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Beast
„Na Schatz, hast du schon Angst?“
Kate lächelte mich fordernd an und grub ihren Ellbogen in meine Flanke.
Ich zuckte zusammen und lehnte mich zurück an die Abgrenzungsstange. Mein Arm ruhte unter dem warmen Baumwollpulli von Kate. Die Abendluft war wirklich wahnsinnig kühl.
In ihr lag der penetrante Geruch von gebratenen Mandeln und frischem Popcorn.
Neben uns stand ein kleiner Junge mit seiner Mutter. Ich lächelte die Frau an, die mehr Angst zu haben schien als ihr kleiner Sohn. Ein kurzes, scheues Lächeln ihrerseits, dann war sie wieder damit beschäftigt, dem Kleinen die Wollmütze tiefer ins Gesicht zu ziehen.
Ich beugte mich rüber zu Kate und drückte ihr einen nassen Kuss auf die Wange.
Dann richtete ich meinen Blick nach oben. Eine bunte Lichtleiter zog sich unglaubliche achtzig Meter weit in die Höhe. Ich musste schlucken als meine Augen die kleine Plattform am höchsten Punkt erfassten. Sie verblieb einige Sekunden in diesem Zustand, bis sie dann plötzlich haltlos nach unten raste. Ein paar schrille Schreie übertönten die laute Musik am Boden.
Dann hörte ich nur noch das Geräusch der großen Stahlträger, die den Freifall stoppten. Ich hatte wirklich ein mulmiges Gefühl im Magen. Und mir war verdammt kalt. Kate schien da furchtloser zu sein. Sie streichelte liebevoll meinen Rücken. Ihre kalten Hände bescherten mir zusätzliche Gänsehaut.
Acht Euro hatten wir zusammen bezahlen müssen. Wenn es nach mir ginge, müsste man mich dafür bezahlen in dieses Ding einzusteigen.
Aber es war nun mal Kates Wunsch gewesen. Und da ich meiner Liebsten nichts abschlagen konnte, stand ich nun hier. Und ich wusste das wir als nächstes an der Reihe waren. Mann, was bibberten mir die Knie. Die Frau neben uns schaute apathisch nach oben. Sie hatte mindestens genauso viel Angst wie ich, das wirkte irgendwie beruhigend. Ihrem Sohn allerdings brannte die Abenteuerlust förmlich in den Augen. Der kleine Knirps hatte wirklich Nerven. Aber was sollte schon großartig geschehen? Diese Kirmesgeräte wurden doch so oft am Tag überprüft. Was wäre das denn für ein Zufall, wenn grade bei unserem Besuch die Technik versagen würde. Ich schüttelte bedächtig den Kopf. Und trotzdem...
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass alleine meine Gedanken diese Katastrophe herbeiführen konnten. Da war ein ganz merkwürdiges Gefühl in mir drin. Es war wahrscheinlich einfach nur Angst.
Dann war es schließlich soweit. Die Sitzplattform kam zum Stehen und die Schutzhalterungen lösten sich automatisch. Einige Menschen wirkten ziemlich mitgenommen, andere schmunzelten zufrieden, so als ob dieses Gefühl ganz alltäglich wäre.
Dann löste ein junger Mann vom Personal das Seil für die Abgrenzung und wir konnten Platz nehmen. Kate lief hastig nach vorne und sicherte uns zwei Plätze. Ich versuchte ganz gelassen zu wirken, aber meine Beine zitterten wie Espenlaub. Keine Ahnung ob es an mir oder der Kälte lag. Der Sitz war eigentlich recht bequem. Aber auch verdammt glatt und rutschig. Ich schaute Kate an und versuchte zu lächeln. Sie schien jetzt auch ein wenig nervös zu werden. Ich griff nach ihrer Hand. Wir küssten uns kurz, dann trat der junge Mann von eben an mich heran und presste die Halterung nach unten. Er tat das ziemlich grob und routiniert.
