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Barrio Blues
1 - Vor elf Jahren
Ich schalte das Autoradio aus, schiebe mir ein Kokablatt in den Mund und blicke in die Nacht. Es ist still. Keine Nachbarn sind zu sehen. Die Tür des Elektrozauns ist angelehnt. Aus dem Walkie-Talkie dringt Juans Stimme.
„Oye?“
„Was?“
„Von oben kommt Musik.“
„Was für Musik?“
„Irgendwas amerikanisches.“
„Scheiße!“
„Ist diese Britney Spears.“
„So eine Hure!“
„Was machen wir jetzt?“
„Unten bleiben.“
„Der Schmuck ist oben.“
„Da kommt die Musik her.“
„Vielleicht nur eine Attrappe.“
Was für eine Attrappe? -
Warte.“
Eine Gestalt zwängt sich durch den Zaun.
„Was ist?“
„Ihr kriegt Besuch.“
„Besuch?“
„Ja.“
„Scheiße!“
„Hat Vicente einem was gesteckt?“
„Vicente, hast du jemand was gesteckt? -
Er schüttelt den Kopf.“
„Scheiße, macht das ihr raus kommt.“
Ich starte den Motor, warte. Es fallen drei Schüsse, wenig später stürmen Vicente und Juan ins Auto, ich gebe Gas.
„Was war das, einer verletzt?“ Ich drehe mich um, sehe den Italiener eine Pistole entladen. „Fuck - warum hast du 'ne verdammte Waffe mitgenommen, Vicente?“
„Is' nich meine. Gehört dem Bolivier.“
„Was? Der Bolivier war da?“
„Ja, oben. Liegt neben der Alten.“
„Welcher Alten, Mann?“
„Die Musik gehört hat. Hat sie einfach umgeballert.“
„Fuck!“
„Ja.“
„Hijo de Puta, Juan! Du hast gesagt, die ist im Urlaub!“
„Dachte … dachte ich ... wirklich.“
„Vicente, was ist mit dem Bolivier?“
„Der zappelt noch.“
„Der Bolivier zappelt noch?“
„Scheiße, ja, der Hurensohn zappelt noch.“
„Du Spacko, ruf den Krankenwagen!“
„Ja, ja. Halt die Fresse und Fahr zu Onkelchen, der hilft uns. Der hat für solche Fälle jemanden."
„Ganz cool Fernando, haben Schmuck, Zettel, Geld. Ich sagte doch, lass Juan nur machen."
Aus der Ferne ertönen Sirenen.
2 – Heute
Ich schlendere den Bahnsteig entlang – die nächste Metro kommt in zwanzig Minuten, voraussichtlich. Dann geht es eine Stunde in den Norden, zu erst in das Zentrum der Stadt, dann in mein altes Viertel – Nordberg. Ich blicke mich um, zusehen gibt es hier nichts, nur die Landstraße, welche die Metro und die Barrio Privados von einander trennt. Barrio Privados – eingezäunte Siedlungen im Süden Karakaus'. Dörfer für Menschen, welche sich für etwas besseres halten.
Nach meinem Studium bin ich mit Maria hierher gezogen. Wir haben uns ein Haus gekauft, mit einer grünen Wiesen davor – dem automatischen Wassersprinkler sei Dank. In Nordberg hatten wir damals einen Fußballplatz, der aus Kies bestand, was hätten wir für einen Rasen gegeben. Auch gab es in Nordberg keine Polizisten, Wachmänner oder ähnliches. Und in dieses Dorf? Hier dürfen nur Anwohner und deren Gäste hinein - und selbst diese müssen bei jedem Einlass ihren Ausweis abgeben und eine Sicherheitskontrolle bestehen. Heute bin ich das letzte Mal durch die Pforte gegangen, habe dem Personal auf wiedersehen gesagt, keiner soll wissen, dass es kein wiedersehen gibt.
