsraum her waren die Aikidoka zu hören. Das Rascheln ihrer Anzüge mischte sich mit einem dumpfen Knallen, wenn sie sich gegenseitig auf die Matten warfen.
»Das scheint Sie nicht sehr zu beeindrucken«, sagte Brasch schließlich.
»Da täuschen Sie sich«, antwortete Scarron. »Aber leider ist Gewalt nichts Neues für mich. Ich bin in den Pariser Banlieues aufgewachsen.«
Stammer wurde nicht schlau aus dem Mann. Er konnte ihn einfach nicht lesen.
»Wie wirkte sie auf Sie?«, fragte Brasch. »Ich nehme an, Sie beobachten eine neue Schülerin sehr genau. Glauben Sie, dass sie in Schwierigkeiten steckte?«
»Auf mich machte sie nicht den Eindruck, dass sie Angst hatte, wenn Sie darauf hinaus wollen.« Scarron überlegte einen Moment lang. »Sie war sehr aufmerksam«, fuhr er fort, »machte ihre Sache gut. Sie wollte wieder kommen.«
»Wann hat sie die Schule verlassen?«, fragte Stammer.
»Das war gegen halb neun. Wir standen hier noch kurz an der Tür und haben gesprochen.«
»Erinnern Sie sich an ihre Kleidung, also Mantel oder Jacke, Hose und so weiter?«
»Ja. Sie trug Sneaker, Jeans und einen schwarzen Hoodie.«
»Keine Jacke? Oder einen Mantel?«, fragte Stammer nach.
»Nein, sicher nicht.«
Brasch blätterte eine Seite seines Notizbuches um. »Dieser Kapuzenpulli«, sagte er. »Hatte der irgendeinen Aufdruck?«
»Ja«, sagte Scarron, und Stammer sah, wie sich seine Züge verfinsterten. »I love Berlin, mit rotem Herz.«

Wallack setzte den Blinker und bog in einen Waldweg ab, der nordwestlich des Werbellinsees mehrere Kilometer tief in die Eichheide führte. Das Licht der Schweinwerfer schnitt durch die Dunkelheit, und es war, als rückten die Stämme der Eichen, Buchen und Fichten eng an den Lieferwagen heran.
»Scheiße, ist das finster«, sagte Wallack und schaltete einen Gang runter.
»Ich kapier immer noch nicht, wieso ihr die Nutte in dem verdammten Park rausgeschmissen habt«, sagte Rasske. Er drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten und warf Müller einen zornigen Blick zu.
Müller, der am Boden des Lieferwagens hockte und sich an einem Griff an der Wand festhielt, zuckte die Schultern. »Wie gesagt, Katz ist durchgedreht.«
»Genau«, sagte Rasske verächtlich. »Und ihr habt ihm dabei zugesehen.«
»Er wollte sie sofort loswerden«, sagte Wallack. »Dachte wohl, dass er die Bullen mit dem Spruch auf die falsche Spur schickt.«
»Spruch?«
»Naja, wegen Asylantenhure und so«, rief Müller von hinten.
Rasske rieb sich die Stirn. »War ja ein genialer Einfall.«
Wallack hob die gewaltigen Schultern, während er nach vorn durch die Frontscheibe starrte. »Ehrlich gesagt, habe ich kaum noch was mitbekommen.«
Die Typen waren kreuzblöde. Der Grund, weshalb sie bislang nicht aufgeflogen waren, bestand darin, dass sie unnötiges Aufsehen vermieden hatten. Im Vorjahr wurden deutschlandweit etwa achttausend minderjährige Flüchtlinge als vermisst gemeldet. In diesem Jahr mochten es noch einmal deutlich mehr gewesen sein. Entscheidend war, dass die Bullen dieses massenweise Verschwinden nicht in den Griff kriegen konnten. Und mal ehrlich: Wen juckte das Schicksal, irgendeiner vierzehnjährigen Fatima, die hier keine Verwandten hatte? Niemanden interessierte so eine Asylantenfotze, vorausgesetzt, man übertrieb es nicht. Vorausgesetzt, man prügelte, fickte und würgte sie nicht zu Tode. Vorausgesetzt, man kippte sie nicht mit Blut, Pisse und Wichse beschmiert in einem Berliner Volkspark auf die Wiese.
»Ich hab den Tschechen nur 'ne SMS geschickt, dass die Nutte hin is, und sie nicht kommen sollen«, sagte Wallack.
Rasske atmete tief durch. Sicher wusste Stráský auch bereits, wie sich die Idioten ihrer Leiche entledigt hatten. Und falls nicht, würde es kaum lange dauern, bis er davon Wind bekam. Und dann ...
»Okay, halte da vorn.«
Nach dem Wallack den Motor abgestellt hatte, umgab sie abendliche Stille. Im Scheinwerferlicht des Vans glitzerte der Spiegel eines pechschwarzen Weihers.
»Mach das Licht aus«, sagte Rasske.
Müller ließ ein kehliges Lachen hören, als er die Kette durch den Hohlblockstein zog. »Direkt traditionell, die Bestattung.«
Rasske stand am Ufer des kleinen Waldsees, zog ein Päckchen Gauloises aus der Jacke und beobachtete, wie Müller und Wallack den Leichnam samt Stein ins Wasser trugen.
»Noch weiter rein«, sagte er und steckte sich eine Zigarette an. »Bis zur Steilkante. Dort, wo es richtig tief wird.«
Dann lauschten sie dem Geräusch zerplatzender Luftblasen, und die Sache war erledigt.

»An die beiden Fotos vom Dalai Lama im Vorraum kann ich mich gar nicht erinnern«, sagte Stammer und nahm Platz.
Maribel Fabra setzte sich lächelnd ihm gegenüber in ihren Sessel. »Klarer Fall von selektiver Wahrnehmung«, sagte sie. »Die Fotos hingen schon immer da.«
»Sind Sie gläubige Buddhistin?«
Fabra lachte, und Stammer betrachtete ihre schönen Zähne und die Grübchen auf ihren Wangen.
»Ja, das ist eine erstaunlich schwierige Frage.«
»Tatsächlich?«
»Sagen wir es so: Ich glaube an die buddhistische Psychologie.«
Stammer nickte, obwohl er nur raten konnte, was das bedeuten mochte. Die Sitzungen mit der Psychotherapeutin waren Qual und Wohltat zugleich. Natürlich erleichterte es ihn, über seine schwierige Arbeit zu sprechen, über all das Elend, das ihm der Beruf des Mordermittlers Tag für Tag vor Augen führte. Andererseits beschränkte sich Fabra nicht auf den Job eines Heulkissens, sondern fragte nach, forschte und kundschaftete ihn aus. Mit ihrer sanften, aber beharrlichen Art der Gesprächsführung schob sie sich in jeder Sitzung ein wenig tiefer in seine Seele, um ... Ja, weshalb eigentlich?
»Ich habe von der Toten im Stettiner Park gehört«, sagte sie und schlug die Beine übereinander.
Stammer nickte. Klar, dass der Fall innerhalb weniger Stunden im Kommissariat die Runde gemacht hatte. Und hier saßen eine Menge Cops auf der Couch.
»Eine üble Sache«, sagte er. »Junge Frau aus Afghanistan, naja, eigentlich noch ein Mädchen.«
»Wie stark belastet Sie der Fall?«
»Sie kommen heute aber schnell zum Punkt, Maribel.«
Fabra lächelte kurz und sah ihn dann wieder ernst an. In ihrem Blick lag keinerlei Schärfe oder Härte, aber es fühlte sich an, als ob sie ihm direkt hinter die Stirn schaute, direkt ins Hirn - eine Empfindung, die ebenso unangenehm wie erregend war.
»Der Tod des Mädchens geht mir an die Nieren«, sagte Stammer. »Genauer gesagt, wie die Kleine den Tod fand. Wir glauben, dass sie von drei oder vier Männern stundenlang vergewaltigt und gefoltert wurde.« Und wie immer, wenn er hier war, führten ihn die frustrierenden Erlebnisse, die er tagtäglich als Polizist machte, zu grundsätzlichen Überlegungen. Wie konnte man den Glauben an die Welt, an die Menschen, an diese Stadt aufrechterhalten, wenn der Blick hinter die Kulissen doch zeigte, dass überall Gier, Dummheit und Brutalität herrschten?
Stammer sprach davon, wie sehr es ihn anödete, Verwalter all des Wahnsinns zu sein, nicht mehr als ein Beamter, der Verbrechen untersuchte und Kriminelle hinter Gitter brachte, die doch nur Platz machten, für die nächste Generation von Halsabschneidern und Kinderfickern.
»Maribel, Sie werden mir dabei nicht helfen können, fürchte ich.«
»Nein?«
»Tja, sehen Sie, all das steckt im Menschen«, sagte Stammer mit einer Stimme, die die Endgültigkeit der Feststellung unterstrich. »Das sind wir. Ich sehe diese Stadt bei Nacht. Ich sehe, was sich die Menschen gegenseitig antun, wenn sie die Chance dazu haben.«
Fabra nickte. Sie schaute ihn an, als erwartete sie irgendeine weitere Erklärung.
Stammer hob die Schultern. »Das ist der Mensch. Doch die meisten Leute sehen es einfach nicht. Ich meine, Ihnen muss ich das nicht erzählen. Sie kennen sicher eine Menge Beispiele.«
Fabra schien nachzudenken.
»Sehen Sie das anders?«, hakte Stammer nach.
»Ich versuche, beide Seiten zu sehen«, erwiderte sie. »Sie beschreiben da ein Bild, das sich aus den Erfahrungen Ihres Berufes ergibt.«
Stammer nickte.
»Dieses Bild ist die eine Seite«, fuhr Fabra fort. »Doch es gibt noch die andere.«
»Nämlich?«
»Das sind Sie als derjenige, der dieses Bild sieht.«
Stammer hob die Augenbrauen. »Und?«
»Sie sehen diese Welt bei Nacht, wie Sie sagten. Und Ihre Beobachtungen sind ganz sicher korrekt. Aber ist es andersherum nicht ebenso wahr?«
»Was meinen Sie?«
Fabra sah ihn mit ihren sanften, dunklen Augen an und sagte: »Ich erlebe hier jeden Tag, dass Menschen etwas über sich selbst lernen. Dass sie etwas verstehen. Ich sehe Tränen. Ich sehe manchmal, dass Menschen voller Scham und Reue auf ihre eigenen Handlungen zurückblicken.«
Stammer winkte ab. »Klar, irgendwann heulen sie.«
Er sah, wie Fabra blinzelte und sich in ihrem Sessel ein wenig nach vorn beugte.
»Manchmal ist da sogar so viel Scham«, sagte sie, »dass Menschen damit beginnen, ihr ganzes Weltbild zu verändern.«
»Trotzdem, im Kern ändern sich Menschen nicht«, beharrte Stammer.
Die Psychologin betrachtete ihn einen Moment lang nachdenklich und sagte dann: »Christian, was glauben Sie, weshalb sind Sie hier bei mir?«
»Naja, ich denke, es ist kein Geheimnis, dass ich deprimiert bin«, erwiderte Stammer. »All der Stress und der ganze Mist, den ich jeden Tag sehe. Ich denke, es ist so etwas wie ein Burnout.«
In diesem Moment spürte Stammer, wie ihm etwas die Luft abdrückte. Es war, als presste ein eiserner Ring seinen Brustkorb zusammen. Das Gesicht der Psychologin war auf einmal sehr nahe, doch ihre Stimme kam aus weiter Ferne. »Christian, konzentrieren Sie sich. Sie sind hier bei mir, weil wir über das sprechen müssen, was vor zwei Monaten in diesem Lagerhaus am Nordhafen passiert ist.«
»Hm?«
»Sie haben im Dienst einen Mann erschossen, Christian. Erinnern Sie sich nicht daran?«

