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Bei Nacht und Nebel
Das Licht der Scheinwerfer strich über das Tor und ihnen sprangen die neongelben Zeichen in die Augen. Jemand hatte sie auf die grünen Flügel ihres Eingangstores gesprayt.
Jörn trat hart auf die Bremse und der Motor soff ab. Nun war es also passiert, ging es Theresa durch den Kopf. Das waren keine Graffiti. Runen waren das, genau wie die auf dem neuen Schild am Dorfeingang. ‚Magyarország a magyaroké’ – Ungarn den Ungarn! Diese Parole der Rechten hallte in Theresas Ohren, während Jörn und sie einen Moment wortlos verharrten.
Theresa gab sich einen Ruck und stieg aus. Je näher sie ihnen kam, umso größer und aggressiver erschienen ihr die grellen, eckigen Zeichen. Sie öffnete das Tor und Jörn fuhr in die Garage. Beim Schließen des rechten Flügels berührte Theresa versehentlich die Schrift. Die Farbe war noch weich und klebte an ihrem Finger. Während sie versuchte, ihn mit einem Taschentuch zu säubern, schaute sie auf den Weg, der von einer Lampe schwach beleuchtet ins Dorf führte. Nichts. Niemand war zu sehen. Auch die Fenster der Nachbarhäuser waren dunkel. Natürlich, dachte sie, es war nach zwei. Alle schliefen.
„Kommst du endlich?“
Jörn hatte die Eingangstür aufgeschlossen und wartete. Das Haus lag im Dunkeln, Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und nur die Laterne am Nebengebäude tauchte den Hof und die alten Walnussbäume in ein diffuses Licht.
Schweigend betraten sie das Haus.
„Wer macht denn nur so was?“, fragte Theresa.
„Jugendliche, verrückte Jugendliche.“ Jörn verfehlte den Haken und der Mantel fiel zu Boden.
Er hob ihn auf. „Mach dir keine Gedanken. Das wird sich aufklären.“ Er drehte sich zu ihr. „Und bitte, fang nicht wieder an, dir irgendwas einzureden. Das sind nur blödsinnige Schmierereien.“ Er hängte den Mantel auf und wandte sich zur Küche. „Ich hol mir noch ein Bier.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss. „Ich brauch noch einen Moment. Geh du ruhig schon schlafen.“
„Ja.“
Erst als Jörn schon in der Küche war, fiel es ihr ein: „Gute Nacht, Schatz. Schlaf gut.“
„Ja, du auch.“
Theresa stand unschlüssig vor dem Spiegel. Sicher hatte Jörn recht und es waren nur ein paar dumme Jugendliche, die sich einen Scherz erlaubt hatten. Sie löste die Spange aus ihrem Haar. Aber warum dann diese Zeichen? Sie hielt in der Bewegung inne.
Ihr Spaziergang am letzten Sonntag fiel ihr ein. Sie ging oft diesen Weg, der vom Parkplatz in den Wald führte. Er stieg nur sanft an und es war angenehm, ihm zu folgen. Meist waren sie hier allein und sie konnte den Hund von der Leine lassen.
An diesem Tag stand ein Pick-up neben dem Forstschild. Zwei Männer in braun-grüner Tarnkleidung waren damit beschäftigt, längliche Gegenstände abzuladen. Forstarbeiter, war Theresas erster Gedanke. Aber am Sonntag? Drei weitere Autos kamen und auch aus ihnen stiegen junge, ähnlich gekleidete Männer. Jetzt erst fielen Theresa die breiten Lederkoppel und Schulterriemen auf. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie. Sie zog die Leine stramm und schneller als gewohnt liefen sie in den Wald.
Als sie nach einer Stunde zurückkamen, hatte Theresa die Männer vergessen und war erstaunt, dass nun mehr als zehn Autos auf dem Parkplatz standen. So viele hatten hier noch nie geparkt. Von den Männern war nichts mehr zu sehen. Sie mussten irgendwo im Wald sein. Alles war ruhig wie immer.
Sie hatte Jörn davon erzählen wollen, dann aber nicht mehr daran gedacht.
Jetzt, vor dem Spiegel, hatte sie die Szene wieder vor Augen. Das war nichts Offizielles. Wo gab es das, dass Soldaten sonntags im Privatauto zu einer Übung kamen?
Es hätte auch keinen Sinn gehabt, Jörn von ihrem Erlebnis zu erzählen. Von ihrem Unbehagen über die neue politische Situation wollte er nichts wissen. Sie solle aufhören, alles immer so zu dramatisieren. Das Land gehöre zur EU. Und solange das so sei, brauche sich niemand irgendwelche Gedanken zu machen.