Ich löse meine Armbanduhr und schiebe sie in meine Hosentasche, gleich fährt die Metro ein. Zuerst nach Nordberg, später zum Gefägnis, dann werde ich Juan wieder sehen – und ich werde gehen, nein, wir werden gehen. In Nordberg werde ich die Rechnung mit diesen Hurensöhnen der italienischen Mafia begleichen. Ich streiche über meinen Koffer, es ist mein Abschiedsgeschenk für Giovanni. Ein Koffer mit 100.000 Euro und einem doppelten Boden. Dort verhindert lediglich ein kleiner Schlagbolzen, dass mich das Aceton in tausend kleine Stücke reißt. Ich versuche, nicht daran zu denken und hoffe, der Schlagbolzen wird sich in einigen Stunden von allein auflösen, so wie ich es im Studium gelernt habe.
3
Juan und ich lernten uns mit neun Jahren kennen, damals im Heim. Wir teilten uns dasselbe Stockbett. Er schlief oben, ich unten. Einmal spielten wir mit den Jungs Fußball, es war der Tag, als wir Amigos wurden. Wie alle Neuen musste ich ins Tor, was mir – wie allen Neuen – nicht gefiel.
Der Gegner spielte einen langen Ball, hinweg über die komplette Abwehr. Ich rann aus dem Tor, um die Kugel vor dem Stürmer zu erreichen, merkte, dass es knapp werden könnte und versuchte mit gestrecktem Bein den Ball zu klären. Ich traf den Kopf des Angreifers, der über dem Auge zu bluten begann. Seine Teamkameraden stürmten auf mich und verteilten zwei, drei Fäuste. Ich ging zu Boden, verlor an diesem Tag meinen rechten Schneidezahn. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis Juan die Angreifer aufmischte und eine Massenschlägerei anzettelte, die durch die älteren gewaltsam beendet werden musste.
Juan und Ich sollten uns am selben Abend vor der Heimleitung rechtfertigen. Er behauptete damals, und bleibt bis heute dabei, dass der Auslöser der Schlägerei, eine glasklare Schwalbe war.
4
Die Metro kommt, ich steige ein und höre die Kirchturmglocke unseres Barrio Privados. Maria ist dort, in diesem Gotteshaus. Ich bin immer wieder erstaunt, wie weit die Geräusche zuhören sind. Ich glaube Maria wird sich heute verabschieden, obwohl sie versprach, kein Wort zu sagen. Sie dachte wirklich, wir könnten hier bleiben, in diesem Nest reicher Wichser. Sie dachte, dass in unserem Garten irgendwann Kinder spielen würden. Frauen sind seltsam.
Aber ich kann ihr es nicht verübeln, Maria ist so aufgewachsen, musste ihre Kleidung nicht im Flussbett waschen, hat nie geklaute Schokoriegel auf den Straßen an reiche Touristen verkauft. Unsere Barrios trennten 50 Kilometer und eine ganze Welt. Ich weiß, dass hier ist weder meine Vergangenheit, noch meine Zukunft. Wir werden uns später am Flughafen treffen und nach Afrika fliegen. Ich bin gespannt, ob sie kommt. Wir lernten uns damals in der Kantine der Universität kennen. Sie hielt ein Buch von Neruda in den Händen, ich kannte kein einziges Gedicht von ihm. Wir kamen ins Gespräch, sie entführte mich, weg von den Dealern und Junkies hin zu dem 'neuen Leben'. Damals wusste sie nicht, wie ich mir das Studium finanziert hatte, doch Jahre später, als ich ihr es offenbarte, da ist sie geblieben. „Du hattest keine Schuld, und jetzt machst du das beste daraus", sagte sie und nach dem Gespräch haben wir diese Sache mit Juan für beendet erklärt, den Fakt beiseite geschoben, dass die Geschichte nicht zu Ende ist. Und es lief problemlos, bis letzte Woche. Und heute? Heute ist der Tag gekommen. Der Tag, an dem sich alles entscheidet. Ich bin gespannt, ob Maria bleibt. Ich muss an Neruda denken. Aus jedem Verbrechen werden Kugeln geboren, die eines Tages den Sitz eines Herzens finden werden.