»Was soll das heißen, suspendiert?«
»Scheiße, Brasch. Suspendiert heißt suspendiert.«
Die Reklamelichter der Friedrichstraße glitten sanft dahin. Stammer ließ das Fenster der Fahrerseite herunter und sog gierig die feuchte Nachtluft ein.
»Aber wieso, verdammt noch mal?« Braschs Stimme im Lautsprecher klang heiser.
»Ich ... ich hatte einen kleinen Aussetzer bei Fabra.«
»Bei der Polizeipsychologin?«
»Ja.«
»Was ist passiert?« Passiert war, dass Stammer einen tödlichen Schuss auf den zwanzigjährigen Mehmet vergessen hatte. Vergessen, verdrängt, verleugnet. Die Neun-Millimeter-Kugel für den Meth-Dealer mit einer Knarre, die sich als Gaspistole herausstellte. Das zerschossene Gesicht eines jungen Mannes, der nicht mal eine Vorstrafe besaß. Das Blut, das sich schwarz und sämig auf dem Betonboden der Lagerhalle ausbreitete.
Im Lautsprecher knackte es. »War es wegen der Geschichte am Nordhafen?«
Stammer schluckte. »Ja.«
»Scheiße, das kann sie doch nicht machen.«
»Kann sie«, gab Stammer zurück. »Ist sogar ihre Pflicht. Ich bin raus. Minimum sechs Wochen.«
»Okay.«
Stammers Hand ging zum Schaltpult.
»Wir kriegen die Schweine, Christian. Ich halte dich auf dem Lauf...«

Es war merkwürdig, aber Katz fehlte ihm. Nicht, dass er seine Persönlichkeit vermisst hätte. Aber der leere Stuhl nervte ihn so sehr, dass Rasske mitten im Pokerspiel aufsprang und ihm einen Tritt verpasste. Müller und Wallack beobachteten ihn schweigend.
»Ihr hättet euch niemals auf diesen Blitzdeal einlassen dürfen.«
Müller nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Der Anruf kam so gegen drei. Wir dachten, das wäre ne glatte Sache.«
»Stockbesoffen wart ihr!«
»Is vorbei, Tom. Lass gut sein«, sagte Wallack und steckte sich eine Zigarette an.
Rasske wollte gerade etwas darauf erwidern, als die Tür aufgestoßen wurde. Noch bevor einer der Drei eine Waffe ergreifen konnte, waren sieben oder acht Männer in die Hütte gestürmt. Ihre Schläger rauschten durch die Luft, und das Geräusch brechender Knochen erfüllte den Raum.
Während der Boden auf ihn zu kippte, sah Rasske, wie Wallack in die Knie ging, die Arme schützend erhoben, obwohl sein Gesicht nur noch ein schwarzer Klumpen war.
Rasske kroch in seinem Blut über die Dielen, vorbei an Müller, der an die Wand der Hütte gelehnt mit ausgestreckten Beinen da saß, als schaute er der Szene aus dem Innern seines zertrümmerten Schädels zu.
Rasske spürte, wie ihn eine Hand packte und zur Tür schleifte. Jemand drehte ihn auf den Rücken. Er fühlte das harte Holz der Türschwelle im Genick, und als sein Hinterkopf nach unten kippte, sah er die Sterne am wolkenfreien Himmel. Die Männer verließen die Hütte ohne Eile. Einer von ihnen wandte sich um und spuckte ihm ins Gesicht. Rasske betrachtete einen Moment lang die Profilsohle des Stiefels, der über ihm schwebte. Dann verschluckte ihn die Nacht.

 

Hallo, Achillus,

geil, mal wieder neues Material von dir. Hast dich was rar gemacht, alter Recke.

Noch bevor Christian Stammer die polizeilichen Absperrungen am Stettiner Park erreichte, packte ihn jenes Gefühl der Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, das er in seinen Sitzungen als Tatortdepression bezeichnet hatte. Stammer hörte das im Morgenwind flatternde Absperrband, hörte den aus den offenen Streifenwagen dringenden Funkverkehr. Dort, wo am Eingang des Parkgeländes ein paar Beamte schweigend in der Dämmerung standen und den Spezialisten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zuschauten, dort lauerte der Abgrund

Sieh mal: Nimm die polizeilichen Absperrungen aus dem ersten Satz, weil es wird klar, was er ist und was er macht: Tatortdepression ist viel stärker! Und du gehst dem Wortdoppler aus dem Weg.

Dann der Abgrund: Was genau ist das? Was meinst du damit? Du verlässt dich hier auf einen Erfahrungspool des Genres, aber ich plädiere dafür, immer und überall konkret zu werden. Das ist fast metaphysisch - der lauernde Abgrund, als ob dies eine Person wäre, eine Entität.

»Morgen, Boss.« Man konnte Brasch und Reckling ansehen, dass es kein guter Morgen werden würde. »Die Jungs von der Spusi sind gleich soweit.«

Boss? Wenn ich nicht "Drink" schreiben darf, darfst du auch nicht Boss schreiben!:D Klingt nach Klischee, würde ich rausnehmen. Dann der zweite Satzteil: Was kann man ihnen ansehen? Wie äußert sich das? Der eine ist blass, Ränder unter den Augen, etwas im Blick, er sieht nach unten, zur Seite. Zeig das Unbehagen oder dieses Gefühl, was du beschreiben möchtest. Es wird so stärker.

Ich habs zuende gelesen. Kompliment für die Namen, du hast immer gute, tolle, passende Namen, unter denen sofort ein Gesicht herauskommt, da klickt es. Das ist super.

Eine Sache zieht sich, wie ich finde, durch den Text: Er hatte es satt, sein Leben mit der Jagd nach Mördern und Vergewaltigern zu verschwenden, die es allem Anschein nach immer geben würde, egal, welche Präventivstrategien die Gesellschaft entwickelte.

Das Motiv, diese Müdigkeit, die ist klar. Ich wiederhole mich echt ungerne, aber das müsstest du irgendwie szenisch verpacken. Ich weiß, wo dein Anliegen ist, du hast auch immer eine Botschaft, die du verstanden wissen willst. Das finde ich gut. Aber ich glaube, du solltest deinen Lesern einfach etwas mehr vertrauen. Ruhig mehr zeigen, die Figuren handeln lassen. Vielleicht bin ich aber auch gerade auf diesem Trip - ich sehe überall den Autoren durchlugen. Mal sehen, was die anderen sagen.

Gruss, Jimmy

 

Hallo Achillus,

wow, das hat mich gepackt. Sätze wie dieser hier: Dort, wo am Eingang des Parkgeländes ein paar Beamte schweigend in der Dämmerung standen und den Spezialisten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zuschauten, dort lauerte der Abgrund. haben mich gleich gefesselt und die Geschichte in einem Rutsch runterlesen lassen.

Sprachlich sind mir nur zwei Dinge aufgefallen:

Das Ganze wirkte wie eine Provokation. Wie ein terroristischer Akt.
Der fettmarkierte Satz ist mir zu viel des Guten. Das ist ganz schön weit hergeholt für meinen Geschmack. "Das Ganze wirkte wie eine Provokation" bringt es doch gut auf den Punkt.

Und ihr habt sie in dem Scheiß Park abgeladen?
Ich würde sagen, entweder scheiß Park oder Scheißpark, wobei ich eher zu der ersten Schreibweise tendieren würde.

Ansonsten ist deine Art zu erzählen äußerst professionell! Ich lese sehr gerne Krimis und verfolge das Geschehen gespannt aus der Sicht des Ermittlers und aus der des Täters. Beides ist spannend. Du benutzt hier beide Perspektiven und schaffst es gut, zwei unterschiedliche Stimmen zu benutzen. Stammer, der ein wenig an einen Cop aus dem Film-Noir-Genre erinnert mit seinen finsteren Gedanken und der verlorenen Hoffnung, was die Menscheit betrifft. Rasske, der kaltblütig und gefühllos wirkt, nur darauf bedacht, sich selbst aus der Scheiße zu ziehen, an das arme Mädchen aber keine Gedanken verschwendet. Außer vielleicht, dass sie ein lästiges Problem ist. Das hat mich erschüttert.

Die einzige Stelle, an der ich gestolpert bin, ist gegen Ende.

In diesem Moment spürte Stammer, wie ihm etwas die Luft abdrückte. Es war, als presste ein eiserner Ring seinen Brustkorb zusammen. Das Gesicht der Psychologin war auf einmal sehr nahe, doch ihre Stimme kam aus weiter Ferne. »Christian, konzentrieren Sie sich. Sie sind hier bei mir, weil wir über das sprechen müssen, was vor zwei Monaten in diesem Lagerhaus am Nordhafen passiert ist.«
»Hm?«
»Sie haben im Dienst einen Mann erschossen, Christian. Erinnern Sie sich nicht daran?«

Danach ist Stammer suspendiert, weil er wohl bei der Psychologin ausgeflippt ist. Diesen Ausflipper ahne ich in der Szene zuvor aber nicht. Ich dachte eher daran, dass er in Ohnmacht fliegt. So wirkte die Beschreibung mit dem Brustkorb auf mich. Wenn du hier vielleicht noch ein, zwei Sätze einfügen würdest, die besser andeuten, was im Zimmer der Psychologin passiert, wäre der Ablauf runder.

Das Ende passt ganz gut in Stammers schmutziges Bild von der Welt, aber immerhin wird Gerechtigkeit wiederhergestellt, nicht vom Staat, sondern in Selbstjustiz, aber ich war dennoch froh darüber.

Deine Figuren kenne ich als regelmäßige Krimileserin. Der Polizist, der abgehalftert mit seiner Psyche kämpft, der Gerichtsmediziner, der sich tapfer jeden Tag seinen Leichen widmet, der Täter, dessen Gefühlskälte schockiert. Aber das macht nichts. Faszinierend fand ich, dass du das sprachlich sehr gut umgesetzt hast. Keiner der vielen Dialoge wirkt gestelzt. Das hat Hand und Fuß, klingt nach jemandem, der Ahnung hat, von was er schreibt. Das Zusammenspiel der beiden Perspektiven hat auch gut funktioniert.

Was soll ich sagen? Sehr gerne gelesen!
RinaWu

 

Yeah, I know. It happens to everyone. You’re waiting for the final showdown and then that happens.

Hallo Maria, obiges Zitat stammt aus einer Analyse des Films No Country for Old Men, einem düsteren Epos über Destruktion, Nihilismus und die letztliche Sinnlosigkeit allen Tuns. (https://arbitrarynonsense.com/2012/08/08/no-country-for-old-men-ending-explanation/)

Ich habe mich nach dem Ende des Films so gefühlt, wie Du nach dem Lesen meiner Geschichte, nehme ich an. Wütend und frustriert, weil mir die Coen-Brüder den Abschluss verwehrten, auf den ich als Zuschauer ein Recht habe. Es ist eine Regel, dass Held und Monster ihre Wege spätestens im Finale kreuzen. Alles andere wäre eine Orgasmusverweigerung, Maria.

Bei allem Ärger, den ich mit No Country for Old Men hatte, überrascht es vielleicht, dass ich das auch mal ausprobieren wollte. Sehen, was es mit mir und dem Leser macht, wenn ich die Regel breche. Glaube mir, dass es keine leichte Entscheidung war. Wahrscheinlich mache ich es auch nie wieder (Ist aber nicht versprochen, Maria.)

Am Ende erscheint alles so sinnlos. Alle Überlegungen von Stammer und seinen Kollegen. Und auch Rasske und seine Jungs sehen dieses Ende nicht kommen. Nichts fügt sich so, wie es die Intuition nahelegt. Jedenfalls ist das mein Eindruck.