Die Katze hatte sich in ihrem Korb neben dem Bett eingerollt. Theresa spürte, dass sie nicht so schnell einschlafen würde und stellte den kleinen Fernseher an. Die Diskussion über den neu gewählten amerikanischen Präsidenten lenkte sie einen Moment ab, dann schob sich das grüne Tor mit den grellgelben Zeichen wieder davor. Das waren keine Graffiti. Das waren Zeichen, wie sie jetzt überall zu sehen waren.
Theresa hatte Ildikó, ihre Nachbarin, gefragt:
„Sagt ihr wirklich Runen dazu?“
„Ja, auch.“ Ildikó wollte es damit bewenden lassen, spürte aber wohl, dass das Theresa nicht genug war und fuhr beinahe trotzig fort: „Das versteht ihr nicht. Wir sind stolz darauf. Das war unsere eigene Schrift, bevor wir die lateinischen Buchstaben übernehmen mussten.“
Theresa fühlte sich immer auf dünnem Eis, wenn sie mit Ildikó über Politik sprach. Einerseits fand sie es angenehm, jemanden zu haben, der so gut Deutsch sprach. Andererseits gab es seit dem Referendum gegen die Aufnahme von Flüchtlingen Momente, in denen Theresa spürte, dass sie bei dem, was sie ihrer Nachbarin sagte, wachsam sein sollte.
Im deutschen Fernsehen liefen jetzt Nachrichten. Der scheidende und der neue Präsident hatten sich getroffen und es schien, als würde wohl doch nicht alles so schlimm werden.
Sicher machte sie sich auch mit den Schriftzeichen verrückt.
Die rassistisch motivierten Übergriffe hätten seit der Wahl deutlich zugenommen, sagte der Nachrichtensprecher. Theresa drückte die Fernbedienung.
Im Zimmer war es noch nicht völlig dunkel. Die Wolken hatten sich verzogen und hinter den kahlen Zweigen der Bäume sah Theresa die milchige Scheibe des Mondes.
In den letzten Jahren war alles immer schöner geworden, dachte sie. Auch die Stallgebäude hatten sie erneuern lassen. Das ganze Anwesen hatte jetzt etwas Gediegenes. So hatte Jörn es sich vorgestellt, als er beschloss, den Hof, der kurz vor dem Verfall stand, wieder zu neuem Leben zu erwecken. Er hatte in Szeged ein paar Jahre als Geschäftsführer einer deutschen Firma gearbeitet und kurz, bevor er sich zur Ruhe setzen konnte, dieses halbverfallene Gebäude entdeckt. So hatte sich die Frage, ob sie zurückkehren würden, wie von selbst erledigt. Natürlich spielte auch das bessere Klima eine Rolle.
Theresa hörte Jörn ins Badezimmer gehen und rückte im Bett ein wenig zur Seite. Sie horchte, wartete aber vergebens. Sie schloss die Augen.
Zuerst waren es Schmierereien an Türen, dann klirrende Fensterscheiben, dann brannten Häuser. Wie oft hatte sie früher ihren Schülern erzählt, dass das erst der Anfang gewesen war.
Theresa wälzte sich auf die andere Seite. Sie musste damit aufhören. Jörn hatte recht, sie steigerte sich gerne in etwas hinein. Vielleicht sollte sie ein Glas Wein trinken? Das half meistens, wenn sie nicht gleich einschlafen konnte. Sie stand auf, zog den Bademantel über und ging ins Wohnzimmer.
Jörn hatte sich noch ein weiteres Bier geholt. Er saß im Sessel und hatte die Füße hochgelegt. Der Fernseher war dunkel.
„Kannst du nicht schlafen?“
„Nein.“ Theresa goss sich ein Glas Wein ein, setzte sich ihm gegenüber und legte die Hände auf seine Füße.
„Was machen wir, wenn die uns hier nicht mehr wollen?“
Jörn sah auf das Bier in seiner Hand. „So weit sind wir noch lange nicht.“
„Ich möchte dann lieber nach Hause. Das halte ich nicht aus.“
Jörn schaute auf das Fenster zum Hof. „Keine Ahnung, was das soll. Wahrscheinlich wird es das Beste sein, wenn wir das Tor einfach überstreichen lassen.“
Klar, dachte Theresa, einfach alles übertünchen.
„Damit ist nichts gewonnen", sagte sie.
