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- Anmerkungen zum Text
"Schnee ist das Blut der Geister" ist ein Graffito an einer Mauerecke in Klagenfurt und der Ausgangspunkt für diese Geschichte.
Und nein, es gibt keine Verbindung zu einem Bachmannshit.
Begleittiere
Auf den Brücken hocken die Grauen, stecken ihre Beine durch Geländerstäbe und schaukeln mit den Füßen in der Luft. Seit wenigen Tagen kann ich sie sehen, die Stadt ist gestopft mit ihnen. Dort, wo Leben ist, bilden sie Rudel, um es anzuzapfen und sich einzuverleiben. Fahle Gestalten, die den Lebenden zuschauen bei dem, was sie selbst nicht mehr zu tun vermögen. Sie trotten neben ihnen her, zerren Gedanken und Träume aus Köpfen und tauschen sie gegen Stumpfsinn und Müdigkeit.
Einige von ihnen werden durchsichtig. Früher oder später alle. Es geschieht, wenn sie beginnen, die Lebenden in Ruhe zu lassen.
Die Frau flaniert durch die Stadtallee und hinein in die eine Gasse. Die Leine zu ihrem weiß befellten Begleittier hängt durch, ein genügsames Tier, das nur selten an ihr zerrt. Ich weiß, wohin sie mich führt, sie geht diesen Weg jeden Sommertag um diese Zeit und jedes Mal geht sie achtlos an der Mauerecke vorbei. Ein Graffito steht darauf, rot auf einer weißen Wand. Oft schon wurde es übermalt, es kehrt zurück – niemand hat je gesehen, wie. Als würde die Wand selbst die Schrift ausbluten, ein Wundmal dieser Stadt.
Schnee ist das Blut der Geister, steht dort. Das Rot sticht in den Augen. Ich kann ihn sehen, den grauen Alten: er hockt auf dem Mauervorsprung und wartet. Vom Pinsel in der Rechten tropft rote Farbe auf das Pflaster. Ich nicke ihm zu, er bewegt ein Auge. Auch durch meine Adern fließt Schnee. Nasser Schnee.
Sie nutzt die Schattenkühle, um einen Zigarillo anzuzünden. Ihr Blick schweift durch die Häuserschlucht zum Platz dahinter, an dem der Tanzsaal liegt. Sehen kann sie ihn nicht, weil der Brunnen auf der Platzmitte den Blick versperrt. Ich schwebe leicht über ihr, sauge blaue Rauchkringel ein, die nach gemeinsamen Erinnerungen schmecken und ein wenig nach verrauchtem Tanz.
Ihr Begleittier nutzt den entstandenen Freiraum dazu, die uringetränkte Wand hinter dem Anstrich zu erschnuppern. Es wedelt mit dem Schwanz und kümmert sich mit seinem undichten Hinterteil um das strahlende Weiß, dem er rapsgelbe Strichpunkte hinzufügt.
Der Alte schüttelt erst den Kopf, dann den Pinsel mit dem stechenden Rot. Das Begleittier erschrickt so mit einem geheulten Satz zur Seite, dass es der Frau den Zigarillo aus der Hand fegt. Auf seinem weißen Rückenfell leuchten rote Punkte wie Blutspuren im Schnee. Nach einem Moment der Verwunderung tippt sie mit dem Finger und einem leisen Merde! ins Rot. Schon während sie den Mund verzieht, löst sich die Farbe mitsamt dem Gedanken daran auf.
Und auch der Kläffer hat es morgen vergessen und wird an dieselbe Ecke pinkeln, um sich aufs Neue zu erschrecken. Seine Barthaare streckt er in die Luft und lässt viel von dem Weiß seiner Augen sehen, als er in alle Richtungen knurrt. Er weiß um das, was er wittert, zieht den Schwanz ein und die Leine straff. Ich bleibe stehen und lasse sie ziehen.
Bevor ich zurückgehe, nehme ich dem Alten den Pinsel aus der Hand und übermale den unteren Bogen vom G, das etwas von dem Gelb abbekommen hat.
Vor einigen Tagen haben sie nachts einen Obdachlosen in seinem Schlafsack übergossen und angezündet. Unten am Entenkanal in der Unterführung. Jugendliche, nicht offensichtlich Rechte, nur ohne Skrupel. Vorher traten sie auf ihn ein, es war erstaunlich schnell vorbei. Bevor jemand den Löschtrupp rief, war er verkohlt und das Video dazu viral, wie sie sich begeistert zuriefen.
Das Absperrband spannt im Luftzug einen Bogen. Davor stehen verhärmte Gestalten mit beladenen Einkaufswagen oder einfach so. In ihren Gesichtern sehe ich keine Wut, nur Leere und die übliche Sorge um die nächste Nacht. In zweiter Reihe stehen fahle Gestalten, die Münder geöffnet, aus denen leises Summen dringt. Graues Hintergrundraunen, das mir den Weg bereiten möchte zurück zum geschundenen Körper, der hier gebrannt hat. In den ersten Tagen könne das helfen, meinen jene, die länger dabei sind.