Und dieser nihilistische Zug ist vielleicht ein Gedanke, der bei der ganzen Geschichte mitschwingt. Aber es gibt auch Figuren, die andere Ideen symbolisieren, der Aikido-Meister und die Therapeutin beispielsweise. Wird das, was sie sagen sinnlos, weil Stammer am Ende scheitert und aus dem Rennen fliegt? Keine Ahnung. Du scheinst es so zu empfinden. Tut mir leid, dass Dich der Text enttäuscht hat. Auf jeden Fall danke ich Dir für Dein offenes Feedback.

Gruß Achillus


Hey Jimmy, vielen Dank fürs Lesen. Du hast absolut recht mit dem Anfang. Das werde ich ausbessern. Guter Tipp. Ja, und die Geschichte mit dem Boss – Du glaubst nicht, wie lange ich damit gekämpft habe. Wahrscheinlich war da die Idee, dass ich die Interaktionen der Polizisten unbedingt aus diesem Tatort-Sprachduktus (Ja, Herr Kriminalhauptkommissar!) rausführen wollte. Denke ich drüber nach.

Und mit den Reflexionen von Stammer, das ging mir so wie Dir, dass ich dachte: Wird das nicht zu viel? Ich hatte dabei die Absicht, den Effekt am Ende zu verstärken, nämlich, dass all diese Gedanken in Wirklichkeit von einer ganz anderen Quelle herrühren, nicht unbedingt die Konsequenzen der Arbeit sind, sondern die des Verdrängungsprozesses von Stammer nach der Erschießung des jungen Mannes. Hat vielleicht nicht ganz geklappt. Danke für den Hinweis.

Ich gehe da auf jeden Fall noch mal rüber und versuche, das konkreter zu machen. Thx.

Gruß Achillus


Hey RinaWu,

das sind ein paar gute Hinweise, vielen Dank dafür. Deine Tipps werde ich umsetzen, machen Sinn. Besonders die Szene bei der Therapeutin macht mir noch Kopfschmerzen. Dieser Twist war ja bereits im ersten Satz der Geschichte angelegt.

Ich hatte mir vorgestellt, wie der Erzähler die Gedanken von Stammer als eine grundsätzliche Desillusionierung ausbreitet. Davon hat Stammer auch so einiges. Frappierend ist aber, dass bei all den düsteren Gedanken, die sich Stammer so macht, der tödliche Schuss auf den Meth-Dealer nicht auftaucht. Und dieses plötzliche Erinnern bzw. die Verdrängungsleistung davor hatte ich mir als Kernschmelze von Stammer gedacht. Kommt vielleicht noch nicht deutlich genug rüber. Danke für den Hinweis. Da setze ich mich noch mal ran.

Gruß Achillus

 

Achillus

ich habe mir das fast gedacht, mit No Country for Old Men. Dass du hier die Karthasis verweigerst, ist auch absolut folgerichtig und untergräbt nur konsequent die Lesererwartungen. Das AUF KEINEN FALL ändern. Das ist ja die Seele dieser Geschichte, das Ende.

Wie gesagt: Ich glaube, diesen sound, diesen nihilistischen Rust Cole sound, den kriegst du eben durch eine funkelnde Oberfläche hin. So wenig Innenansicht wie möglich - das ist natürlich nur meine subjektive Sicht der Dinge.

Gruss, Jimmy

 
Zuletzt bearbeitet:

Hi Achillus,

ich finde, das ist ein starkes Teil. Und das sage ich jetzt nicht bloß, weil du eine meine Geschichten positiv kommentiert hast. Ich finde es wirklich. Ich habe die Story gestern Nacht nach meiner Nachtschicht entdeckt, und habe sie dann trotz Müdigkeit noch komplett auflesen müssen. Ich finde, was das Erzählen angeht, hast du auch noch mal einen Schritt nach vorne getan, im Vergleich von den früheren Geschichten, die ich von dir kenne. Was mich früher oft beim Lesen deiner Geschichten gestört hat, war, dass für meinen Geschmack zu oft ein Fokus auf technische Details bzw. Kampfszenen an sich lag. Ich picke dir hierfür kein Beispiel heraus, es war einfach ein grundlegendes Gefühl. Ich finde, du konzentrierst dich jetzt viel besser auf deine Figuren und das Spannungsthema (wer hat das Mädchen ermordet und warum und wird er gefasst?) als auf "Nebensächlichkeiten". Dieses Detailwissen, das du hast, kommt mir besser dosiert und portioniert vor, dein Wissen über Pathologie und Polizeiarbeit ist krass. Entweder liest du unheimlich gerne und viele Thriller, oder du hast da richtig gut recherchiert (ich kaufe dir jetzt einfach mal alle Details dieser Geschichte ab). Gerade, was Polizeiarbeit angeht, das ist ein Feld, da würde ich mich gerade überhaupt nicht hintrauen. Ich hätte viel zu großen Schiss, dass ich Details aus Fernsehkrimis oder Spielfilmen einfach so übernehme, ohne zu wissen, ob sie im Falle wirklicher Polizeiarbeit wirklich so stattfinden würden.

Auch die Handlung finde ich stringent und kurzweilig erzählt, da ist für mein Geschmack kein Gramm Fett zuviel dran.

Was deine Figuren angeht, fand ich sie größtenteils gut gezeichnet, gerade, was deinen Prot (den Cop) angeht. Bloß eine Stelle bei deinem Cop hat mich rausgehauen:

War er schlicht nicht hart genug für diesen Job? Möglicherweise gab es da eine Verbindung zu seinem Vater. Möglicherweise besaßen sie beide eine Art Versager-Gen, einen angeborenen Makel, der sie daran hinderte, die Arbeit zu tun, für die sie bezahlt wurden.
Ich kann dir nicht zu 100% sagen, was mich bei diesem Satz gestört hat. Aber ich hab ihn wirklich fünfmal gelesen, und dachte mir immer: Nee. Das ist doch nicht Stammer. Er war einfach so schön stark die ganze Geschichte über ... er ist ja auch schon lange dabei. Denkt der wirklich, dass er vielleicht doch ein "Versager" ist? Hat der nicht schon so viele Leichen gesehen, Fälle aufgeklärt und die Reaktionen von Zivilisten gesehen, wenn er ihnen gesagt hat, was er beruflich macht, dass er tatsächlich auf den Gedanken kommen kann, er könnte ein Versager und der ganzen Sache nicht gewachsen sein? Gut, er kann schon zur Psychotherapeutin gehen ... aber dieser tiefe, innere Zweifel an sich selbst, hat er den wirklich? Wenn ja, gefällt mir das einfach nicht so gut ... wie gesagt, ich finde, es passt nicht zu 100% zu ihm, so nach meinem Bauchgefühl. Zweifel an der Welt ja, und auch mal ein zweifelnder Gedanke, ob er der ganzen Sache gewachsen ist, ja, aber dieser Gedanke "vielleicht bin ich einfach ein Versager" - nee. Aber gut.

Dann gab es noch die Randfiguren, die Kumpels von deinem zweiten Prot. Da würde ich dir noch vorschlagen, so ein kleines bisschen runterzufahren, ein bisschen weniger rülpsen und am Dosenbier nippen lassen, ein bisschen mehr Eigenes für sie einstreuen, dann hast du sie schon gut aus der Klischee-Ecke rausgezogen. Also diese Randfiguren (und es hat nichts damit zu tun, dass es Randfiguren sind) kamen mir am flachsten vor, die anderen fand ich alle super und überhaupt nicht Klischee. Ich habe denen abgekauft wie die sind und ich fand sie interessant, und das zählt schon mal viel, finde ich.

Ja, das Ende. Man könnte sagen, das ist ein guter Bruch zur Leseerwartung, das ist einigermaßen unvorhergesehen. Aber wenn ich das schreiben würde, hätte ich dir nicht mein Gefühl wiedergegeben, das ich gestern beim Lesen hatte. Ich war nicht enttäuscht, vielleicht nur ein klein bisschen, ich dachte mir eher: Ah, ok, na gut. Also ich hätte kein Problem damit gehabt, noch mal 10, 15 Seiten mehr zu lesen, wenn es spannend bleibt und sich da die Konflikte weiterspannen und zuspitzen. Überhaupt nicht. Ja, es kam mir ein bisschen abrupt vor, so, als ob der Autor schnell zum Ende kommen will. Ich finde das nicht das 100%ige Ende. Da könntest du noch viel mehr rausholen - gerade wurde das aufgerissen, dass der Cop jemanden erschossen hat, und es verdrängt hat. Das ist doch sauinteressant. Da denke ich mir als Leser doch sofort: Krass - hat das vllt etwas mit dem Fall zu tun? Ist der Cop doch nicht der, der ich dachte? Keine Ahnung, ob du True Detective Staffel 1 gesehen hast. Mich hat das die ganze Zeit an True Detective erinnert, von der Stimmung her, vom Prot her. Ich liebe diese erste Staffel, und falls du sie gesehen hast: Da kommt auch der Punkt, irgendwann nach 2/3 der Staffel, wo man denkt: Ist Rust der eigentliche Mörder? (Rust ist der amerikanische Stammer) Sind wir ihm die ganze Zeit auf dem Leim gegangen? Ich will nicht sagen, dass du das genau so machen solltest, aber was ich sagen will ist, dass du da gerade kurz vor dem Ende noch mal richtig Potential für ein krasser finales Feuerwerk setzt, und dann einfach eine Horde Tschechen mit Baseballschlägern kommen lässt, und Ende. Finde ich ein bisschen schade, auch wenn es für mich natürlich nicht die ganze Story kaputt macht. Die finde ich trotzdem sehr stark, sehr souverän geschrieben und mit vielen, sich echt und authentisch anfühlenden Details.
Ich habe das gebannt und sehr gerne gelesen.

Viele Grüße
zigga

 

Hallo Achillus,

wer hätte gedacht, dass ich mal maria.meerhaba vorbehaltlos zustimmen müsste? Dafür kann ich jetzt "No Country for Old Men" von meiner "Filme, die ich endlich mal gucken will"-Liste streichen.

"Verarscht" ist vielleicht ein etwas zu starkes Wort, aber mächtig enttäuscht war ich auf jeden Fall. Und dass die Begründung sinngemäß lautet "weil es Kunst sein soll", macht es für mich nicht viel besser. Nee, dafür kann ich mich nicht begeistern.

Vielleicht liegt es u.a. daran, dass so ein artifizielles Ende für mich im Gegensatz zu deinem Schreibstil steht, der ja (wie mein eigener, das macht es noch mal persönlicher) sehr sachlich und klar und eigentlich frei von gekünsteltem Gehabe ist. Das verträgt sich für mich schlecht mit so einem möchtegern-anspruchsvollen Kunstgriff, der mir als eher plotorientiertem Krimileser schlicht den Spaß verdirbt. Wie einige andere Kommentatoren hatte auch ich mich richtig schön in die Personen reingefühlt, sogar in Rasske, konnte die (inneren) Konflikte nachspüren inklusive der Sache mit dem Versager-Gen (denn "natürlich" ist man als Bulle ein Versager, wenn einem der Job (oder ein tödlicher Fehler in selbigem) nahegeht). Das war alles super beschrieben, die Länge des Textes in keinster Weise verschwendet, alles lief auf einen Höhepunkt zu, der Scrollbalken sagte mir, dass gleich ein Knall kommen musste (zu dem Zeitpunkt waren noch keine Komms drunter) - und dann:

Puff.
Ätsch.
:butt:

Was dem ganzen die Krone aufgesetzt hat, war, dass ich dies als die Vorgeschichte von dem Stammer aus "Ein ganz normaler Fall" aufgefasst habe. Das hat meine Erwartungen nach oben geschraubt, da habe ich mir vielleicht so etwas wie dein Meisterstück erhofft. Dementsprechend gesteigert war die Fallhöhe - und mein Zorn, dass du das so kaputtmachst.