Sie unterdrückte ihre aufkommende Gereiztheit und fuhr leise fort: „Wenn die das ernst meinen, dann wiederholen die das. Glaubst du nicht auch?“
Jörn sah sie an. „Ja … Kann schon sein … Keine Ahnung.“ Er schaute zum Telefon. „Ich könnte versuchen, Ferry zu erreichen. Vielleicht hat er Nachtschicht und ist im Einsatz?“
„Und, was soll das bringen?“
„Immerhin ist das fremdes Eigentum, was die beschädigt haben. Das ist auch hier strafbar.“
Jörn nahm einen Schluck, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Theresa betrachtete ihn. Er wirkte jünger, als er war. Der Job hatte ihn nicht verschlissen. Es war gut, dass er hier noch eine neue Aufgabe gefunden hatte und sogar seinen Lebenstraum verwirklichen konnte. Schon immer war es sein Wunsch gewesen, aus einer heruntergekommenen Ruine wieder etwas richtig Tolles zu machen. Und so präsentierte es sich jetzt auch. Das alte Gutshaus mit dem großen Innenhof und der schönen Gartenanlage dahinter wirkten, als warteten sie auf den Fotografen eines Immobilienmagazins.
Wenn Jörn gefragt wurde, ob er sich vorstellen könne, zurück nach Deutschland zu gehen, war seine Antwort stets, dass das hier sein Alterssitz sei und er hier sterben wolle. Theresa hielt sich in letzter Zeit bei diesem Thema zurück. Sie war froh, wenn sie niemand nach ihrer Meinung fragte.
Ihre Nachbarn waren nette Leute. Tiefe Freundschaften waren in den Jahren nicht entstanden, aber man ging aufmerksam miteinander um. Irgendwann hatte Theresa von Ildikó auf Facebook eine Freundschaftsanfrage erhalten und dann festgestellt, dass ihre Nachbarin ziemlich aktiv war: Kaum eine Woche verging, in der sie nicht ein neues Kochrezept einstellte. Daneben verlinkte sie in letzter Zeit aktuelle Zeitungsmeldungen. Am Anfang war Theresa neugierig auf Ildikós politische Meinung gewesen, aber dann hatte sie sich entschieden, auf ‚nicht mehr abonnieren’ umzustellen. Diesen populistischen Scheißdreck, wie sie es in Gedanken nannte, brauchte sie nicht.
Jörn stand auf.
„Ich geh dann mal. Du solltest dich auch hinlegen. Das ganze Grübeln hat keinen Sinn."
Die Wirkung des Weins ließ auf sich warten. Theresas Blick fiel auf den Drogerieschrank mit den vielen weißen Emaille-Schildchen, auf denen die lateinischen Namen der Kräuter, Blüten und Samen standen. Er war aus massiver Eiche und es hatte drei Männer gebraucht, ihn vom Umzugswagen ins Haus zu wuchten. Vielleicht konnte man ihn stehen lassen? Die Leute hier liebten solche Antiquitäten.
Im Moment wirkte er recht kahl. Nur der silberne Leuchter, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, stand noch darauf. Theresa hatte das verblühte Herbstgesteck runtergenommen. In der nächsten Woche würde sie mit der Weihnachtsdekoration beginnen. Aber machte das überhaupt noch Sinn?
Sie saß noch eine Weile, ging dann rüber, legte sich neben ihren schlafenden Mann und schaute zum Hoffenster. Der Mond war nicht mehr zu sehen, aber es war immer noch hell und die Bäume vor dem Fenster hatten etwas Schattenrissartiges – wie eine Theaterkulisse.
Irgendwas war los im Hof. Theresa öffnete die Haustür. Ferry war gekommen. Auch er trug jetzt Braun-grün. Sie lief auf ihn zu, griff nach seinem Arm. Mit einer brüsken Bewegung schüttelte er ihre Hand ab und drehte sich weg.
Sie schaute sich verzweifelt um, wusste nicht, an wen sie sich wenden sollte. Am Fenster stand Ildikó und lächelte ihr zu. Doch als Theresa auf sie zulief, verwandelte sich ihr Lächeln in ein kaltes Grinsen. Triumphierend hob sie den silbernen Leuchter in die Höhe und schwenkte ihn hin und her.
Stimmen erklangen hinter Theresa. Sie drehte sich um und sah Nachbarn am geöffneten Tor stehen. Rhythmisch johlten und klatschten sie in die Hände. So sehr sie sich bemühte, Theresa verstand nicht, was sie grölten.
Mit quietschenden Bremsen stoppte der Pick-up vor dem Tor. Die Männer aus dem Wald sprangen raus, knallten die Türen und lösten die hintere Klappe.
Jörn kam aus dem Haus; gebeugt wie ein alter Mann ging er an ihr vorbei. Er trug immer noch seinen Schlafanzug. Als er das Tor erreichte, richtete ein Junge die Spraydose auf ihn. Grellgelbe Farbe rann dickflüssig über die Streifen des Pyjamas.
