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Bei Elena ist Tom geblieben
Gleich wird mir jemand die Tür öffnen. Ich werde meine Schuhe ausziehen, ein paar Leuten „Hallo“ sagen und irgendwo in dieser Wohnung auf Tom treffen. Meinen Tom, von damals. Weiß er, dass ich Friedje neulich zufällig traf und er mich zu seiner Party eingeladen hat?
„Tom wird übrigens auch da sein. Und Elena natürlich“, sagte Friedje.
„Elena habe ich nie kennengelernt. Nur von ihr gehört.“
„Ach? Ich dachte, … Na, egal, würde mich jedenfalls echt freuen, wenn du kommst.“
Als ich Datum und Adresse im Kalender notiere, stelle ich fest, dass ich für diesen Abend bereits eine Kinoverabredung habe. Ich streiche Kino durch, und ersetze es durch "TOM". Bei Elena ist er also tatsächlich geblieben, fast fünfzehn Jahre nun schon. Ich wäre schon längst an ihm zerbrochen oder hätte ihm etwas angetan. Einer von uns beiden wäre auf jeden Fall draufgegangen. Wir waren ziemlich gut im Rosenkrieg spielen.
Jemand, den ich nicht kenne, öffnet mir die Tür.
“Schuhe kannste anlassen. Jacke wirf irgendwohin.“
„Hierhin schätze ich“, und deute auf den Haufen aus Jacken, Rucksäcken und Taschen.
„Wie du willst.“
„Anna! Cool!“ Friedje kommt auf mich zu, hebt mich hoch, dreht sich mit mir im Kreis.
Ich schenke ihm einen Kuss auf die Wange und eine Flasche scheißteuren Gin. „Alles Gute zum Geburtstag.“
Nach Tom muss ich in der kleinen Wohnung nicht lange suchen. Er raucht mit drei Frauen auf dem Balkon, hat sich kaum verändert. Die Haare noch immer schulterlang, die Klamotten abgetragen, den Kopf neigt er leicht, wenn er sein Gegenüber taxiert. Ist eine von den Dreien Elena? Keine zuppelt an seinen Haaren oder seinem Shirt, keine steht zu nah bei ihm. Noch hat Tom mich nicht gesehen. Ich geh in die Küche, bekomme gesagt, Bier fände ich auf dem Balkon.
„Hey“, sage ich.
Für einen Minimoment erstarrt Toms Gesicht, dann grinst er breit. „Du? Hier?“
„Hab gehört, hier gibt es Bier.“
Tom greift in den Kasten hinter sich, reicht mir eine Flasche. Der Öffner baumelt an einer Strippe vom Geländer. Tom schiebt demonstrativ seinen Körper davor. Jetzt muss auch ich grinsen. So ähnlich hat es damals mit uns angefangen. Ich nehme ihm das Bier ab und suche nach meinem Feuerzeug.
„Ich bin Anna“, sage ich zu den drei Mädels.
„Marie.“
„Julia.“
„Elena.“ Aha. Das ist sie also. Ungeschminkt, Jeans, Turnschuhe, nicht dick, nicht dünn, nicht groß, nicht klein, nicht hübsch, nicht hässlich.
„Wollt mir nur eben ein Bier holen“, sage ich und schenke Tom meinen Kronkorken, indem ich ihn auf seine Flasche drücke. „Man sieht sich.“
„Schätze, das wird sich nicht umgehen lassen“, sagt er.
