Begegnung mit der Wahrheit
Es waren die mit Abstand schrecklichsten Minuten meines kurzen Lebens. Es war, als fiel ein entsetztes Meer von stechenden Regentropfen auf mich ein. Es war, als stürbe ich bei vollem Bewusstsein. Es war, als mir die Wahrheit ihr Gesicht zeigte. Ein Gesicht, das mir die Welt von einem zum nächsten Augenblick vermieste; ein Gesicht, das mir seine kühlen Züge zeigte und mich das grausame Gefühl spüren ließ, dass ich an mir selbst ersticke.
Ich stand bei Einbruch der Dämmerung am Grabe meiner Großmutter. Friedhöfe hatten mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht das geringste Gefühl der Unsicherheit hervorlocken können, nein, allzu oft genoss ich es, über das weiche Kiesbett zu schreiten und dem erhabenen Knirschen der Steine beizuwohnen, das vertrauensvoll eine zärtliche Bindung mit der genügsamen Stille einging. Doch nun sollte es anders kommen, sollte dieser sonst so angenehme Ort Zuschauer eines innerlichen Kampfesschauspiel werden. Vielleicht mag dies daran gelegen haben, dass ich zum ersten Mal allein dort war. Ich weiß es nicht. Jedenfalls überkam mich plötzlich und in rasender Geschwindigkeit ein tiefes Gefühl. Es wurde mir klar, wie erbärmlich ich bin, wie klein die Menschen sind. In einigen Jahren werde auch ich hier liegen, dachte ich, jämmerlich, wie ein getötetes Wild am Wegesrand, das seine letzten schweren Atemzüge getan hat. Ihm wurde keine Beachtung geschenkt. Meine Lieben werden mein Grab besuchen, klammern sich vielleicht an die Hoffnung, es gehe mir nun besser als zu Lebzeiten, versuchen, dem Schicksal des Menschen zu entgehen. Ich weine. Bitterlich. Sinke hinab auf Knien. Es regnet. Meine Wangen sind kühl. Die Kieselsteine bohren sich rücksichtslos in meine Knie. Warum leben? Nein, wir leben nicht! Unser ganzes Dasein ist ein einziges Sterben, ein pausenloses Fortschreiten bis zum bitteren Ende, bestimmt von einem höheren Ziel. Wir sind so klein, so eingeschränkt, wie es unsere Worte nicht beschreiben können. Wir streben nach Erfolg in unserem kleinen Kosmos, ohne uns darüber bewusst zu werden, wie sinnlos doch jedes Ziel sein muss, wenn wir hier enden. Zwanzig, vielleicht dreißig Jahre bleiben unsere jämmerlichen Reste der Nachwelt erhalten – dann sind wir auch in den letzten Gedankenfetzen ein Nichts. Traurige Wahrheit.
So muss sich der Tod anfühlen. Es ist, als bahnten sich die Regentropfen einen unaufhaltsamen Weg mitten in mein Herz hinein. Sie ist so grausam, diese Wahrheit, dieses Bewusstsein über die eigene Nichtigkeit. Ich renne. Einfach nur weg. Grässliche Momente. Bis ich mich beruhigte.
Ich liebe Friedhöfe.