Theresa stand wie gelähmt. Um sie herum war plötzlich Stille. Von irgendwoher löste sich eine Melodie, die wogend lauter und lauter wurde.
Theresa erwachte. Ihr Kopf tat ihr nur widerstrebend den Gefallen, Traum und Wirklichkeit voneinander zu trennen. Zurück blieb dumpfe Angst, zu der das Hellblau und Rosa des Novemberhimmels einen fast tragischen Kontrast bildeten.
Jörn war schon aufgestanden. Der auf- und abschwellende Anfang von Griegs ‚Morgenstimmung’ wurde quälender und Theresa griff nach ihrem Handy. Es war Ildikó.
„Hallo Ildikó.“ Theresa schob sich umständlich ans Kopfende, um aufrecht sitzen zu können.
„Morgen Theresa. Habt ihr es schon gesehen?“
„Ja. Als wir zurückgekommen sind.“
„Sieht schlimm aus.“
„Kann man so sagen.“
„Es ist Lack, Autolack.“
„Ist das nicht ganz egal, was das ist?“
Theresa bereute ihre Schroffheit. Gefasster fuhr sie fort:
„Ildiko, kannst du mir sagen, warum jemand so etwas tut?“
„Palinka. Schnaps. Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, warum die beiden das gemacht haben.“
Theresas Kopf dröhnte. „Welche beiden?“
„Na, die Kovacs-Brüder.“
„László und Sàndor?“ Theresa kannte die Zwillinge. Ihr Vater betrieb im Ort eine kleine Autowerkstatt „Was haben die gegen uns?“
Ildikó schien ihre Frage nicht gehört zu haben. „Die sind in irgend so einem Verein. Wahrscheinlich kommt alles daher?“
„Was?“
„Das mit den Zeichen.“
Theresas nächtliche Gedanken kehrten zurück und drängten aus ihr heraus.
„Ildikó, kannst du mir sagen, was das alles mit uns zu tun hat? Warum gerade wir? Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir euch getan? Warum will man uns hier weg …?“ Ihre Stimme überschlug sich und wurde von einem Schluchzen erstickt.
Es dauerte einen Moment, bis Ildikó wieder etwas sagte.
„Theresa, beruhige dich … Das hat doch mit euch nichts zu tun. Wie kommst du denn nur auf so was?“
„Wie ich darauf komme? Das fragst du noch?“
Sekunden vergingen.
Durch den Tränenschleier sah Theresa ein Eichhörnchen, das auf einen weit ausladenden Ast geklettert war. Es verharrte einen Moment und drehte den Kopf, als überlege es, wohin es nun solle. Mit einem gewagten Sprung erreichte es das Dach der Scheune.
Ildikó sprach jetzt lauter, eindringlicher: „Also, Theresa! Was hast du dir da nur eingeredet? Wir sind doch Nachbarn. Gute Nachbarn. All die Jahre. Wie kommst du darauf, dass irgendjemand euch hier nicht will? … Ihr seid doch keine Flüchtlinge. Das alles hat doch mit euch nichts zu tun. Kein Mensch will, dass ihr weggeht.“
„Ja, aber warum dann gerade unser Tor?“
Auf der anderen Seite blieb es einen Moment still.
„Hör mir zu Theresa: So ist das doch gar nicht… Jedes Tor hier in unserer Straße …“ Sie machte eine Pause und begann noch einmal: „Hör mir zu: Alle Tore haben sie beschmiert. Alle! … Die Jungs haben einfach viel zu viel getrunken. Und dann hatte wohl jemand die Idee mit der Mutprobe … Frag mich nicht, warum sie gerade Runen genommen haben. Wahrscheinlich wissen sie das selber nicht. Dumme Jungen eben.“
Wieder schien sie darauf zu warten, dass Theresa sich äußerte.
„Wie kommst du nur darauf, dass wir etwas gegen euch haben? Ihr seid doch Deutsche. Kein Mensch will euch was. Euch doch nicht!“
Theresa legte das Handy neben sich. Ihre Glieder schmerzten und in ihren Ohren hämmerte Ildikós: ‚Euch doch nicht’. Sie rieb mit dem Handrücken über die Augen und atmete tief durch. Der Knoten begann sich zu lösen. Es war ja alles gar nicht so schlimm. Ein dummer Jungenstreich – nichts weiter.
In der Küche klirrte es. Theresa hörte einen Fluch. Jörn musste etwas aus der Hand gefallen sein. Etwas war kaputtgegangen.