6
Die Metro fährt an,leiste flüstere ich Adios. Werde ich diesen Ort vermissen? Die geschlossene Gesellschaft? Die drei Meter hohen Zäune? Die Wachmänner?
Ich weiß nicht, das erste mal war ich mit 18 hier. Juan und ich fuhren hier in den Süden Karakaus, natürlich nicht zu den reichen Wichsern, sondern zu ihrem Personal. Wir betrieben ein privates Verkehrsunternehmen, verdienten ehrliches Geld. Hatten einen eigenen Bus. Bei laufendem Motor hielten wir vor den umzäunten Siedlungen, sodass Putzfrauen, Gärtner und der ganze Rest hineinspringen konnten. Wir verlangten für die Hälfte des regulären Preises. Einen Fahrplan gab es nicht – wer einstieg wusste, dass wir in den Norden fuhren. Und wer es nicht wusste, um den kümmerte sich Vicente. Eines Tages stieg ein Fremder zu. Ein Tourist, Austauschstudent, ich weiß es nicht. Jedenfalls war er Amerikaner, erfuhren wir später. Vicente präsentierte uns am darauffolgenden Tag seine neuen Sneaker, gebraucht, aber günstig. Die Zeitung brachte ein Bild, von einem nackten Touri vor der amerikanischen Botschaft. Sie waren nicht amused, unser Bus brannte in der darauffolgenden Woche aus. Wir waren Piraten, doch wieder an Land, wieder im Viertel angekommen.
7
Mein erstes Schiff baute ich mit neun. Ich weiß noch, wie ich das Loch für den Besenstiel in
den umgedrehten Tisch bohrte, als ein Gewitter gegen die Wohnungstür prasselte. Zwei Polizisten und eine Frau in dunkelblauem Anzug standen vor unserer Tür. Ich spähte durch das Schlüsselloch und polterte, sie sollten verschwinden, Papa wäre nicht da. Ich hatte ihn einige Zeit nicht mehr gesehen, eine Woche, vielleicht zwei. Das war nicht schlimm, wir hatten Suppenpulver und Bohnen für einen Monat. Ebenso Thunfisch und Milchkonserven. Außerdem war ich vorbereitet. Vater hatte mir alles gezeigt. Ein Mann ist nur ein Mann, wenn er für sich und seine Familie sorgen kann, erklärte mir mein Vater. Ich werde nicht immer da sein, deshalb bringe ich dir bei, wie du überlebst. Bogen schießen, Schwein schlachten, Zelt aufbauen, Batterie anschließen und einen Generator verkabeln. Das ganze Programm.
„Fernando, wir wollen nicht zu deinem Vater. Wir möchten zu dir. Du bist doch Fernando?“, fragte eine helle, durchdringende Stimme.
„Solange Papa nicht da ist, bin ich der Mann im Haus. Und der entscheidet, wer hereinkommt, und ich sage: adios!“
„Okay, du bist der Mann im Haus. Jedoch ist neben mir die Polizei. Mach die Türe auf!“
„Papa hat gesagt, falls die Polizei kommt, lass sie ohne Papiere nicht herein. Unter keinen Umständen, Sohn, hat er gesagt. Er sagte, sie sollen den Durchsuchungsbefehl unter die Türe schieben. DURCH-SUCHUNGS-BEFEHL. Das hat er gesagt, und selbst dann soll ich nicht aufmachen. Also ciao!