(Beim Nachschauen sehe ich aber, dass der Stammer in der anderen Geschichte einen anderen Vornamen hatte. Ist das womöglich der Vater, von dem hier die Rede ist? Oder hast du etwa aus Versehen zweimal denselben Namen benutzt ...?)

Wenn dein Ziel war, die Sinnlosigkeit des Tuns von Stammer und Kollegen darzustellen, dann hättest du das auch anders machen können. Wenn wir schon bei Filmvergleichen sind, wäre "Sieben" ein Beispiel, das mir spontan in den Sinn kommt (bestimmt gibt es bessere). Da haben die Cops am Ende verloren, das Böse hat gesiegt, die Jagd war sinnlos und es bleibt ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit zurück - aber man hat dem Zuschauer nicht die Konfrontation und den Abschluss der Handlung vorenthalten.

Anders gesagt: Es sind zwei verschiedene Dinge, ob das Tun der Protagonisten sinnlos ist oder ob die Geschichte sinnlos ist. Jedenfalls sollten es m.E. zwei verschiedene Dinge sein.

Da du es ja selbst als einen Versuch eingeordnet hast, muss ich leider urteilen: misslungen. Aber danke, dass du Platz auf meiner Filmliste geschaffen hast. ;)

Wahrscheinlich mache ich es auch nie wieder (Ist aber nicht versprochen, Maria.)
Wenn du das nicht versprichst, muss ich deine nächste Geschichte wohl von hinten nach vorne lesen.

Nichts für ungut.

Grüße vom Holg ...

 
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Hi Achillus,

ich habe deine Geschichte direkt nach dem Einstellen gelesen und wenige Stunden später nochmals und dann eine Empfehlung abgeschickt. Mir gefällt also sehr gut.

Nun sind ein paar Kritiken eingetroffen, und ich sehe, dass sie nicht jeder ausnahmslos gut findet. Ist halt so.

Für mich war das zentrale Thema das verschwinden der jungen Aslyanten und Aslyantinnen. Ich habe vor einigen Monaten von knapp 5000 in Deutschland gelesen - eine krasse Zahl. Sie sind aber auch ein gefundenes Fressen für Kriminelle jeder Art. Ich finde da Thema hast du gut umgesetzt, und das Ende finde ich nur realistisch und deshalb gut nachvollziehbar. Klar, es ist kein riesen Knall, kein krasser Effekt. Muss es das sein? Für mich nicht, das Ende ist für mich mehr als stimmig, gerade weil es so nebensächlich daher kommt, fast schon wie eine Verarsche. Aber ich kaufe dir sie ab - nicht gerne, aber so ist das Leben, erstens kommt es anders, zweitens als du denkst. Du erzählst eine Geschichte, und die läuft eben so ab.

Den Kommissar fand ich gut gezeichnet, sowas gehört einfach dazu, aber mehr hätte ich nicht lesen wollen, wenn überhaupt, sehe ich bei seinen Leiden Kürzungspotential.

Ich kann zigga zustimmen was die Spannung und die Länge angeht, das hat auch für mich absolut gepasst. Hat schon Spaß gemacht zu lesen. Insgesamt hat mich das Ding an einen Tatort erinnert, bei dem junge Osteuropäerinnen nach Deutschland gelockt wurden, für irgendwelche Schönheitswettbewerbe, um dann letztendlich auf den Strich geschickt zu werden. Und dann gabs ja noch den Müllmädchentatort, wo die Mädchen direkt Mißbraucht und getötet wurden.

Mehr kann ich dir gerade nicht schreiben, die Mittagspause ist schon wieder vorbei, aber jetzt hast du schonmal meinen zweiten Eindruck der Geschichte.

Saludos,

Sonne

 

Achillus

ich habe mir das fast gedacht, mit No Country for Old Men. Dass du hier die Karthasis verweigerst, ist auch absolut folgerichtig und untergräbt nur konsequent die Lesererwartungen. Das AUF KEINEN FALL ändern. Das ist ja die Seele dieser Geschichte, das Ende.

Wie gesagt: Ich glaube, diesen sound, diesen nihilistischen Rust Cole sound, den kriegst du eben durch eine funkelnde Oberfläche hin. So wenig Innenansicht wie möglich - das ist natürlich nur meine subjektive Sicht der Dinge.

Gruss, Jimmy


Hey Jimmy,

schön, dass Du noch mal reingeschaut hast. Ja, das Ende der Geschichte werden die Leser wohl sehr unterschiedlich beurteilen. Ich fand, dass eine Menge Potenzial in dieser Variante liegt.

Dann die Frage der Innenperspektiven. Ich habe in letzter Zeit wieder Dennis Lehane gelesen, beispielsweise Mystic River und fand es großartig. Der Erzähler wechselt immer wieder in die Köpfe der Protagonisten und beschreibt die Vorgänge aus ihrer Perspektive. Dabei mischen sich eben auch Grundüberzeugungen hinein:

In letzter Zeit war er ständig müde. Er ertrug die Gesellschaft von Menschen nicht mehr. Bücher und Fernsehen interessierten ihn mittlerweile ebenso wenig wie die Spätnachrichten und die Songs im Radio, die genau so klangen wie andere, ältere Songs , die ihm schon früher nicht gefallen hatten. Er hatte die Nase von seiner Frisur und seinen Klamotten ebenso voll wie von den Frisuren und Klamotten anderer Leute. Er hatte es aufgegeben, nach irgendeinem Sinn zu suchen. Er war den ständigen Hickhack auf dem Revier leid, konnte es nicht mehr hören, wer nun gerade wieder wen fickte, im direkten wie übertragenen Sinne. Er war war an einem Punkt angelangt, an dem er jede beliebige Meinung zu jedem beliebigen Thema schon einmal gehört zu haben schien, und manchmal kam es ihm vor, als würde er Tag für Tag alte Aufnahmen abspielen, die schon beim ersten Mal nicht eben der Brüller gewesen waren. (Mystic River, Dennis Lehane)

Diesem Stil (nenne ich einfach mal Stil der Innenperspektiven) kann man den Stil des Minimalismus gegenüberstellen, den Du sehr weit entwickelt hast und gut beherrschst. Dieser minimalistische Stil bezieht seine Wucht aus der Unmittelbarkeit der Geste (die Geste sagt mehr als tausend Worte). Ich finde, das merkt man Deinen Texten auch an, da wird eben etwas klar, in einem einzigen Schrei, einer einzigen Umarmung, einer einzigen weggeschnippten Zigarette.

Ich kann beiden Varianten unheimlich viel abgewinnen und mag mich einfach nicht für endgültig für eine entscheiden. Denn einerseits finde ich, dass es ja gerade der Vorteil von Literatur im Gegensatz zu Film sein kann, dass wir in die Köpfe der Figuren schauen können, dort nicht nur einzelne Gedanken finden, sondern eben ganze Weltbilder. Und ein Weltbild in einer einzigen Geste darzustellen, scheint mir nicht immer möglich zu sein, jedenfalls nicht im Detail und nicht, wenn ich auch noch die Ursachen darstellen möchte, also warum jemand von x oder y überzeugt ist.

Der Vorteil des Stils der Geste ist wiederum, dass er das Herz des Lesers ohne größere Umwege erreicht. So empfinde ich es zumindest. Kein unnötiges Geschwafel. Keine Rationalisierungen. Er vermeidet außerdem das von Dir angesprochene Problem des Stils der Innenperspektiven, nämlich, dass aus einer Figur in ihren Reflexionen allzu schnell der Autor zu sprechen scheint.

Jimmy, ich kann mich da noch nicht so recht auf eine Seite schlagen. Freu mich auf jeden Fall, wenn Du weiter meine Geschichten liest, trotz Innenperspektive der einen oder anderen Figur.

Gruß Achillus

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Hallo Zigga,

vielen Dank für Deinen Kommentar und Dein Lob zur Geschichte. Ich habe meine Detailversessenheit wirklich ein bisschen runter geschraubt, und denke wie Du, dass das dem Erzählen gut tut. Wenn ich in so einer Jagdszene drin bin, wie hier beim Wildern in der Schorfheide, möchte immer noch am liebsten alles haarklein ausbreiten – von der Fährte eines Zwanzig-Kilo-Rehbocks bis zum Spannmechanismus der Armbrust. Aber ich kann mich bremsen.

Bei der Polizeiarbeit hat man ein bisschen Spielraum, glaube ich, denn die ist einerseits Ländersache und anderseits von der Vorgehensweise/ Strategie des Ermittlers anhängig. Für den Bereich Pathologie habe ich meinen Leitfaden der Rechtsmedizin (Patschneider und Hartmann) konsultiert (ist für jeden Autoren, der über Mord und Totschlag schreibt eine wahre Fundgrube). Und außerdem hilft es, dass ich selbst als Beobachter an Operationen und einer Obduktion teilgenommen habe. Es verändert tatsächlich die Perspektive, wenn man Zeuge davon wird, wie ein Arzt die Flüssigkeit aus Brust und Bauch eines Toten mit einer Kelle ausschöpft und in einen Glasbehälter füllt, wie einen Früchtepunsch.

Was das Versagen betrifft, hatte ich daran gedacht, dass Stammer sieht, wie wenig Einfluss seine Handlungen auf die Gesamtsituation haben. Es mag sein, dass er den einen oder anderen Mörder fasst und einbuchtet, aber weil ständig neue Verbrecher nachwachsen, ist das so nutzlos, wie das Felsblockrollen von Sisyphos. Hätte er seinem Leben nicht eine andere Richtung geben sollen?

Der Verlauf der Geschichte verschenkt sicher Potenzial, wenn man bedenkt, was man alles daraus hätte machen können. Ich halte das aber weniger für ein Problem der Erzählweise, sondern eher für eine Konsequenz des Formats. Es ist nicht das erste Mal, das ich mich beim Schreiben frage, ob die Geschichte nicht das Zeug für einen Roman hätte. Das ging mir z.B. auch bei Orkus so. Insbesondere, wenn man so viel Detailarbeit geleistet hat, möchte man das alles auch irgendwie weiterführen.

Du hast recht, dieser Twist mit der verdrängten Tötung eines Menschen im Dienst, das hätte man auf jeden Fall entwickeln können. Aber nicht innerhalb einer Kurzgeschichte, fürchte ich. Meine Idee war, einen Bruch zu inszenieren. Vielleicht so, wie es alle Zuschauer geschockt hat, dass Ned Stark am Ende der ersten Season von Game of Thrones hingerichtet wird. Was? Der Hauptcharakter wird suspendiert? Geht nicht!

True Detectives kenne ich leider nicht, aber das wurde mir von vielen Leuten empfohlen. Werde ich sicher mal reinschauen.

Zigga, danke für Deine Hinweise.

Gruß Achillus

Hey Holg,

Mann, Du hast ja ein irre gutes Gedächtnis. Der Stammer dieser Geschichte ist tatsächlich der Sohn des Georg Stammer aus Ein normaler Fall. Der alte Herr spielt aber für das Verständnis des Textes keine Rolle und taucht nur ein zwei Mal in der Reflexionen auf. Gut aufgepasst!

Vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Hab mich gefreut, dass Du Dir die Zeit genommen hast. Ich kann Dir Deine Reaktion nicht übelnehmen, denn wie schon in anderen Kommentaren gesagt ging es mir in ähnlichen Situationen so wie Dir.