Ich schaute auf seinen schwarzen Pullover, auf dem mit roten Buchstaben der Name des Towers geschrieben stand. Dann war er auch schon bei Kate angekommen, die er ähnlich grob absicherte. Ich schaute ihm kurz nach und tippte meiner Freundin danach auf den Handrücken.
„Ein kleines bisschen tiefer und du hättest deinen Sex heute Abend vergessen können Schatz.“
Kate schaute lächelnd an mir vorbei und presste ihren Zeigefinger vor den Mund.
Ich drehte mich nun ebenfalls zur Seite und schaute in das angerötete Gesicht der Frau, die grade eben noch neben mir gestanden hatte.
Sie lächelte aber verständnisvoll und hielt dabei krampfhaft die Hand ihres Sohnes fest.
„Keine Sorge Madam, ich könnte mir auch vor Angst in die Hose pinkeln.“
Die Frau lächelte angespannt und warf ihren Kopf in die Lehne, die Augen geschlossen. Sie schien ein wenig zu zittern.
Dann setzte sich die Plattform in Bewegung. Kate stöhnte kurz auf, die Frau neben mir ließ einen kurzen Schrei los und presste danach ihren Kopf zurück in die Lehne.
Ich drückte Kates Hand ein wenig fester. Meine Beine baumelten bereits in der Luft.
Die Plattform hielt kurz inne, dann hörte ich nur noch die sadistische Frauenstimme aus den Lautsprechern, die uns einen guten Flug wünschte.
Ganz langsam beförderte uns das klappernde Gefährt in die Höhe.
Der Boden und die Menschen wurden zunehmend kleiner. Kalte Abendluft streichelte mein nacktes Gesicht und ich begann heftiger zu zittern.
Verdammt noch mal war das jetzt schon hoch. Und ein Ende war noch nicht in Sicht.
Ich musste für einen kurzen Moment die Augen schließen. Jetzt war es Kate, die meine Hand zunehmend fester packte.
Die Frau neben mir schickte ein kurzes Stoßgebet gen Himmel.
Ihre Hände krampften sich entschlossen um die Halterung. Die Augen waren fest verschlossen.
Dann kamen wir plötzlich zum stehen. Ich schaute wieder nach unten.
„Scheiße ist das hoch“, war alles was mir über die Lippen kam.
Die Stadt unter uns leuchtete in den verschiedensten Farben. Der kalte, tief blaue Nachthimmel über uns schien zum greifen nahe. Ich richtete meinen Blick langsam nach oben. Mir wurde schlagartig schwindelig und ich musste mich schütteln. Das sollte ich lieber nicht noch mal machen...
Die Straßen unter uns quollen über vor Verkehr. Überall liefen Miniaturmenschen durch die Gegend. Das hier war schon abartig hoch. Meine Beine waren zittrig und schwach. Ich fühlte mich hier oben gar nicht wohl. Es war ein Gefühl, als würde ich gar nicht richtig sitzen. Vielmehr kam es mir vor als würde ich schweben und jede falsche Bewegung könnte mich abstürzen lassen.
Ich wollte einfach nur das irgendetwas passiert. Kate fing an meine Hand zu streicheln. Sie schien meine Angst zu spüren.
Dann wurde mir urplötzlich flau im Magen. Ich zog die Hand zurück und krampfte mich an der Halterung fest. Mein Kopf wurde in die Lehne gepresst. Wir fielen lang und tief.
Meine Sitznachbarin stöhnte panisch, Kate schrie. Das hätte ich auch am liebsten gemacht, aber ich war nun mal ein Kerl.
Dann verabschiedete sich das flaue Gefühl im Magen und wir kamen wieder zum stehen. Wesentlich tiefer und näher am Boden. Da wollte ich eigentlich auch bleiben. Aber die Plattform setzte sich klappernd in Bewegung. Meine Halterung kam mir plötzlich viel zu locker vor. Aber das musste wohl so sein...
Wir waren wieder auf dem Weg nach oben. Das hasste ich vielmehr als den Freifall.
Die Gebäude und Menschen wurden wieder klein wie Spielzeuge.