Ich konnte nicht verstehen, was die Frau mit dem Mann besprach, aber ich wusste, es ging um das Aufbrechen der Türe. Sie tuschelten eine Weile, bis eine tiefe, ruhige Stimme zu mir sprach. Sie gehörte dem älteren Polizisten mit weißen Haaren und wie sich später herausstellte einem großen Bauch. Ich dachte es wäre Balu aus dem Dschungelbuch, aber ich war mir sicher, ich bin nicht Mogli gewesen. „Fernando, du sollst uns nicht hereinlassen. Es ist gut, dass du auf deinen Papa hörst! Wie wäre es, wenn du herauskommst? Du musst Hunger haben. Wir könnten eine Pizza essen gehen, reden und bringen dich nach Hause. Einverstanden?“
Ich überlegte eine Weile. Ich saß seit Tagen vor dem Fernseher, hörte die Plattensammlung meines Vaters, spielte, baute und malte die Wand an. Auf der anderen Seite konnte ich mir nur Bohnensuppe kochen. Nach einigen Minuten öffnete ich die Türe und schlich hinaus. Eine Ahnung war da, zumindest überraschte es mich nicht sonderlich, als ich es erfuhr.
8
Mein Vater sollte hochgenommen werden, entzog sich der Festnahme und wurde erschossen. An seiner Seite war ein Italiener, ein Mitglied der Ndrangheta, der fliehen konnte. Die Frau vom Jugendheim kam, wollte mich mitnehmen, andere Verwandte hatte ich nicht. Ich protestierte, rannte weg. Balu der Bär war schneller als ich. Er packte mich, nicht fest. In meinem Bauch war ein Gefühl zwischen Hass und Wut, ich weinte. Wir gingen ein letztes Mal in die Wohnung, bauten das Piratenschiff zu Ende, packten meine Sachen. Der jüngere Polizist war die meiste Zeit still geblieben, ich wusste lange Zeit nicht mal, wie er hieß, doch er blieb ebenso, wie Balu, die letzte Nacht in der Wohnung meines Vaters, bevor es am darauffolgenden Morgen in die neue Heimat ging.
Das erste Kind, das ich traf, hatte braune Haut, schwarze Augen und war genauso dünn wie ich. Es saß im Hof des Heimes und zeigte mit dem Finger auf mich.
„Bist der Neue. Abgeschoben, Eltern gestorben oder von der Straße aufgegabelt?“
Ich rannte auf ihn zu und vermöbelte ihn. Schlag auf die Nase, Kinnhaken, Tritt in die Magengrube. Balu ging dazwischen, hielt mich zurück, als die Frau in dem hässlichen Anzug sprach: „Juan das ist Fernando, sei nett zu ihm. Fernando, das ist Juan. Dein Zimmerkumpane. Er zeigt dir alles.“
9
Ich sitze in der Metro. Sie fährt durch die Vorstadt mit den kleinen Haltestellen. Je südlicher wir kommen, desto mehr Leute steigen ein. Nach einer Stunde halten wir am „Wider-Platz.“ Touristen zerren ihren Brustbeutel fest und steigen aus – ich fahre weiter. Gleich kommen wir in den wilden Norden. Mein Blick schweift aus dem Fenster, bleibt über einem Laden hängen, der Schriftzug „Ro's Mädchen" ist fast verblichen. Die hölzerne Tür ist eingetreten, das Schaufenster zugeklebt.
Mit vierzehn Jahren waren Juan und Ich häufig dort, meistens nach der Schule. Rosanna brachte uns Reis mit Gemüse, Bier, Likör. Sie stellte wenige Fragen, erzählte lieber von den Politikern und Unternehmern, von ihren Mädchen und dem Leben. Wir betranken uns, hörten ihr zu, und obwohl sie vierzig gewesen war - Juan starrte ständig auf ihre fast entblößten Brüste. Zwei runde Euter, mehr Fleisch, als unsere Hände hätten fassen können. Eines Nachmittags griff Rosanna meinem Freund in den Schritt und massierte seine Beule, bis sich die Jeans dunkelblau färbte. Anschließend leckte sie ihren Finger, lächelte und hauchte: „Morgen gehen wir ins Separee, Kleiner.“
Ich weiß nicht, ob es der Alkohol oder dieser eigentümliche, süßlich beißende Geruch gewesen war, der mich kotzen hat lassen.