Vor ein paar Wochen habe ich Bosch gesehen, eine melancholische Cop-Geschichte in Serienformat. Im Laufe einer Staffel nähert sich der Ermittler einem dreißig Jahre alten Fall, bei dem eine Prostituierte – die Mutter des Ermittlers – ermordet wurde. Ist zwar nur ein Seitenstrang der Geschichte, aber emotional bewegend, denn der Cop hatte eine ziemlich bittere Kindheit, weil ihm die Mutter genommen wurde. Jedenfalls gelingt es ihm auf verschlungenen Pfaden, den Namen des Mörders aufzudecken. Und als er in der Bude auftaucht, wo der Typ angeblich arbeiten soll, stellt sich raus, dass der Killer seit zwei Jahren tot ist, an Krebs gestorben. Es gibt dann eine Einstellung, die mich echt mitgenommen hat, in der Bosch (der Cop), auf dem Friedhof steht und in seiner Ohnmacht nicht anders kann, als auf das Grab des Mörders zu spucken. Mehr bleibt ihm nicht, als diese nutzlose Geste. Ich habe mich da auch gefragt, weshalb die Drehbuchautoren das so machen, dem Zuschauer die Genugtuung von Boschs Rache verweigern.

Es ging mir nicht darum, diesen Bruch zu erzeugen "weil es Kunst sein soll", wie Du sagst. Im Grunde kam mir die Idee, nachdem Rasske Katz erschossen hatte. Bis dahin lief alles ganz folgerichtig ab. Und plötzlich wurde mir klar, dass nun der Mörder von Nesrin bereits gerichtet war. Katz, der Killer, vermodert in dem kleinen Waldsee, und die Cops können nichts mehr tun, um ihn der Gerechtigkeit zuzuführen, wie man so schön sagt.

Als ich an diesem Punkt war, fragte ich mich, was es für die Geschichte bedeuten würde, wenn auch Rasske und die anderen Gangster nicht von den Cops erwischt würden. Und da passte dann die bereits vorher angelegte Traumatisierung von Stammer wie das fehlende Puzzleteil dazu.

Du hast natürlich recht, die Sinnlosigkeit (auf das Resultat bezogen) der Ermittlungsarbeit hätte ich auch anders darstellen können, beispielsweise wie in Sieben. Der entscheidende Unterschied scheint mir aber zu sein, dass in Sieben die Genialität des Killers der Grund für das Scheitern der Ermittler ist. Das bedeutet, das Ende in Sieben ist letztlich doch folgerichtig, während das Ende in No Country for Old Men wie ein übler Scherz des Schicksals erscheint und für mein Empfinden mehr irritiert.

Ich habe mich bei meinen eigenen Empfindungen in diesen Situationen gefragt, weshalb mich das so aufregt. Wurde ich im Verlauf der Geschichte nicht gut unterhalten? Fand ich die Entwicklung, die Details, die Personen, das Ambiente nicht interessant und spannend? Weshalb regt es mich so auf, dass ich nicht das Ende bekomme, das die Geschichte meiner Ansicht nach verdient? Ich glaube, es hing damit zusammen, dass mir plötzlich bewusst wurde, dass ich eine ganz andere Geschichte erlebe, als ich vermutet hatte und für die ich den Schluss zu kennen glaubte.

In dieser KG wird nicht erzählt, wie Stammer den Killer von Nesrin fängt, auch wenn Du Dir das wünschst, weil es eben am Anfang so erscheint. In dieser Geschichte wird erzählt, wie Stammer den Punkt erreicht, an dem er einsehen muss, dass es so nicht mehr weiter geht in seinem Leben. Und es wird erzählt, wie die Gang um Rasske einen Fehler macht, den alle Mitglieder mit dem Leben bezahlen.

Tut mir leid, wenn Du diese Geschichten als sinnlos empfindest.

Gruß Achillus

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Mir kommt es vor und egal, was Jimmy dazu sagt, egal, wie begeistert er darüber ist, ich werde immer noch nicht das Gefühl los, das ich hier verarscht wurde.

Nein, maria.meerhaba, du wurdest nicht verarscht, höchstens von dir und deinen eigenen Leseerwartungen. Achillus ist nicht dein Erfüllungsgehilfe. Und der beste Moment in "No Country for old men" ist das Ende, wo er auf dem Stuhl sitzt und monologisiert, und es klar wird: Das geht einfach so weiter. Wie im echten Leben! Und ich finde es mutig, dass diese Geschichte diesen Schritt, diesen Cut wagt. Gefällige Texte gibt es hier doch echt zu Genüge.

 
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Maria, Baby. Tut mir wirklich leid, dass ich Dir den Kick versaut habe. Ich finde es immer noch nicht so krass, wie Du es beschreibst. Nimm doch beispielsweise den zweiten Abschnitt, diese Jagd im Wald. Das hätte man durchaus (mit ein paar kleinen Ausgestaltungen) allein als KG ins Forum stellen können, weil dieser Abschnitt schon so etwas wie eine in sich geschlossene Szene darstellt, die über den Rasske und sein Weltbild einiges sagt. Damit will ich sagen, ich verstehe nicht so ganz, wieso Du jetzt Dein Eintrittsgeld zurück haben willst. Bei meiner nächsten KG schick ich Dir eine PN, dann weißt Du ob Du die Hände von dem Ding lassen solltest. Gruß Achillus

Hallo Bea,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren.

Hallo Achillus, normalerweise lese ich keine Ermittlergeschichten oder Krimis. Es tut mir leid, aber sie öden mich an. Die ewig gleichen Muster: Kriminalkommissare, meistens Alkoholiker, Einsiedlerkrebse, die ihr Leben lang ein Trauma mit sich herumschleppen. Die Erzählstruktur folgt meist den gleichen Mustern, die Dialoge sind austauschbar. Alles schon hundert Mal gehört.

Tja, ich überlege gerade, weshalb es mir anders geht. Einerseits hast Du natürlich recht, da gibt es ein Muster (oft Leichenfund, Ermittlung, Killer wird gestellt), dem dieses Genre unterliegt. Insofern ist da nicht viel Neues zu erwarten. Und wenn dann das Muster gebrochen wird, kriegen die Leser/ Zuschauer schnell schlechte Laune.

Vielleicht unterstelle ich dem Genre einfach, dass es etwas Grundsätzliches über Mensch und Gesellschaft aussagt. Menschen töten Menschen seit der Frühzeit, mit nicht ganz einheitlichen Definitionen, ab wann eine Tötung ein Mord ist. Und diese Phänomene sagen auch etwas über Ethik und Weltbild der Menschen aus, die involviert sind.

Im Fall dieser Geschichte habe ich bewusst nicht den explizit rechten Rand der Gesellschaft betrachtet, sondern eine Spielart von Leuten, von denen ich einige Vertreter ganz gut kenne. Es sind Menschen, die sich aus dem einen oder anderen Grund nicht an die Spielregeln der Gesellschaft gebunden fühlen. Leute, die Bunker bauen und Vorräte anlegen. Die beispielsweise in der Flüchtlingskatastrophe die Symptome einer bevorstehenden Apokalypse sehen. Das alles habe ich nur angedeutet, aber wer will, kann es herauslesen.

Warum ich deine Geschichte trotzdem gelesen habe? Weil sie sehr gut geschrieben ist und weil mich der Cop rührt.

Das freut mich.

Verstanden habe ich nicht die Formulierung: Der schimmernde Leib schwebte ein, zwei Sekunden lang im Dunst des anbrechenden Tages, dann löste sich das Nachbild auf. Wieso schwebte der Körper?

Das war so gedacht als Bild für den Effekt, wenn ein plötzlicher Beleuchtungswechsel ein optisches Nachbild erzeugt, das auf der Netzhaut fixiert zu sein scheint. Wenn Du den Kopf drehst, wandert es mit.

Da perlte etwas das Rückgrat empor, etwas, das sich wie Macht anfühlte ... Perlte? Kann etwas wie Macht das Rückgrat emporperlen? Hört sich schief an.

Das war als eine Art Proto-Orgasmus gedacht, das Gefühl, ein Schauer, wenn Du willst, der das Rückgrat emporkriecht oder wie in Luftblasen nach oben steigt und den ganzen Körper mit Energie erfüllt.


Schnitt, nächste Szene. Das ist Fernsehdramaturgie. Wie immer man es bewerten mag, es wirkt auf mich, als ob ich das alles schon in irgendwelchen deutschen TV-Filmen gesehen hätte. Es wirkt nicht neu und nicht überraschend auf mich.

Das lässt sich schwer abstreiten. Werde ich drüber nachdenken, ob man das anders lösen sollte.

Allein deine hervorragende Recherchearbeit, die detailgenauen und hervorragend geschriebenen Szenen lassen mich interessiert weiterlesen.

Ja, danke, steckt ne Menge Arbeit drin. Und hat mir viel gegeben, das Schreiben an der Geschichte.

Über das Ende wurde ja schon einiges gesagt, dazu kann ich nur aus eigener leidvoller Erfahrung teilen, dass man ab einem bestimmten Punkt möglichst schnell zum Ende kommen will. Aber – es rächt sich.

Das Ende regt wohl so manchen Leser/ manche Leserin auf. Neben dem Verdacht, ich wollte möglichst schnell zum Ende kommen, kam ja auch die Idee, ich hätte keinen Plan gehabt, wie man das alles zusammenführen könnte. Ich kann dazu nur wiederholen, dass der Plan für das gewählte Ende mit Katz kam, als er im Waldsee versenkt wurde und mir plötzlich bewusst wurde, dass der Killer nun schon tot war. Ich dachte dann, hm, das geht aber nicht. Der Typ ist doch mein Hauptbösewicht. Und so ergab eins das andere.
Ich weiß, mein Kommentar ist wahrscheinlich kontraproduktiv

Nein, gar nicht. Ich danke Dir dafür.

Vielleicht fehlte mir zwischen all der Action ein stiller Moment mit Stammer, etwas persönliches, weniger berufliches, etwas besonderes, das nur er hat. Ich mag den Kerl.

Guter Punkt. Vielleicht mache ich das.

Mir hat mal ein alter Lehrmeister gesagt: Nimm nie das, was dir zuerst einfällt und was du kennst. Schreib dir zehn Alternativen auf. Nimm die, die am ungewöhnlichsten und trotzdem plausibelsten ist, die, die deine Figur braucht, um an ihre Grenzen zu kommen.

Puh, zehn Alternativen ist schon eine ganze Menge. Aber ich verstehe, wohin die Technik zielt. Gute Idee, auf jeden Fall.

Vielen Dank für Deine Zeit und Deine Gedanken.

Gruß Achillus

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Hallo noch einmal Achillus,

zum viel diskutierten Ende möchte ich noch etwas loswerden: Warum hat es mich nicht so aus der Bahn geworfen, frage ich mich? Ich hatte dir ja geschrieben, davor die Szene, die, in der Stammer bei der Therapeuthin ist, die ging mir zu schnell. Ja. Aber das Ende? Ich finde es sogar gut, dass die Geschichte eben nicht endet, wie man es vielleicht erwartet. Möglicherweise erwartet man aber auch gar nichts. Ich hatte ein bisschen sogar gehofft, dass es eben nicht traditionell endet: Guter schnappt Bösen. Sondern eine Rache, die in den vielen Grauzonen dazwischen liegt. Und dann wirkt das Ende noch besser. Weil es eben zeigt, wie sehr sich Stammer in den Fall reinfuchst, dass er eben doch gegen das Übel in der Welt kämpft, obwohl er sie schon aufgegeben hat - und am Ende kommt dann doch alles anders. Besser hättest du das nicht darstellen können.
Der hier erwähnte Vergleich mit Rust Cohle ist da gut gewählt. Dieser Mensch, der nichts Gutes mehr in der Welt findet, der seinen Einfluss auf das Geschehen der Dinge anzweifelt, und dennoch alles gibt, um den Mord an einem Mädchen aufzuklären. Er und dein Stammer haben durchaus Parallelen.