Im Weggehen höre ich: „Das war jetzt aber nicht die Anna, oder?“
„Doch“, sagt Tom. „Genau die.“
Gehe ich rauchen, verlässt Tom den Balkon. Kommt er ins Wohnzimmer, gehe ich in die Küche. Wir tauschen Blicke, nur kurz, aber tief genug; am liebsten würde ich ihn dann jedes Mal aus dieser Wohnung zerren, weg von der Party, mit Bier und Kippen ins Treppenhaus flüchten, bis nach ganz oben, auf die letzten Treppenstufen, um mich dort mit ihm ungestört zu unterhalten. Elena ist so ein verdammter Wachhund. Dabei will ich nur wissen: Wie es ihm geht? Was ihn umtreibt? Vielleicht ein bisschen in Erinnerungen kramen, in den guten und den miesen, und ihm sagen, wie sehr mich sein „Niemals“ damals in Prag verletzte. Es tat mehr weh, als die Frauen, mit denen er schlief. Manchmal schlief ich mit anderen Männern, nur um ihm zu zeigen, guck, kann ich auch. Ich schlief mit den Männern, weil ich Tom liebte.
Mit Friedjes aktuellem Traummann klöne ich auf dem Sofa, als Elena sich neben mich setzt. Allein. In ihrem Drink schwimmen zwei Gurkenscheiben, ich rieche den Gin.
„Ich hasse dich“, sagt sie.
Ich sage: „Okay.“
„Nee, echt jetzt. Ich hasse dich.“
Friedjes Traummann steht auf: „Nicht meine Baustelle hier“, und lässt uns allein.
Ich sage noch mal: „Okay.“
Dann schweigen wir. Elena fingert eine Gurkenscheibe aus ihrem Glas und knabbert daran herum. Ich warte, ob sie mir noch mehr zu sagen hat. Hat sie.
„Eine Scheißangst hatte ich vor dem Tag, an dem ihr euch wiedertrefft.“
„Warum?“
„Weil Tom immer ganz komisch wird, wenn jemand deinen Namen erwähnt.“
Jetzt mag ich Elena. „Er hat sich damals von mir getrennt. Nicht ich mich von ihm“, sage ich.
„Ich weiß. Wegen Linda. Aber Linda ist mir egal. Schon immer gewesen. Die hat er meinetwegen verlassen. Mit der war anders als mit euch. Mit allen war anders.“
Linda, denke ich. Ich lernte sie bei Toms Bruder kennen. Tom flirtete mit ihr, wohl nicht zum ersten Mal, wie ich schnell mitbekam, die beiden hatten sich hier nicht zum ersten Mal getroffen. Aus Rache knutschte ich seinen Bruder, ließ seine Hände unter mein Shirt, so, dass Tom es sah. Er ging und nahm Linda mit, kam auch nicht wieder, wie sonst. Ich hasste Linda.
„Ist verdammt lange her. Er redet ja nicht einmal mit mir“, sage ich.
„Macht er wegen mir. Aber ich merk doch, wie er dir hinterherguckt. Wie es ihn zerreißt. Mann, würde man euch allein im Zimmer lassen, ihr würdet euch doch sofort die Klamotten vom Leib zerren. Ich bin doch nicht blöd.“
„Nein. Würden wir nicht."
Elena schaut mich an. Rollt mit den Augen. „Glaubste selbst nicht, oder?“
Tom kommt, sieht uns beide auf dem Sofa hocken, dreht sich abrupt um, geht, und Elena steht auf, um ihm nachzulaufen.
„Wuff“, flüstere ich ihnen nach.
Es war meine letzte mündliche Prüfung im Abi. Ich verließ das Schulgebäude, Tom saß bei den Fahrradständern in der Sonne und schwenkte eine Flasche Sekt durch die Luft. Wir hatten uns drei Wochen zuvor gestritten, uns seitdem nicht gesehen, nichts voneinander gehört. Weiß der Nikolaus, wo er war oder bei wem.
„Zigarette?“, fragte er, als ich bei ihm war, und hielt mir die Schachtel hin.
„Unbedingt.“ Ich nahm eine, er gab mir Feuer, ich setzte mich zu ihm.
„Alles gut gelaufen?“
„Ja. Alles gut.“
Tom öffnete den Sekt und goss mir einen Teil der Flasche über den Kopf. „Glückwunsch.“ Dann gab er mir die Flasche für den ersten Schluck. Ich konnte nicht weiter wütend auf ihn sein, zerknüllte meine Liste mit den guten Vorsätzen und verzieh ihm. Wieder einmal.