Oben angelangt wieder das selbe lange Warten auf den Fall, den ich mir jetzt so sehr herbeiwünschte. Stattdessen nur schier endloses Warten. Der Wind war stark und kühl. Meine Hände waren schon ganz taub. Ebenso die Ohren. Die Zeit verging und meiner Meinung nach dauerte das alles viel zu lange. Meine Muskeln wollten sich immer wieder entspannen. Dabei musste ich jetzt wirklich sehr dringend pinkeln. Kate schaute mich verwundert an.
„Warum dauert das denn jetzt so lange?“
Ich schüttelte bloß den Kopf und schaute zu meiner Sitznachbarin. Sie guckte mich ängstlich an.
„Ist das denn noch normal?“
Verdammt noch mal warum fragten die beiden mich das? Ich hatte selber wahnsinnige Angst.
„Wird bestimmt gleich weitergehen“, gab ich nüchtern zu verstehen. Meine Stimme brach jedoch mitten im Satz zusammen.
Kate griff wieder nach meiner Hand. Ich versuchte nach unten zu sehen um irgendetwas auszumachen. Die Menschen bewegten sich alle normal weiter. Also war sicherlich alles in Ordnung.
Dann plötzlich wurde es dunkel. Ein lautes Knistern raunte durch die Luft und die Lichter der Plattform blinkten ein letztes Mal auf. Dann war es stockdunkel. Der ganze Turm stand ohne Licht da.
Eine heulende Windböe vermischte sich mit den verzweifelten Schreien der Fahrtgäste.
Kate fing an zu weinen und griff nach meiner Hand.
Was zum Teufel war hier los? Die Frau neben mir stand an der Grenze zum Herzinfarkt. Sie atmete übertrieben laut ein und aus. Ihr kleiner Sohn fing an zu weinen.
Ich fühlte mich auch nicht besser. Diese Dunkelheit um uns herum. Als würden wir alle in der Luft schweben.
Ein paar Sitzreihen entfernt hörten wir einen älteren Mann fluchen. Die Schreie hatten aufgehört. Vereinzelte Stimmen erhoben sich zu Wort und fluchten auf das Personal.
Der eiskalte Wind um uns herum jaulte bedrohlich durch die Reihen. Über uns und vor uns erstreckte sich der tiefblaue Horizont mit einigen wenigen Sternen. Ich schaute rüber zu Kate.
„Das wird schon Schatz mach dir mal keine Sorgen. Die holen uns gleich wieder runter.“
Ich streichelte ihre Handfläche und versuchte ihr so gut wie es eben ging zuzureden.
Dann drehte ich mich zu meiner Sitznachbarin. Sie war blass und panisch. Und trotzdem versuchte sie ihren Sohn zu trösten.
„Keine Sorge Madam, die holen uns gleich runter.“
Sie schaute mich mit eiserner Miene an und nickte hastig. Dann ließ mich ein pfeifendes Geräusch von hinten zusammenfahren. Es hörte sich so an, als ob jemand Druck von irgendwas wegnehmen würde. Und plötzlich geschah das Unfassbare...
Die Halterungen gingen von alleine nach oben. Voll automatisch und nicht aufzuhalten.
Ich schrie kurz auf und presste meinen Körper nach hinten in den Sitz.
Bevor ich irgendeinen Gedanken fassen konnte, hörte ich die Frau neben mir schreien.
Sie beugte sich nach rechts und versuchte nach ihrem Sohn zu greifen, der wild kreischend in die Tiefe stürzte.
Sie beugte sich soweit nach vorne, das sich ihr Gewicht verlagerte und auch sie abstürzte.
Ein dumpfer Schrei, dann Stille. Ich hatte die ganze Situation mit rollenden Augen verfolgt. Nach vorne beugen wäre wohl der sichere Tod gewesen.