Ich glaube, was ich sagen will, ist einfach: Ich finde das Ende deiner Geschichte gut. Sehr gut sogar! Und das, obwohl ich No Country For Old Men nichts abgewinnen konnte :shy:

 

Hallo Achillus,

ich habe deine Geschichte mit Spannung gelesen und mir ist mehr als einmal das Bedürfnis gekommen, Rasske so richtig schön zu verprügeln, einfach, weil er so ein Arsch ist. Das schaffen nicht viele und dafür zolle ich dir Respekt.
Im Gegensatz zu einigen anderen möchte ich das Ende, ich finde, du hast gut darauf hingearbeitet, dass mit dem Polizisten etwas nicht stimmt und ich fand die Auflösung sehr gut. Meines Erachtens hättest du nicht einmal eine genuge Erklärung abliefern müssen, was geschehen ist, mir hätte die Info gereicht, er hat wen umgebracht und wird jetzt suspendiert. Das hätte ich sogar besser gefunden, weil ich mir dann hätte ausmalen können, was da in der Vergangenheit schief lief. So, finde ich die Beschreibung der Vergangenheit zu kurz und es berührt mich nicht, aber mehr Platz hättest du den alten Fall auch nicht geben sollen, insofern wäre Kürzen das Mittel meiner Wahl gewesen.;)
Auch das Ende von Rasske fand ich gut, ich finde, man hätte auch die Polizisten das Gebäude stürmen lassen können, aber so ist es stimmiger und die Verbrecher bekommen doch noch das, was sie verdienen.
Ein Aufeinandertreffen von Rasske mit der Polizei wäre vielleicht interessant geworden, aber ich mag die Aussage der Geschichte, dass die Welt sich ja doch nicht ändert. Gerade bei der Arbeit als Polizist drängt sich dieser Gedanke auf und ich finde ihn hier treffend umgesetzt.

Liebe Grüße,
Mitra

 
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Hallo Sonne, vielen Dank dafür, dass Du Dir die Zeit fürs Lesen und Kommentieren genommen hast.

ich habe deine Geschichte direkt nach dem Einstellen gelesen und wenige Stunden später nochmals und dann eine Empfehlung abgeschickt.

Wunderbar, das freut mich sehr. Leider scheint die Empfehlung irgendwo in der Post stecken geblieben zu sein. Naja, vielleicht kommt ja noch was.

Für mich war das zentrale Thema das verschwinden der jungen Aslyanten und Aslyantinnen. Ich habe vor einigen Monaten von knapp 5000 in Deutschland gelesen - eine krasse Zahl. Sie sind aber auch ein gefundenes Fressen für Kriminelle jeder Art.

Ja, mich haben die Zahlen auch schockiert (siehe HIER). Die Behörden und Politiker vermuten auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass viele dieser Menschen "in Zwangsprostitution oder ähnlichen Ausbeutungsverhältnissen landen." Das beweist eine historische Einsicht, nämlich, wer Krieg, Flucht und Vertreibung erleidet, dem stehen häufig noch viele weitere Qualen bevor.

Ich finde da Thema hast du gut umgesetzt, und das Ende finde ich nur realistisch und deshalb gut nachvollziehbar. Klar, es ist kein riesen Knall, kein krasser Effekt. Muss es das sein?

Ja, die Idee war, ein mehr realistisches Aufeinanderprallen von Ereignissen zu zeigen, als man das sonst aus durchkomponierten Ereignisabläufen kennt. Ich werde in Zukunft sicher wieder zu gewohnteren Erzählmustern zurückkehren, aber diesmal hats mich gejuckt.

Ich kann zigga zustimmen was die Spannung und die Länge angeht, das hat auch für mich absolut gepasst. Hat schon Spaß gemacht zu lesen.

Freut mich sehr. Gerade bei so längeren Kurzgeschichten ist es nicht leicht, die Leser an den Text zu fesseln. Bin froh, dass mir das gelungen ist.

Gruß Achillus


Hey RinaWu,

vielen Dank fürs Nochmalreinschauen. Ja, die Therapiesitzung werde ich noch mal anschauen und gucken, ob ich diesen Moment ausbauen kann, in dem Stammer kapiert, dass er ein gewaltiges Verdrängungsproblem hat. In der Tat haben wir das Muster "Der Gute schnappt den Bösen" sehr oft vorgeführt bekommen. Ich denke, das ist eben der traditionelle Geschichtenaufbau, den man schon aus Beowulf und aus der Odyssee her kennt. Ich halte das auch nicht für grundsätzlich falsch. Aber hin und wieder davon abweichen, könnte die Optik schärfen. Mir hat jedenfalls zu denken gegeben, dass ich diesbezüglich mit No Country For Old Men solche Probleme hatte. Thx, Rina!

Gruß Achillus

Hey Bea, auch Dir ein Dankeschön, dass Du noch mal reinschaust. Du hattest so Deine Schwierigkeiten mit der Psychologin und dem, was sie tut.

Mit ihrer sanften, aber beharrlichen Art der Gesprächsführung schob sie sich in jeder Sitzung ein wenig tiefer in seine Seele, um ... Ja, weshalb eigentlich? .... das frage ich mich auch. Das ist doch ihr Job!

Der Knackpunkt lag für mich darin, dass Stammer eben nicht zu den Sitzungen musste, weil er, wie er dachte und wie man aus seinen Reflexionen annehmen konnte, depressiv und burnout-gefährdet war. Es steht ja Polizisten frei, den sozial-psychiatrischen Dienst ihres Bereichs aufzusuchen, wenn sie unter den Belastungen ihres Jobs leiden. Leider machen das in der Regel eher die unteren Dienstränge, weil die Offiziere häufig fürchten (möglicherweise zurecht) ihre Karriere zu gefährden. (Habe ich in einem Interview mit einem Psychotherapeuten gelesen, der häufig Cops auf der Couch hat.)

In dieser Geschichte erinnert aber sogar Stammers Vorgesetzter ihn an den Termin mit der Psychologin. Das hatte ich als Hinweis gedacht, dass die Sache offiziell ist. (Auch Recklings Rücksichtnahme am Tatort war so gedacht, aber das war nur so ein kleiner Punkt.)

Denn Stammer ging eben nicht wegen allgemeiner Schwierigkeiten hin, sondern wegen der Tötung eines Menschen. Ob das in Deutschland Pflicht ist, weiß ich nicht genau. Dazu haben meine Recherchen nichts ergeben. (Falls das jemand liest und mehr weiß, bitte melden.) Aber der Punkt ist, dass Stammer das eben gar nicht mehr sieht. Er redet die ganze Zeit von der schlimmen Welt im Allgemeinen und sieht nicht, dass ein Stresstrauma ihn zur Psychologin geführt hat. Denn als sie fragt, gibt er die falsche Antwort.

Ehrlich gesagt, hege ich großen Zweifel, dass ausgerechnet der Tod dieses Mädchen ihm so an die Nieren geht.

Ich sehe es so, dass dieser Fall ihm tatsächlich an die Nieren geht, aber entscheidend ist, dass er nur den Kristallisationspunkt einer Verdrängungsanstrengung darstellt. Der Fall gibt Stammer die Möglichkeit zu glauben, seine Berufserfahrungen wären die Ursache seiner psychischen Situation. Aber das ist eben nur ein Teil der Wahrheit und nicht der Grund für seine Therapiesitzungen.

Frage am Rande: Ist es richtig, dass Kriminalkommissare erst nach zwei Monaten suspendiert werden?

Sie werden überhaupt nur suspendiert, wenn der Vorgesetzte, ein Arzt oder Polizeipsychologe zur Ansicht gelangt, dass der Beamte eine Stresssituation nicht mehr verarbeiten oder bewältigen kann. In meiner Geschichte hatte Stammer ja bereits einige Sitzungen absolviert. Bis dahin scheint er sich ganz gut gehalten zu haben. Er hat zwar seine Tatortdepression geschildert und sicher auch einige andere Sachen, die ihn frustrieren, aber bislang hat die Psychologin nicht bezweifelt, dass er okay ist. Ich dachte mir das als eine Serie von, sagen wir drei bis sechs Pflichtsitzungen. Doch die Sitzung dieses Tages verläuft anders. Stammer weiß nicht mehr, dass er wegen des Todesschusses bei der Therapeutin ist. Und das zwingt die Psychologin, die Reißleine zu ziehen.

Ich habe früher manchmal beruflich mit Kripo und Gerichtsmedizinern zu tun gehabt. Das waren alles Menschen, die vom Lauf der Berufsjahre ´abgebrüht´ wurden und das Leben außerordentlich zu schätzen wussten. Eben weil sie beruflich fast täglich dem Tod in die Augen schauten. Die passten in ihrem Privatleben sehr genau auf und schätzen das Leben, weil sie wussten, dass der Tod immer um die Ecke lauert, vor allem der zufällige Tod.

Möglich, dass dieser Eindruck täuschte. Ich habe belastbare Zahlen gelesen, die andere Schlüsse nahelegen. Beispielsweise HIER. Da ging es um Beamte aus Polizei, Zoll und Justizvollzug:

- 72 % haben traumatische Erlebnisse in ihrer persönlichen Lebensgeschichte
- 43 % leiden an psychosomatischen Beschwerden
- mehr als die Hälfte musste bereits von der Schusswaffe Gebrauch machen
- viele haben einen Suizid von Kollegen erlebt
- 23 % leiden an Depression

Vielen Dank für Deine Hinweise, Bea. Hat mir geholfen, dass Du noch mal nachgehakt hast.

Gruß Achillus


Hey Mitra,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Freut mich sehr, dass Du die Geschichte spannend und überzeugend fandest.

mir ist mehr als einmal das Bedürfnis gekommen, Rasske so richtig schön zu verprügeln, einfach, weil er so ein Arsch ist.

Ja, war eine irritierende Erfahrung, in den Kopf dieses Mannes zu klettern. Ich muss gestehen, dass einige Aussagen und Denkweisen solcher Leute eine gewisse, verkommene Logik besitzen. Ich habe vor vielen Jahren auch einige Zeit damit verbracht, mit Menschen die so oder so ähnlich denken zu diskutieren. Insbesondere der Hass auf Menschen anderer Hautfarbe und Religion hat mich immer verwirrt, vielleicht weil es mir selbst an Vaterlandsstolz mangelt. Aber wenn man einmal eine bestimmte Prämisse akzeptiert kommt man irgendwann genau zu den verhängnisvollen Schlüssen, die Rasske da so von sich gibt.

Im Gegensatz zu einigen anderen möchte ich das Ende, ich finde, du hast gut darauf hingearbeitet, dass mit dem Polizisten etwas nicht stimmt und ich fand die Auflösung sehr gut.

Freut mich sehr. Ein Freund meinte zu der Geschichte, dass, würde sie als Tatort laufen, wegen diesem Finale ein Shitstorm in den Medien losbrechen und eine Intendantin der ARD gefeuert würde... Haha.

und die Verbrecher bekommen doch noch das, was sie verdienen.

In dieser Hinsicht ist es eben doch ziemlich viel Fiktion, fürchte ich. Denn die Verbrecher der wirklichen Welt bekommen längst nicht immer, was sie verdienen, wie wir alle wissen. Ich sehe es aber auch ein bisschen metaphorisch. Die Gewalt und Zerstörung, die ein Mensch in die Welt bringt, kommt auf die eine oder andere Art zu ihm zurück. Nicht immer in Form von tschechischen Gangstern, die einem über der Türschwelle die Kehle zertrampeln und das Genick brechen. Aber vielleicht in anderer Form ...

Mitra vielen Dank für Deine Zeit und Deine Gedanken.