Das Geräusch breitet sich aus als dumpfer Klangteppich, in den Möwen Fäden aus unnötiger Aufregung hineinweben. Vom Ufer schallt spitzes Kinderschreien hoch, keiner der Anwesenden hört hin, deshalb fällt es nach wenigen Metern zu Boden.
Irgendwer legt immer Blumen ab und stellt Kerzen auf. Und ein anderer Irgendwer sagt immer, das darf sich nie wiederholen, und jeder weiß, morgen schon ist das abgestandene Luft von gestern.
Wenn die Offiziellen ihrer Pflicht nachgekommen sind und sich in ihre Welt zurück chauffieren lassen, kommt die Traurigkeit. Sie steigt als dunkle Wolke aus dem Wasser, wabert unter dem Flatterband durch und umkreist den schwarzen Fleck, wo der Mensch gebrannt hat. Für eine Weile lässt sie sich dort nieder, nährt sich an dem, was geschehen ist, bevor der blaue Sommerwind sie vertreibt. Er bringt einen Duft Sonnenmilch mit, Kokosflocken, Kakadus und pludrig weiße Sommerkleider.
Ich finde ihn angenehm, rieche den warmen Süden gerne – im Gegensatz zu den vollends Ergrauten, die ihre Nasen rümpfen.
Unterhalb des Wehrs, das den Nebenfluss regelt, wird das Wasser seicht. Von dort, wo sie halbentblößt auf den Kiesinseln im Flussbett liegen, weht der milchigweiße Hauch herüber; angefeuert vom Bellen der Begleittiere, die durchs Wasser spritzen. Das weiß befellte erkenne ich, weiß um den Menschen, den es begleitet. Die Eine, die mit dem Flanieren aufgehört hat und stattdessen ausgebreitet auf einem blauen Strandlaken über glitzernde Sonnenstunden voller Wasser und Flusskiesel treibt. Und nebenbei Teile ihrer Haut bräunt. Sommerhaut, von der ich einmal wusste, wie sie riecht.
Manche, die frisch dabei sind, tragen ihre Strebemale offen, je nach Todesart ist das grausig anzuschauen. Das Saugen an den Lebenden hilft, die Wunden zu schließen. Gebeugte richten sich auf, Falten werden weich, offene Brüche überwachsen mit wächserner grauer Haut – wie auch verkohlte Glieder.
Flussabwärts knacken Deep-House-Beats vom Club am Brückenpfeiler übers Wasser. Bunte Stagelights stechen in den Himmel, flackern wild im Takt und täuschen eine Lebhaftigkeit vor, die um diese Uhrzeit niemand Lebendes aufbringt. Dementsprechend mager ist die Dichte an Grauen auf dieser zu lauten Insel im trägen Sommerbrei. Einige Junge, die noch nicht so lange dabei sind, hüpfen durch den aufgeschütteten Sand und verrenken ihre graufleckigen Glieder. Bei manchen sehe ich den Schnee rauschen, rhythmisches Zucken unter löcheriger Hülle. Ich spüre, wie sie sich ans alte Leben klammern, als würde es ihnen so nicht durch die Zehen rieseln, wie der Sand, auf dem sie tanzen.
Die ahnungslosen Gäste können sie nicht sehen. Sie liegen vor großen Boxen in Deckchairs aus vergrautem Holz und haben die ausgezogenen Füße von sich gestreckt. Dort unter Sonnenschirmen schwatzen und bellen sie ihr sorgloses Lachen über das Wasser und falten den Nachmittag zusammen, bis er in die Gesäßtasche ihrer Jeans passt. Kultursommer nennt die Stadt das. Dort, wo ich stehe, ist es Lärm. Ein Lärm, der nicht zu Boden fällt, bevor er meine Ohren erreicht.
Freitags tanzten wir Tango zu Astor Piazzolla. Die Flanierfrau und ich. Wir waren gut darin, uns zu umschlingen, als wollten wir uns erwürgen. Sagte Ricardo vom Salón del Viernes. Zwei schwarz livrierte Rabenvögel, die Freude daran verspürten, sich nur beinahe unabsichtlich auf die Füße zu treten und die Augen auszuhacken. Freitags, als Kräftemessen noch ein Spiel war und das Versprechen, sich zu verschonen, noch nicht gebrochen.
Die Brust schmerzt nicht, sie war schon vorher lädiert, ebenso wenig die verbrannte Haut, der nasse Schnee hält mich kühl. Meine tägliche Begleitung von Frau und Hund macht sich bezahlt, die Vergrauung hat die äußerlichen Wunden bereits geheilt. Der Rest bedarf einer anderen Behandlung.
Aus Gewohnheit wandert meine Hand zur Gesäßtasche, es ist kein Nachmittag darin, nur ihr zerfledderter Brief und ein flacher Rest Lebensgeist, gefangen in einer Flasche, die ich an die Lippen führe.