Als wir abends auf unserem Zimmer saßen, klopfte Juan mir auf die Schulter.
„Auf die Möpse, Verrückter.“
Ich vergrub den Kopf in den Händen und murmelte:„Die lässt uns nichts mehr Saufen.“
„Scheiße, danke. hast mich gerettet.“
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Die Metro ist fast leer. Ich ziehe meinen Schuh aus und betrachte den weißen Umschlag aus meiner Hosentasche. „Für deinen Liebhaber.“ Ich lächle und lege ihn auf die Sohle, schnüre die Bändel fest zu. Die Metro hält, ich steige aus und laufe durch das Viertel. Die kleinen Höfe vor den Häusern sind komplett eingezäunt, die Autos stehen in Käfigen.Trotzdem sind die meisten bunt besprüht. Los Urabenjos. Ein Wellblechdach liegt in der dazugehörigen Fassade. Hat das letzte Erdbeben wohl nicht überlebt. Es hat sich einiges gebessert, denke ich. Es gibt keine Schilder mehr, die das Viertel zur Sperrzone erklären. Als ich vor zwei Wochen hier gewesen bin, um die Bestellung aufzugeben, habe ich sogar ein Polizeiauto Streife fahren sehen. Das gab es früher nicht.
Die Jungs, mit den Tüchern auf dem Schädel, die gibt es immer noch. Die Mädchen, die sich dir anbieten, arbeiten auch sonntags. Ich war einmal in ein solches verliebt. Juanita. Ich war vielleicht elf, sie vierzehn. Beide noch Jungfrau. Wir trafen uns auf der Straße, erzählten uns von unseren Träumen. Ich wollte zur See fahren, sie studieren. Hatte guten Noten, ging regelmäßig zur Schule, hielt sich von den ganz bösen Jungs fern. Eines Tages ist sie verschwunden, ich habe sie nie wieder gesehen.
Zwei Jugendliche kommen mir entgegen, mit Messern in den Händen.
„Hast dich wohl verlaufen, was?“, nuschelt der eine und zeigt mir sein zahnloses Lachen.
„He Hurensohn! Her mit dem Koffer und der Jacke, pronto“, spricht der andere und spuckt auf den Boden. Ich stelle den Koffer auf den Boden, kremple Ärmel nach oben und zeige meinen Unterarm. „Bringt mich lieber zu Padre Giovanni.“ Es wirkt immer noch.
11
Ich stehe vor dem einzigen Laden ohne Eisengitter, einzig ein grauer Vorhang verbirgt das Innere. Ich klopfe und warte, bis die Tür einen Spalt geöffnet wird. Eine Stimme flüstert. „Alejandro oder wer?“
„Nein Fernando.“
„Komm rein.“
Der Spalt wird größer, zugleich werde ich in den Raum gerissen und gegen die Wand gedrückt, ich breite meine Arme und Beine aus, werde abgetastet.
„Was ist in dem Koffer?“, fragt der Hüne und möchte ihn mir aus der Hand reißen.
„Das Geld, Vicente. Lässt du schön in Ruhe. Und meine Uhr kannst du mir zurückgeben.“
Er prustet und holt aus, als eine leise Stimme ertönt.
„Bene, bene.“ Sein Onkel tritt aus der Ecke, eingehüllt in einen schwarzen Anzug.