„Lass uns nach Prag fahren“, sagte er.
„Wann?“
„Jetzt.“
„Heute?“
„Warum nicht?“
Wir tranken die Flasche aus, gingen jeder zu sich nach Hause, packten unsere Taschen und trafen uns eine Stunde später mit Zelt und Schlafsack am S-Bahnhof. Kohle hatten wir kaum. Wir trampten, verbrachten zwei Nächte in Klubs, verschliefen die Tage, in der dritten Nacht saßen noch ein paar Schweizer um ein Lagerfeuer, als wir aus der Stadt zurückkamen. Wir setzten uns mit einem Sixpack dazu. Tom fing an, mit einem der Mädels zu flirten. Ich holte meine Vorsatzliste wieder raus, torkelte zum Zelt, zerdepperte die Bierflasche, schnitt mir in die Hand, bei dem Versuch die Scherben einzusammeln, torkelte wieder zum Feuer und hielt Tom meine blutende Wunde unter die Nase. Er saß jetzt direkt neben der Schweizerin. Jemand holte einen Erste-Hilfe-Kasten, Tom verband mir die Hand, kam mit ins Zelt und sammelte den Rest der Scherben ein. Er ging nicht mehr zum Feuer zurück, wir schliefen miteinander, aber es fühlte sich nicht richtig an. Ich spürte die Frau zwischen uns. Ich hatte sie mitgenommen. Am nächsten Tag fuhren wir nach Hause. Ein halbes Jahr später verließ mich Tom für Linda.
Gegen zwei Uhr morgens sitzen wir nur noch zu fünft im Wohnzimmer. Friedje und sein Traummann, Tom, Elena und ich. Der Traummann klimpert auf dem Klavier, wir reden über dies und das, manchmal guck ich zu Tom rüber und manchmal spüre ich seinen Blick. Elena schnippelt keine Gurkenscheiben mehr in ihren Drink. Vielleicht ist die Gurke alle.
Ich bin müde und sollte nach Hause gehen, aber ich bleibe sitzen und trinke Leitungswasser, weil mir vom vielen Bier übel ist.
„Er hat in all den Jahren noch nie: Ich liebe Dich, zu mir gesagt.“ Elena guckt mich an, als wäre es meine Schuld. Tom guckt Elena an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Ich guck in mein Wasserglas. Tom sagt so was nicht, denke ich. Er redet nicht über Gefühle. Hat er zumindest damals nicht. Nie. Nur in dieser verkackten Nacht in Prag, da hat er seine Nur-nicht-über-Gefühle-reden-Regel gebrochen.
„Ich liebe dich.“
„Sag das noch mal!“
„Niemals.“
Ich schau ihn an. Er mich. Sein „Niemals“ war keine Rücknahme, war nicht: Sorry, habe ich nicht so gemeint. Kommt nicht wieder vor. Es war ein verdammtes Versprechen.
Ich flüstere: „Prag?“, und er zuckt mit den Schultern. Wir gucken uns an, halten den Blick, ich fühle mich, als würde ich gleich explodieren. Tom, denke ich und schau auf seinen Mund, wie gern ich ihn geküsst hab, wie gern ich ihn jetzt küssen möchte. Ich sollte gehen. Jetzt gleich.
Zum Abschied lege ich meine Hand auf Elenas Schulter, sage ihr: „Das hat er zu mir auch nie gesagt.“ Ich umarme Friedje und Traummann, dann stehe ich vor Tom, umarme auch ihn, rieche seinen mir so vertrauten Duft. Als ich mich lösen will, verstärkt er den Druck, zieht mich fester an sich ran. Mir gehen tausend Sachen durch den Kopf, die ich ihm sagen will, doch ich schweige. Tom auch. Wie früher.