Es brennt und es ist gut, dass es brennt, genau das soll es. Der Stoff, der meine Kehle hinabrinnt, schneidet sich durch die Eingeweide. Er dringt bis in meinen innersten Kern und brennt dort aus, was ich in mich hineingefressen habe. Der Schnee fängt an zu tropfen. In der Asche, die von mir herabrieselt, hinterlassen die Einschläge kleine Krater. Noch ein letzter Schluck. Ich heiße es willkommen zurück, das kleine bisschen Blöd. Alles soll es mir rausätzen, vergangenen Streit und Zweifel, das widerlich Devote der Zeit nach der Zeit und vor allem den unerträglich betörenden Duft ihrer Rabenhaut.
Ich schließe die Augen und fange an zu fliegen. Es ist einer dieser Momente, in denen ich früher geglaubt habe, ich bin jemand Besonderes mit einzigartigen Talenten. Und dass mein Leben noch vor mir liegt und da draußen etwas auf mich wartet. Und dass wir es schaffen, zueinanderzufinden. Irgendwie. Wieder und wieder.
Wenn es nicht zu spät wäre, würde ich anfangen, es glauben zu wollen. Das Wollen ist immer ein guter Anfang gewesen.
Du, ich brauch mal 'ne Pause, sagte sie. Harmlos dahingesprochenes Gift mit Langzeitwirkung. Heute weiß ich, Trennung auf Zeit ist ein Konzept, das selten aufgeht und ein Morsecode für Scheitern, den absichtlich niemand entschlüsseln soll, damit es nicht so weh tut.
Nachdem die Zeit vorbei war, hat sie mich ersetzt durch ein neues Begleittier, eines das nicht beißt, sondern bellt und nur selten zerrt.
Ich denke den Gedanken nach vorne auf meine Zunge und kaue ihn zu einem Graugewölle, das ich ausspucke. Mit einem Seufzen fällt es auf das Katzenkopfpflaster, wo es sich zusammenkrümmt, als ich einen Fuß daraufstelle.
Der zerfledderte Brief in meiner Gesäßtasche raunzt ungehalten, möchte ein letztes Mal gelesen werden. Ich hole ihn heraus, falte ihn auseinander und lese, obwohl ich das nicht müsste, weil ich ihn längst auswendig weiß. Die Rabensprache tanzt vor meinen Augen. Lauter kleine Krallenhiebe in Buchstabenform.
Ich knautsche das Papier zu einem Ball, den ich in die Luft werfe, wo ich ihn mit einem gezielten Feuerspuck auflodern lasse. Ascheflocken mit glimmenden Rändern segeln Richtung Wasser. Durch die Luft schweben glühende Buchstabenketten, das flirrende Geht nicht lese ich und das Sorry, das so töricht und leichtfertig ist, dass es erst weit auf dem Fluss bei den Kiesinseln niedersinkt, wo das bekannte Begleittier es aufschnappt und über dem entblößten Rücken der Geht-nicht-Frau ausrülpst. Die richtet sich auf und rümpft die Nase, weil der Rülps nach Hund riecht und ein wenig nach Süden und verbranntem Schlafsack.
Ich schicke ein Schon okay hinterher, das ich zum ersten Mal so meine. Als es ankommt, schaut sie herüber, stirnrunzelt ohne mich zu sehen und schüttelt es ab wie ein kurzes Frösteln, das nicht passt zum unbeschwerten Sonnenbad auf Inseln aus Kies und Gegenwart.
Auf der Brücke schauen sie zu, schaukeln im Takt der Bässe mit Beinen, die sie durch Geländerstäbe gesteckt haben und halten sich Bäuche, die gefüllt sind mit abgesaugten Erinnerungen der Brückengänger.
Schnee ist das Blut der Geister, rufe ich ihnen zu und ernte freundliches Winken und graues Hintergrundraunen aus offenen Mündern. Ich lasse meinen Geist schweifen, vorbei an fahlen Gemütsvampiren und lärmendem Kultursommer hinein in die Gassen der Altstadt, bis ich den Alten sehe, dem die rote Farbe vom Pinsel tropft. Er steht vor der Mauerecke und malt es auf die Stelle, wo es schon immer war. Ich borge mir seinen Pinsel und male mit grobem Strich zwei tanzende Rabenvögel über das Geister. Daneben schreibe ich Salón del Viernes. Das Rot strengt sich an zu leuchten, wie es nur Rot kann. Morgen wird sie nicht achtlos daran vorbeigehen. Morgen werden sie es sehen, sie und ihr Begleittier, und übermorgen wird es nicht mehr da sein.
Der Alte nickt mir zu, ich nicke zurück und wende mich ab. Es ist an der Zeit.
Mit Bedacht schwebe ich durch das Absperrband und lege mich auf den schwarzen Fleck, den die Trauer frischgehalten hat. Dort decke ich mich zu mit dem Teppich aus verflogener Aufregung, der dort noch liegt.
Kinderschreien, Bellen von Begleittieren und Technobeats begleiten meinen Atemzug und ein sorgloses Lachen, das über das Wasser schallt. Ich werde es vermissen, das alles, vor allem den blauen Wind, der nach Süden riecht. Der nasse Schnee hört auf zu rauschen, das Wasser im Kanal steht still.