„Seit wann begrüßt ihr Freunde so?“ Ich lächle, Giovanni kommt näher. Sein Blick durchdringt mich, ich versuche standzuhalten. Er zieht an seiner Zigarre und pustet mir den Rauch ins Gesicht. „Nein Fernando. Ich wusste nur nicht, dass wir noch Freunde sind.“
„Aus Kuba oder Italien?“
„Freunde besuchen sich manchmal, Fernando. Ich habe dich ewige Jahre nicht gesehen.“
Meine Hand verkrampft, ich versuche den Koffer nicht fallen zulassen. „Das war der Deal, vergessen?“
Er deutet auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, nimmt Platz und beginnt zu lachen. „Ihr Hurensöhne habt mir einiges an Ärger eingebrockt, wisst ihr das?“
„Ärger oder Action?“
„Wie kann man so verfickt dumm im Kopf sein und eine der Los Rastrojos überfallen?“
„Ja, wusste auch jeder, was? Hatte ein großes Schild um den Hals. ,Zuhälternutte der Rastros'“
„Dreißig Männer. Dreißig treue Männer habe ich verloren, bis wir diese Bastarde endlich in die Luft sprengen konnten.“
Ich zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen. „Weil du durch die Dokumente ihre Küchen gefunden hast. Und die Mädchen.“
„Die waren nützlich, stimmt. Wie kann man so blöd sein und die ganzen Aufzeichnungen bei einer Fotze lassen?“
„Hat halt nicht nur mit dem Bürgermeister gefickt.“
„Nein, wohl nicht. Kannst dich an den Zettel erinnern, der überall hing?“
Passt auf eure Mädchen auf, sonst werden sie verkauft. Es war eine sonderbare Kampagne. Der Handzettel ermahnte Väter dazu, auf ihre Mädchen aufzupassen. Es war bekannt, dass viele Jungfrauen entführt und bei Auktionen verkauft wurden. Einige wurden anschließend umgebracht, andere kamen zu Rosanna, durften für sie arbeiten. Wer zu den Familien zurückkehrte, wurde verstoßen. Wir fanden heraus, wer dahintersteckte. Ein seltsamer Zufall.
„Am Ende war es eine prima Geschichte, was ihr da abgezogen habt. Haben wir alle von profitiert, nicht wahr?“ Giovanni öffnet seine Schublade, holt eine Mappe heraus. „Der kleine Fernando, vor meinem Schreibtisch. Mit 'ner edlen Jacke und feinen Schuhen.“
„Ja, in einem fast echten Reisebüro. Und Juan, dem geht’s auch richtig super.“
„Was würde dein Papa denken, wenn du so respektlos redest?"
„Ich glaube, er denkt nicht mehr viel."
„Ohne ihn wärst du schon längst weg vom Fenster. Und vergiss nicht: Manchmal verschenken wir Reisen."
Ich betrachte seine Falten, die sich unter dem trägen rechten Auge ansammeln. Neun Jahre haben wir uns nicht gesehen, hatten keinen Kontakt. Bis ich letzte Woche die Bestellung aufgab. „Hast du sie?“
„Alles da. Drei Tickets nach Italien. Warum die Pässe? Nächste Woche ist er frei und ihr könnt in Ruhe ausreisen.“
Ich begutachte die Ausweise, sie sehen echt aus. „Nicht in Ruhe ausreisen, unentdeckt ausreisen.“ „Die Sache hat deinem Verstand geschadet.Er saß zehn Jahre, der Fall ist bei den Akten, ihr
seid frei. Vicente, zähl das Geld!“
„Die wussten, dass nicht nur der Bolivier und Juan im Haus waren. Wenn er raus ist, verfolgen sie ihn, logisch, wollen zur Beute. Und falls die wissen, dass wir ausreisen … kommt alles neu ins rollen – nicht nur für uns.“
Giovanni leert sein Glas „Ich zweifel nicht an deiner Loyalität, Fernando.“ Ich nicke. Der Bolivier überlebte, bekam denselben Pflichtverteidiger wie Juan und verstarb nach dem ersten Meeting im Krankenhaus.