Gruß Achillus

 

Hey Achillus,

mir gefällt die Geschichte, ich habe schon mitgekriegt, dass einzelne Stimmen laut geworden sind, die Unzufriedenheit an dem Ende geäußert haben. Mir macht es nichts aus, das es so ist, wie es ist. Die übliche (tatortmäßige) Auflösung wäre wohl, dass der Mord aufgeklärt wird und die bösen Prepper in den Knast wandern – sicherlich ist da noch viel Potential für gute Polizeiarbeit aber so wie ich das sehe liegt der Fokus hier, eher auf den beiden Hauptcharakteren und deren Gegensätzlichkeit.

Wir haben da den von Selbstzweifeln und Depressionen geplagten Kommissar Stammer und den sich allen Mensch überlegen fühlenden Anführer Rasske, wahrscheinlich ein Narzisst. Für beide ist der Auslöser ihres Handelns der Mord an dem ausländischen Mädchen. Jeder tut das in seinem Spielraum mögliche, um den jeweils entstandenen Konflikt zu lösen, am Ende sind aber beide in ihrer Machtlosigkeit vereint und können gegen die äußeren Umstände nicht bestehen. Sie sind sozusagen beide, die Seiten einer Medaille und verlieren ihre Handlungsfreiheit.

Das ist die Idee die ich in der Geschichte erkennen kann und die gefällt mir, wie schon anfangs erwähnt. In der Ausarbeitung besteht noch Luft nach oben, andeutungsweise ist dir dies aber schon gut gelungen z.B. geben mir folgende Sätze Hinweise in die jeweilige Richtung:

Reckling zu Stammer:

»Danach werde ich jemanden rufen, der mir hilft, die Leiche umzudrehen. Du musst nicht bleiben.

Dieses „Du musst nicht bleiben“ verstehe ich als Andeutung des Gerichtsmediziners auf die bekannte „Schwäche des Kommissars“ (sich die Dinge zu Herzen zu nehmen), vor der sein Kollege ihn schützen möchte.

Oder Rasske:

Aber verdammt noch mal, war die ganze Scheiße nicht auch seine eigene Schuld? Hätte er, der Alpha, nicht die Pflicht gehabt, bis zum Ende dabei zu bleiben?

Der als Rudelführer die ersten Anzeichen für seinen Kontrollverlust bemerkt.

Möglicherweise kannst du die jeweiligen Charakterzüge und wie sie sich zuspitzen, bis zum absoluten entgleiten der Kontrolle noch vertiefen.
Zwei Punkte in der Handlung wirken dabei allerdings zu sehr konstruiert. Erstens, die Begründung von Stammers Suspendierung. Der Vorfall mit dem Meth-Dealer kommt dabei einfach aus dem nichts. Die Suspendierung sollte ihren Grund eher in Stammers Verhalten im aktuellen Fall finden – vielleicht weil er bei einer Zeugenbefragung durchdreht oder so.
Zweitens, dass plötzliche Auftauchen der Tschechen, die über Rasske und seine Leute herfallen. Es müsste einfach mehr beleuchtet werden, warum der Deal so wichtig war, und warum dieser Mord zum ungünstigsten Zeitpunkt überhaupt passiert ist. Der Grund für den Angriff der Tschechen ist einfach nicht nachvollziehbar, hier erwartest du vom Leser, dass er sich damit erklärungslos abfindet.

Eine weitere Frage kommt mir dabei in den Sinn: Was machen Rasske und seine Leute mit den Mädchen die so eine Nacht überleben?

Die Antwort könnte möglicherweise sogar als Begründung für zweitens herhalten. Vielleicht gehören die Tschechen zu einem Menschenhändlerring und das Mädchen war für sie bestimmt. Sie bekommen Wind von dem Mord und der möglichen Spur die nun auch zu ihnen führen könnte, und tun nichts anderes als Rasske, als er Katz erschießt – ein Exempel statuieren.

Soviel dazu. Alles in allem gefällt mir die Idee sehr gut, wenn ich sie denn richtig erkannt habe. Deine Sprache und die verwendeten Bilder bringen die Atmosphäre schön rüber, ich werde bei Gelegenheit mal schauen was du sonst noch so schreibst. Das Interesse ist geweckt.:thumbsup:

An dieser Stelle noch ein paar Kleinigkeiten:

Eine Betreuerin von Jugendlichen ohne Eltern hat sie erkannt.
Im Beamtendeutsch sind das UMA’s also unbegleitete minderjährige Ausländer.

Reckling hockte sich zu der Leiche. Er setzte seine Arbeitstasche ab, öffnete sie und holte ein Paar Latexandschuhe heraus.
Heutzutage werden vornehmlich Nitril- oder Vinylhandschuhe verwendet.

»Der Abgang von Urin und Kot ist typisch bei vielen Strangulationsarten.«
Mich würde interessieren, bei welchen Strangulationsarten der Abgang von Urin und Stuhl eher untypisch wäre.

So jetzt ist’s aber genug.:lol:

Schöne Grüße
Lem Pala

 

Hallo noch mal, Achillus!

Danke für deine ausführliche Antwort auf meinen etwas galligen Kommentar. Ich fühle mich bemüßigt, meinen Kritikpunkt noch einmal zu präzisieren.

Mein Problem besteht nicht darin, dass die Handlung ein unbefriedigendes Ende hat. Ich kann sehr gut damit leben, dass der Kommissar am Ende nicht den Mörder (oder dessen Komplizen) zu fassen kriegt, dass die Ermittlungsarbeit letztlich nutzlos war. Ich finde das sogar einen ganz schönen Twist. Aber aus meiner Sicht hat dein Text nicht bloß ein unschönes Ende, sondern gar kein Ende.

Mein Gegenbeispiel mit Sieben war tatsächlich nicht das beste; die Genialität des Killers ist überhaupt nicht der Knackpunkt. Du gibst selbst ein viel besseres Beispiel mit Bosch (den ich leider nicht selbst gesehen habe, so dass ich nur nach deiner Umschreibung gehe). Dort wird zwar auch dem Cop die Katharsis vorenthalten, aber zumindest bekommt der Zuschauer einen Abschluss der Geschichte präsentiert in der Schlussszene, die du beschreibst. Man sieht, wie es endet; man sieht, wie es den Cop frustriert. Auch das ist ja eine Form der Konfrontation.

In deinem Text ist das viel schlimmer: Du ziehst den Protagonisten einfach mal eben aus der Geschichte raus, und es geht ohne ihn weiter. (Dazu hätte es fast die Psychologin nicht gebraucht, du hättest Stammer auch einfach zuhause vor den Fernseher setzen können, während Rasske und seine Leute gekillt werden.) Keine Ahnung, wie er das erlebt; keine Ahnung, ob er überhaupt mitbekommt, wie sein letzter Fall endet; keine Ahnung, ob ihn das Ende von Rasske & Co. kümmert, ob es ihn freut oder frustriert. D.h. den (aus meiner Sicht ziemlich starken) Schluss, den Bosch hatte, verweigerst du uns. Das meinte ich, als ich schrieb:

Es sind zwei verschiedene Dinge, ob das Tun der Protagonisten sinnlos ist oder ob die Geschichte sinnlos ist.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Ende der Gang m.E. deutliche Züge von deus ex machina trägt. Du schreibst:
Und es wird erzählt, wie die Gang um Rasske einen Fehler macht, den alle Mitglieder mit dem Leben bezahlen.
Vielleicht habe ich ja was verpasst, aber meiner Meinung nach wird das keineswegs erzählt. Es gibt zwei vage Andeutungen mit irgendwelchen Tschechen und eine mit irgendeinem Blitzdeal (wobei nicht mal ganz klar ist, ob das zusammengehört), und ein paar Zeilen später werden die Männer umgebracht. Wegen einer "verfickten Schlampe", die ohne weiteres ersetzbar wäre? Da hätten die Tschechen ja einfach zwei andere als Wiedergutmachung fordern können und gut. Außerdem wird der Tschechendeal im Vorfeld als wesentlich kleineres Problem dargestellt im Vergleich zur Verfolgung durch die Polizei.

Ich denke, ich wäre schon zufrieden, wenn du den Ärger der Tschechen etwas besser motivieren und am Ende noch mal Stammer mit dem Ausgang des Falls konfrontieren könntest. Dann hätte die Story den Abschluss, den ich momentan vermisse.

Grüße vom Holg ...

 

Hallo Lem Pala,

vielen Dank für Deine Hinweise zum Text. Du fasst die Grundzüge der Geschichte sehr prägnant zusammen:

Wir haben da den von Selbstzweifeln und Depressionen geplagten Kommissar Stammer und den sich allen Mensch überlegen fühlenden Anführer Rasske, wahrscheinlich ein Narzisst. Für beide ist der Auslöser ihres Handelns der Mord an dem ausländischen Mädchen. Jeder tut das in seinem Spielraum mögliche, um den jeweils entstandenen Konflikt zu lösen, am Ende sind aber beide in ihrer Machtlosigkeit vereint und können gegen die äußeren Umstände nicht bestehen. Sie sind sozusagen beide, die Seiten einer Medaille und verlieren ihre Handlungsfreiheit.

Mir fällt bei Geschichten häufig auf, dass die Protagonisten durch ihr Verhalten, ihre Entscheidungen ein bestimmtes Resultat in der Story herbeiführen. Gerade bei Ermittlungsgeschichten ist ja das Ergebnis der Polizeiarbeit in neun von zehn Fällen, dass der Verbrecher geschnappt wird. Doch in der Wirklichkeit läuft es auch häufig anders. In Deutschland ist die Aufklärungsquote zwar recht hoch, aber auch hier kommt es nicht selten vor, dass die Kollegen eines anderen Bundeslandes den Verbrecher fassen, z.B. weil er auf der Flucht ist. Es kommt also nicht immer zur Begegnung zwischen Held und Monster.

Möglicherweise kannst du die jeweiligen Charakterzüge und wie sie sich zuspitzen, bis zum absoluten entgleiten der Kontrolle noch vertiefen.

Das werde ich auf jeden Fall versuchen.

Zwei Punkte in der Handlung wirken dabei allerdings zu sehr konstruiert. Erstens, die Begründung von Stammers Suspendierung. Der Vorfall mit dem Meth-Dealer kommt dabei einfach aus dem nichts. Die Suspendierung sollte ihren Grund eher in Stammers Verhalten im aktuellen Fall finden – vielleicht weil er bei einer Zeugenbefragung durchdreht oder so.

Hm, verstehe , was Du meinst. Aber der Kniff bestand ja gerade darin, dass Stammer für sein eigentliches Problem blind war. Ich überlege, ob man den Vorfall vielleicht andeuten könnte, damit er nicht ganz so wie aus dem Hut gezaubert wirkt.

Zweitens, dass plötzliche Auftauchen der Tschechen, die über Rasske und seine Leute herfallen. Es müsste einfach mehr beleuchtet werden, warum der Deal so wichtig war, und warum dieser Mord zum ungünstigsten Zeitpunkt überhaupt passiert ist. Der Grund für den Angriff der Tschechen ist einfach nicht nachvollziehbar, hier erwartest du vom Leser, dass er sich damit erklärungslos abfindet.

Stimmt, das macht Sinn. Der Balanceakt ist dann allerdings, den Leser nicht zu sehr auf dieses mögliche Ende hinzuweisen. Es soll ja eine Überraschung sein.


Eine weitere Frage kommt mir dabei in den Sinn: Was machen Rasske und seine Leute mit den Mädchen die so eine Nacht überleben?

Sie verkaufen sie an die tschechischen Gangster.

Die Antwort könnte möglicherweise sogar als Begründung für zweitens herhalten. Vielleicht gehören die Tschechen zu einem Menschenhändlerring und das Mädchen war für sie bestimmt. Sie bekommen Wind von dem Mord und der möglichen Spur die nun auch zu ihnen führen könnte, und tun nichts anderes als Rasske, als er Katz erschießt – ein Exempel statuieren.

