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Bei den Landungsbrücken

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02.11.2001
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Bei den Landungsbrücken

Er steht bei den Landungsbrücken.
Eine dunkle Regenjacke trägt er, hat darin seine Hände vergraben.

Es ist kälter geworden.

Der Flügelschlag einer einzelnen Möwe über ihm. Er versucht mit den Augen ihrem schnellen Sturzflug zu folgen. Das Tier wirft sich auf das Netzwerk eines vorbeifahrenden Fischkutters, steigt mit dem Fisch im Schnabel wieder auf, verliert sich als Punkt im Himmel.

Der Wind kommt aus Nordost.

Die Elbe trägt Containerschiffe tief in das Innere der großen Stadt.
Zu den Ladekränen.
Zu den Männern, die dort hantieren in ölverschmierten Overalls.
Das Wasser riecht nach Fisch, nach dem Rost der Schiffsrümpfe.
Er steht da und hat eine Frage, die ihn beschäftigt.
Und keine Antwort darauf.

Eine Frau geht in seine Richtung.
Jetzt ist sie auf gleicher Höhe.
Er will die Frage stellen, beginnt schon zu sprechen

"Entschuldigen sie, ich w..."

Sie hebt den Kopf.
Verzögert ihren Schritt, bleibt stehen.
Er sieht in das Grün ihrer Augen, sieht die Länge ihrer Wimpern, spürt die Kraft, die von diesem Blick ausgeht. Ihr Haar ist nicht lang, rotbraun, mit Kämmen zurechtgehalten. Sie trägt eine zierliche Brille.
Der Rahmen ist sechseckig.
Mehrfarbig.

Sie steht vor ihm.
Er spricht nicht weiter.
Der Wind.
Sprühregen.
Lautsprecher brüllen die Abfahrtszeit der Fähre.
Der Verkehr auf der dreispurigen Uferstrasse stockt.
Ihre Lippen sieht er und wie sie den hochgestellten Mantelkragen mit der linken Hand unterhalb des Kinns zusammenhält.
Der Sprühregen auf dem Glas ihrer Brille, auf ihren Wangen.
Sie sagt kein Wort.
Sie liest alles in seinen Augen.
Er ist ihr gesuchtes Buch.

Möwenschwärme über den Landungsbrücken.

Er berührt ihre Schulter.
Vorsichtig. Mit seinen Augen tief im Grün der ihren.
Er streift mit den Fingerkuppen über ihr Ohr, fährt den Hals hinab, stößt an den Rand des Mantelkragens.

Sie hält still, erfährt die Unendlichkeit des Augenblicks, lässt die Liebe fliegen.

"Ich w...." setzt er wieder an.

Sie legt ihre Hände an seine Wangen.
Über die Bartstoppeln fährt sie damit, zeichnet seine Lippen nach.
Ein Skateboardfahrer kurvt donnernd vorbei.
Der Sprühregen.
Wind.
Die Elbe.
Containerschiffe darauf.
Der Fischkutter ist schon weit weg.

"Ich habe dich gefunden" sagt sie.

Er hat die Frage vergessen.

[ 07.08.2002, 16:07: Beitrag editiert von: Aqualung ]

 

Hey Aqualung!
Ich will mich meinen Vorgaengern anschliessen,
also: LOB. Dazu sagen muss ich noch, dass mich
die Geschichte in einer Weise besonders beruehrt.
Der Grund ist, dass ich in Hamburg aufgewachsen
bin und die Stadt liebe. Das wird mir momentan
besonders bewusst, da ich fuer ein Jahr in Kanada
bin und das Heimweh natuerlich da ist...:( Vielen
Dank fuer die Heimatgefuehle...:heul: Janina

 

Danke, Janina, für diese Antwort auf meine Geschichte.
Ja, Hamburg hat schon etwas Besonderes.

Liebe Grüße nach Kanada - Aqua

 

Hi Aqua,

über die Kritiken zu Archetyps Geschichte "Der Mann, der sehen kann" bin ich auf diese Geschichte hier aufmerksam gemacht worden. Was bin ich froh, daß ich sie gelesen habe! Du beschreibst so schön die Stimmung an der Elbe in meiner Heimatstadt. Ich rieche die Elbe förmlich, diesen ganz speziellen Elbwassergeruch. Kein Fluß sonst auf der Welt kann so riechen!

Und wie Du in dieser mit kargen Worten beschriebenen Begegnung des Mannes mit der Frau so viel Liebe zum Leuchten bringen kannst! Eine wirklich gelungene, kleine Erzählung!!!!

Liebe Grüße
Barbara

 

Danke, Barbara, danke.

Schön langsam komme ich drauf, wieviele HamburgerInnen hier in kg posten. Ich wünsch dir noch schöne Tage und einen guten Rutsch ins Neue Jahr.
Ich rutsche auf der Elbe auf einem Schiff....

Liebe Grüße - Aqua

 

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