„Fernando, wie lange ist das her?“
„Zehn Jahre.“
„Ein Wimpernschlag.“
„Für einen Einbruch lange, nicht?“
Er blickt mir tief in die Augen. „Rosanna war beliebt, die Polizisten ehrgeizig. Wir sind nicht mehr in den 60ern, wo du in den reichen Vierteln morden kannst, ohne dass es jemand interessiert, die schnüffeln dir im ganzen Viertel rum, wollen Stress. Juan soll froh sein, dass wir ihm einen Anwalt finanziert haben.“
„Das ist er.“
Vicente schließt den Koffer und nickt Giovanni zu. „Zweihunderttausend. Ein Drittel der Beute. Fernando, weißt du, wie viel Lire das sind?“
Ich schüttele den Kopf. „Ist mir egal, Vicente. Gibt's noch irgendeinen Scann?“
„Nicht nötig – wir wissen ja, wo wir dich finden. Eine letzte Partie Schach?“
„Hab' ich eine Wahl?“
„Nein.“
Giovanni kam häufiger ins Heim, brachte uns Kindern das Spiel der Könige bei. Ich kannte es schon – und ich kannte ihn. Er ist häufiger bei meinem Vater und mir gewesen, machte Geschäfte.
Später besorgte er mir den ersten Job: Heroinkurier. „Wo kein Bart haart, wird nicht geschnüffelt“, versprach er. Und es stimmte: bis ich dreizehn war, wurde ich nie kontrolliert. Anschließend bekam ich eine neue Arbeit: in der Küche. Mischen, rühren, abkochen und säubern. Dreimal die Woche nach der Schule – so finanzierte ich mir meinen Wagen. Heute wird Giovanni sterben, der Schlagbolzen in meinem Koffer wird sich in wenigen Stunden aufgelöst haben, dann wird das Aceton explodieren, und das Reisebüro in ein flammendes Meer verwandeln. Ich lächle und denke an meine erste, fast eigene, Wohnung.
12
Es war, als wir volljährig wurden. Juan und Ich zogen aus dem Heim. Wir hatten keinen richtigen Plan. Ich wollte studieren, er in Saus und Braus leben. Da wir kein Geld hatten, weder um zu Studieren, noch für die Nutten, gingen wir zur Gang, zu Giovanni. In eines der Hochhäuser, wo sich alles sammelt, was nicht unterkommt – oder nicht entdeckt werden möchte. Die Hauptsache war, wir blieben zusammen. Irgendwann würden wir schon aus dem Norden der Stadt kommen, raus aus diesem Barrio, rein in das Zentrum, vielleicht sogar in den Süden, dort, wo wir mit unserem Verkehrsunternehmen die Miete verdienten. Zusätzlich kochte ich einige Tage in der Drogenküche, Juan spielte immer noch Bote. Auf unserem Gang wohnte Vicente und ein Bolivier. Wir teilten uns das Scheißhaus, die Küche und das Gras. Abendlich saßen wir an dem Eichentisch und tranken Bier. Nachdem Juan und ich unser Tattoo bekamen, ließ der Italiener Ramazzotti springen.
„Original aus Florenz. Ein Geschenk von Onkel Giovanni, von und für die Familie.“
Nach der dritten Runde grinste er in die Ferne, sein Gebiss offenbarte mehr Lücken als sein Lebenslauf.
„Was brauche ich viele Lire, wenn ich Freunde wie euch habe.“
Juan nickte. „Ein Bier, Freunde, ein bisschen Schnaps. Mehr braucht es nicht.“
Der Bolivier polterte mit seiner Faust auf den Tisch und zeigte aus dem Fenster.„Die können mich alle.“ Kramte einen Plastikbeutel aus der Hosentasche, verteilte hellbraunes Pulver auf einer Folie und begann mit dem Erhitzen. Eins musste ich ihm zugestehen: Er brannte nie etwas an.