So war es gedacht. Den Tschechen ist das Mädchen völlig egal. Die Aktion ist die Mafiavariante dafür zu sagen: Ihr habt es versaut und uns allen geschadet. Ihr habt einen Deal platzen lassen und Euch nicht an unsere Regeln gehalten. Ihr lenkt die Bullen in unsere Richtung.

Im Beamtendeutsch sind das UMA’s also unbegleitete minderjährige Ausländer.

Bin ich bei meinen Recherchen auch drauf gestoßen, wusste aber nicht so richtig, wie ich es in der direkten Rede unterbringen sollte.

Heutzutage werden vornehmlich Nitril- oder Vinylhandschuhe verwendet.

Das wusste ich nicht. Allerdings frage ich mich, ob der Leser etwas damit anfangen kann, wenn ich schreibe: Er setzte seine Arbeitstasche ab, öffnete sie und holte ein Paar Nitrilhandschuhe heraus.

Mich würde interessieren, bei welchen Strangulationsarten der Abgang von Urin und Stuhl eher untypisch wäre.

Aus der Perspektive des Rechtsmediziners ist Strangulation der Sammelbegriff für alle Erstickungsarten, die durch Kompression des Halses zustande kommen, also Erhängen, Erdrosseln und Erwürgen. So wie ich es mal gelernt habe (das mag allerdings veraltet sein), ist Urin- und Kotabgang eine Folge von Erstickungskrämpfen. Wird beim Erwürgen (z.B. Arm Triangle Choke) oder Erdrosseln die Blutzufuhr zum Gehirn gestoppt, ist man innerhalb von Sekunden weg. Judoka und Ringer kennen das aus Training und Wettkampf. In diesen Fällen kommt es eher selten zu Urin- und Kotabgang. Aber ich mag mich täuschen.

Vielen Dank für Deine Zeit und Deine Hinweise!

Gruß Achillus


Hallo Bea,

danke fürs Nochmalreinschauen und den Link zur Pressemitteilung. Klar sind Zahlen, von wem auch immer, mit Vorsicht zu genießen, aber es sollte mich schon sehr wundern, wenn es den Leuten bei der Polizei, die mit Unterbezahlung und Überarbeitung zu kämpfen haben, ihr Leben riskieren und mit Verbrechen konfrontiert werden, psychisch so richtig gut gehen sollte. Das glaube ich einfach nicht. Sowohl bei Militär als auch Polizei sprechen Insider seit Jahren von gravierenden Problemen in dieser Hinsicht.

An den Schwachstellen versuche ich zu feilen. Vielen Dank für Deine Hilfe dabei.

Gruß Achillus


Hallo Holg!

Schön, dass Du Dich noch mal meldest. Ich werde bei meiner Überarbeitung prüfen, ob es zu Stammer am Ende noch was zu sagen geben sollte, das in Beziehung zu Rasske steht. Das wird allerdings schwierig, denn ich gehe davon aus, dass die Tschechen die Leichen von Rasske und Co verschwinden lassen. Wie soll Stammer also von ihm erfahren?

Du ziehst den Protagonisten einfach mal eben aus der Geschichte raus, und es geht ohne ihn weiter. (Dazu hätte es fast die Psychologin nicht gebraucht, du hättest Stammer auch einfach zuhause vor den Fernseher setzen können, während Rasske und seine Leute gekillt werden.) Keine Ahnung, wie er das erlebt; keine Ahnung, ob er überhaupt mitbekommt, wie sein letzter Fall endet; keine Ahnung, ob ihn das Ende von Rasske & Co. kümmert, ob es ihn freut oder frustriert.

Das siehst Du so, weil Du den Aspekt von Stammers Kernschmelze aufgrund der Tötung im Dienst nicht als eigenständigen Zug der Geschichte akzeptieren willst. Wieso ist es für Dich nur dann ein Ende, wenn Stammer und Rasske irgendwie in Kontakt kommen? Wieso ist der Konflikt von Stammer an Rasske gebunden? Für mich sieht es so aus, dass der Konflikt von Stammer in seiner inneren Spaltung besteht. Und dieser Konflikt findet seine (vorläufige) Auflösung in der Suspendierung von Stammer.

Weshalb die Tschechen überhaupt zuschlagen, ist ein wenig vage, das stimmt. Ich könnte das ein bisschen vertiefen, damit es nicht so wie aus dem Nichts kommt.

Vielen Dank für Deine Hilfe!

Gruß Achillus

 

Hallo Achillus

Noch bevor Christian Stammer die polizeilichen Absperrungen am Stettiner Park erreichte, packte ihn jenes Gefühl der Erschöpfung und Niedergeschlagenheit, das er in seinen Sitzungen als Tatortdepression bezeichnet hatte. Stammer hörte das im Morgenwind flatternde Absperrband, hörte den aus den offenen Streifenwagen dringenden Funkverkehr. Dort, wo am Eingang des Parkgeländes ein paar Beamte schweigend in der Dämmerung standen und den Spezialisten der Spurensicherung bei ihrer Arbeit zuschauten, dort lauerte der Abgrund.

Ein Einstieg, der mir ganz viel Information bietet.


In diesem Moment zuckte ein Blitzlicht auf und riss den Körper der Toten aus dem Schattenspiel der Arbeitsleuchten. Der schimmernde Leib schwebte ein, zwei Sekunden lang im Dunst des anbrechenden Tages, dann löste sich das Nachbild auf.

Hier stehe ich irgendwie auf dem Schlauch.


Es wurde Zeit, sich einzugestehen, dass er sich verirrt hatte. Wie konnte es nur so weit kommen? Wann war er zu dem Mann geworden, der seinen Job hasste? Wann war er der Einzelgänger geworden, der seine Tage damit verbrachte, durch einen Sumpf aus Scheiße zu waten, nur um schließlich zu der Erkenntnis zu gelangen, dass die Schlechtigkeit des Menschen ein unausrottbares Übel dieser Welt darstellte? Offenbar erteilte ihm das Schicksal die gleiche Lektion, die das Leben seines Vaters ruiniert hatte.

auch hier sehr viel Information

ich kann das sehr gut verstehen, die ständige Konfrontation mit Gewalt erfordert ein Sich abgrenzen können. Ich könnte auch nicht mein Leben lang Tote betrachten müssen


Die Beiden wechselten einen bedeutungsvollen Blick.

Hier stört mich das Adjektiv,


Naja«, sagte Brasch. »Sieht verdammt nach einem Null Sechsundvierzig aus, mit anschließendem Mord.«
Fachjargon ist immer gut, aber bei mir herrscht das ? vor


»Hier hinten, an den Beinen, vermischt mit all dem Blut, das ist Kot.«
»Ich verstehe.«

ja, so ist die Wirklichkeit, tot und entwürdigt. Das arme Mädchen


»Ich bleibe und helfe dir, sie umzudrehen«, sagte er.

Schön eingefangen!


Die Tenpoint Carbon Fusion verschoss Pfeile mit einer Geschwindigkeit von mehr als einhundert Metern pro Sekunde. Dennoch gelang einigen Tieren das Kunststück, dem heranrasenden Pfeil auszuweichen. Thomas Rasske nannte sie Ducker, und er hatte ein Gespür für die verfluchten Biester. Es waren die argwöhnischen Beobachter, die Zögerer und Trippler, chronisch nervöse Tiere, die genau im Moment des Schusses einen Satz machten und dem Jäger einen sicheren Kill verdarben.

Erst dachte ich, ein Game wird beschrieben.


Während er den Jährlingsbock durch das Zielfernrohr seiner Armbrust anvisierte, genoss Rasske die vertrauten Empfindungen des Jagdfiebers. Da perlte etwas das Rückgrat empor, etwas, das sich wie Macht anfühlte, wie Gelassenheit, Stärke und Gewissheit. Dieser Rehbock dort lag bereits als Kadaver im Laub, daran bestand kein Zweifel. Nichts würde das verhindern.

aber es ist Jägerlatein

mir gefällt nicht das Fettgedruckte, wie spürt man Macht? Als Perle? die den Rücken hoch rollt?

Zuversicht auf gutes Gelingen, die Vorfreude der Belohnung, Siegesgewissheit, ich würde das gerne nachempfinden. Mir fällt aber auch nicht ein, wie man das schreiben könnte.

Und das alles mitten im Biosphärenreservat, mit einer Waffe, die man frei im Sportfachhandel oder im Internet erwerben konnte.

Den Idioten dieser Welt wird Tür und Tor geöffnet. Leider!

Beim Wildern in der Schorfheide bestand der entscheidende Trick darin, die Beute im Wald zurückzulassen.

Ja, er jagt auch nicht, weil er hungrig, sondern ein Arschloch ist.

So sah Präzision aus, und war diese Fähigkeit, sein Vermögen, zielstrebig und effizient zu handeln, nicht auch der Grund für seine Überlegenheit?

Als Mistkerl geboren …

Du hast es versaut«, sagte Rasske. Aus der Mündung seiner Pistole zuckte ein Feuerstoß, und Katz kippte seitlich vom Stuhl.

… und dumm dazu. Irgendwie kommt noch was, ich ahne es


Ja«, sagte Scarron und Stammer sah, wie sich seine Züge verfinsterten. »I love Berlin, mit rotem Herz.«

Makaber

Rasske wollte gerade etwas darauf erwidern, als die Tür aufgestoßen wurde. Noch bevor einer der Drei eine Waffe ergreifen konnte, waren sieben oder acht Männer in die Hütte gestürmt. Ihre Schläger rauschten durch die Luft, und das widerliche Geräusch brechender Knochen erfüllte den Raum.

Das Karma hat zugeschlagen.

Ja, ist das noch Selbstjustiz? Überforderte Polizisten, Überfordertes System,

Früher einmal habe ich geglaubt, Frieden schaffen ohne Waffen, da wusste ich nix, wie die hässliche böse Fratze aussieht, wie sie wuchert,

ich kann auch nicht mit mehr Sicherheit sagen, was kann ich tun, was würde ich tun. Was würde ich tolerieren?

Der Gedanke, dass das Karma richtet, wo das System versagt, ist auch nur eine Illusion.

Die Geschichte hat ganz viel in mir angesprochen. Vielen Dank


Beste Grüße, GD

 

Hallo Achillus,

Wieso ist es für Dich nur dann ein Ende, wenn Stammer und Rasske irgendwie in Kontakt kommen? Wieso ist der Konflikt von Stammer an Rasske gebunden? Für mich sieht es so aus, dass der Konflikt von Stammer in seiner inneren Spaltung besteht. Und dieser Konflikt findet seine (vorläufige) Auflösung in der Suspendierung von Stammer.

Vermutlich sehe ich einfach den Fall des toten Mädchens als den eigentlichen Plot und somit als Hauptinhalt der Geschichte. Und dann ist er das nicht nur für mich, sondern sollte es nach meiner Leseerwartung auch für den Protagonisten sein. (Das ist nicht an die Person Rasske gebunden, aber eben an den Fall.)

Wenn ich dich richtig verstehe, ist das Hauptthema für dich Stammers Niedergang, und das tote Mädchen ist - zugespitzt formuliert - nur Deko und "Aufhänger" für die Beschreibung von Stammers Zustand. Nach solch einer Sichtweise wäre es natürlich völlig egal, ob Stammer irgendeinen Abschluss des Falls erlebt.

So lese ich aber die Geschichte nicht. Vielleicht ist das eine Frage der Gewichtung innerhalb des Textes. Rasske, seine Bande und ihre Tat nehmen ja einen großen Raum ein. Und nun erklärst du sie quasi zur Nebensache.

Grüße vom Holg ...

 

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