Mein ganzer Körper verkrampfte augenblicklich und ich spürte einen stechenden Schmerz im Bein. Kate war neben mir leise am winseln. Ich wollte ihr gut zureden, aber meine Kehle war zugeschnürt. Jeder Muskel meines Körpers war angespannt. Dann hörte ich die entsetzlichen Schreie von unten. Eine Massenhysterie war dort ausgebrochen.
Ich fühlte mich so verdammt hilflos. Diese Angst war einfach unbeschreiblich. Der kalte Wind fegte an mir vorbei und fraß sich in mein Gesicht. Mein Hintern rutschte auf dem glatten Sitz ein wenig nach vorne. Ich konnte mich unmöglich ruckartig bewegen. So schlimm wie es auch war. Ich konnte nur in gleicher Position ausharren. Zum Glück war eine Sperre zwischen meinen Beinen angebracht. Sonst wäre ich schon längst abgerutscht. Ich musste mich kurz entspannen, ansonsten würde der Krampf in meinem Bein überhand gewinnen. Und so geschah es, dass ich mich selbst bepinkelte. Der warme Urin der mein Bein hinunterlief war eine Wohltat für meinen unterkühlten Körper. Ich ließ es einfach laufen.
Dann hörte ich plötzlich jemanden kreischen. Einer der Fahrtgäste konnte sich nicht mehr halten und brüllte erbärmlich nach seiner Mutter. Diese furchtbaren Schreie waren einfach zu viel für mich. Ich fing bitterlich an zu weinen. Dann fiel der Mann. Seine Schreie wurden vom Wind gefressen und drangen nicht mehr zu uns nach oben.
„Hör zu Kate halt dich gut fest! Die werden uns gleich hier runterholen bleib bloß ruhig!“
Ich versuchte so gefasst wie eben möglich zu klingen, aber meine Stimme bebte. Und es war so unglaublich kalt. Meine Glieder versteiften sich. Lange konnte ich das nicht durchhalten.
Dann hörte ich einen kurzen Seufzer von Kate. Sie rutschte nach unten und fiel zur Seite weg.
Ich konnte nur erkennen, wie sich ihr Schatten neben mir löste. Sie war abgestürzt. Kein Schrei. Sie war einfach abgestürzt.
Ich sagte keinen Ton mehr. In diesem Moment hatte ich das Bild ihrer Eltern im Kopf. Wir hatten geplant heute noch alle schön essen zu gehen. Meine Schwiegereltern und meine zukünftige Frau. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Kate konnte doch nicht einfach abstürzen. Sie war doch eine starke Frau. So verdammt tapfer und sportlich. Sie konnte doch nicht einfach abstürzen....
Die Zeit verging und meine Glieder wurden immer schwerer. Achtzig verdammte Meter hoch in der Luft. Wer sollte uns hier so schnell schon zur Hilfe kommen? Ich würde auch sterben. Kate war tot...vielleicht sollte ich ihr einfach folgen und mich fallen lassen. Meine Kraft war ohnehin am Ende. Ich gab mir keine Minute mehr.
Ein paar Seufzer und vereinzelte Schreie machten die Runde. Es waren glaube ich nicht mehr viele übrig geblieben. Und dann plötzlich kam das Licht zurück.
Ich rollte aufgeregt die Augen nach links und rechts. Dann ein lautes Rattern hinter mir.
Die Plattform fuhr langsam wieder nach unten. Ein letztes Mal mobilisierte ich meine verbliebenen Kräfte und krampfte mich an dem Sitz fest. Der Boden kam immer näher und ich fing an zu weinen. Aber ich hielt durch...
Bis meine Beine den Boden berührten. Ich schaute ausdruckslos auf den leeren Sitz neben mir. Dann stürmten schon zwei Notärzte auf mich zu und hievten mich schwerfällig nach vorne. Ich konnte meine Beine nicht benutzen. Sie schleiften mich über das Stahlgerüst. Ich war so verdammt müde. Meine Sinne vernebelten sich und das letzte was ich sah, war der schwarze Pullover eines jungen Mannes.
Die fünf roten Buchstaben darauf verschwommen vor meinem Auge und ich wurde bewusstlos....
Ende