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Beine
Herr Zett saß in seinem Zimmer und schaute aus dem Fenster.
Im Grunde war es kein Zimmer sondern mehr eine Kammer.
Das Fenster eine verglaste Luke.
Herr Zett sah die Beine der vorrüber gehenden Personen.
Es war ein Montagmorgen im Sommer. Er sah lange Beine, kurze Beine. Dicke Beine, schlanke Beine.
Beine die in Hosen steckten, Beine, die aus hochhackigen Schuhen wuchsen und sich in kurzen Röcken verloren..
Wo wollen diese Beine hin?
Die meisten werden wohl zur Arbeit gehen.
Wollen die Beine das?
Wollen die Beine in die Fabrik, stundenlang am Fließband stehen?
Wollen sich die Beine stundenlang unter einem Schreibtisch verstecken?
Sicherlich nicht.
In den zu den Beinen gehörenden Köpfen wurde jedoch schon vor langer Zeit, als die Beine noch ganz klein waren und man nicht unterscheiden konnte ob es weibliche oder männliche werden würden, ein Gedanke gepflanzt.
Der Gedanke der Pflichterfüllung.
Die Beine wurden größer und in den Köpfen gediehen weitere Gedanken, die sich einzig um Besitztum drehten. Ein Auto, eine Wohnung,ein Haus, eine Familie.
Wenn man auf den eigenen Beinen stehen will, muss man arbeiten. So wurde es ihnen eingebläut.
Herr Zett musste bei diesem Gedanken schmunzeln.
Er wandte sich von dem Guckloch ab und setze sich an seinen „Schreibtisch“, eine Spanplatte, die er mit zwei Winkeln an der Wand befestigt hatte.
Herr Zett nippte an seinem heißen Kaffee. Seine grauen Haare glänzten im Schein der fünfundzwanzig Watt Birne, die über ihm an der Decke baumelte.
Er schaute sich zufrieden um.
In der einen Ecke seine Gitarre neben der Stereoanlage.
Sein bequemer Ohrensessel vor dem Fernseher.
Das gut bestückte Bücherregal.
Davor eine Staffelei und direkt vor ihm seine Schreibmaschine.
Auf seinem Gesicht ein Ausdruck von - alles ist gut - .
Mehr brauchte er nicht zum Glücklichsein.
Herr Zett dachte an die Zeit zurück, in der auch er von Pflichterfüllung und Besitztum beseelt war.
Er hatte zwei Autos, ein Haus ,eine nette, attraktive Frau und zwei süße Töchter.
Der Preis für diesen Luxus war Arbeit.
Zehn Stunden täglich, sechs Tage in der Woche.
Im Alter von fünfzig Jahren brach Herr Zett dann zusammen.
Verschiedene Ärzte attestierten ihm die Arbeitsunfähigkeit.
Die finanziellen Einbußen waren immens. Das erste Auto wurde verkauft,
mit dem zweiten fuhr seine Frau auf und davon, kurz bevor die Versteigerung des Hauses anstand.
Die Kinder nahm sie natürlich mit.
Für ihn brach eine Welt zusammen.
Was war das für eine Welt?
Hr. Zett meinte seiner Familie etwas bieten zu müssen, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen.
Den größten Wunsch las er jedoch nicht.
Sie wollten mehr Zeit mit ihm verbringen.
Es hat einige Zeit gedauert, bis Herr Zett den Gedanken der Pflichterfüllung aus seinem Gehirn löschen konnte.
Es gedauerte lange, bis er erkannte, dass die Anhäufung von Materiellem nicht der Sinn des Lebens ist.
Das ganze ist jetzt zehn Jahre her. Seine Kinder sind erwachsen.
Wenn er sich mit ihnen trifft, was drei bis vier mal im Jahr geschieht, und sie ihm erzählen wie anstrengend doch die Arbeit ist, und wie sie das frühe Aufstehen nervt, setzt er ein ernstes Gesicht auf und lächelt mitleidig.