„Ich weiß nicht. Warum verwandelt sich die Raupe, wenn sie den ganzen Tag abhängen kann?“
„Hast das in deiner Schule aufgeschnappt oder was? Die verderben dich da im Zentrum, das sag ich dir. Und ich sag dir noch was: Die Raupe will mehr. Sie will fliegen. Wie wir. Und das werden wir.“ Ich schüttelte den Kopf. „Amigo, du solltest weniger ziehen.“
„Ich mein's ernst. Ich hab da was. Ich kenne 'ne Alte unten im Süden. Hat ein Haus mit riesigem Garten, Pool, Rasensprenkler. Die trägt Klunker, lederne Handtaschen, so Zeugs halt. Sind am Wochenende im Urlaub, weiß ich sicher.“
„Und?
„Wir steigen ein.“
Der Kopf des Boliviers fiel auf den Tisch, sein Kopf zappelte, Vicente hatte sich aufgerichtet.
„Bist du jetzt ein Meisterdieb oder was? Das wird nichts, lass den Scheiß.“
„Du traust mir nichts zu, oder? Lass nur den Juan machen, sag ich dir. Geht nichts schief“, er kramte in seiner Hosentasche und holte drei Schlüssel heraus.
„Für die Türen und die Alarmanlage. Todsicheres Ding.“ Der Italiener applaudierte. Die schlangenförmige Narbe, die vom Ober- zum Unterarm verlief, zeichnete sich deutlich von den hervortretenden Adern ab. Seinen Angaben zufolge die Erinnerung an einen Kunden, der zu früh gehen musste. Sein Onkel mochte keine Zechpreller.
„Freitag steigen wir ein? Lire und Freunde, noch besser!“
13
Ich zünde die Ausweise und Papiere an, die Giovanni mir besorgt hat. Sie brennen gut. Juan kommt gleich aus dem Knast, es dauert noch ein paar Minuten. Eine Woche früher, wegen guter Führung – oder Überfüllung. Das weiß man nie genau. Aber es ist egal, neun Jahre sind eine lange Zeit. In Jogginghose und T-Shirt sehe ich ihn auf mich zukommen, nein, rennen. Wir liegen uns in den Armen und nach drei Zigaretten winke ich einem Taxi.
„Geht gleich los?“
Ich ziehe meine Schuhe aus und krame den Umschlag heraus, reiche ihn Juan. „Ein Geschenk.“
Er öffnet den Umschlag und lacht mich an. „Südafrika. Was sollen wir da?“
„Urlaub machen.“
„Wir haben noch Zeit, oder? Lass uns zum Friedhof fahren.“
Ich führe Juan zu Rosanna. Letzte Woche habe ich dem Gärtner einen fünfziger in die Hand gedrückt, damit er es für heute schön macht. Der Stein ist geputzt, frische Blumen blühen, von Unkraut keine Spur. Ich lasse Juan, gebe ihm Zeit. Er geht in die Knie und beginnt zu beten.
14
Ich laufe zwischen Gräbern zu zwei Anzugträgern, die auf einer Bank sitzen. Einer von den beiden erkenne ich sofort, es ist Balu. Er ist alt geworden, trägt tiefe Falten unter den Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob er weiß, dass wir heute gehen.
„Na meine Herren, dürfte ich mich setzen?“
Sie blicken mich an und nicken. „Haben Sie auch jemand verloren?“
„Wir verlieren hin und wieder jemanden“, antwortet der Jüngere. Sie könnten Vater und Kind sein. Balu ergänzt, während er zu Juan hinüber blickt. „Ab und zu finden sich aber auch Dinge, richtig?“
Ich nicke.
„Nach all den Jahren. Freundschaften die mit Prügeln beginnen, halten am längsten."
„Das stimmt wohl …“
Der Alte lacht „Haben uns lange nicht gesehen, Fernando. Seit dem Prozess, oder? Habe gehört, du hast studiert?“
„Chemie und BWL.“
„Interessante Kombination.“
Ich nicke. „Karriere gemacht, was? Dachte, du wirst Schiffsbauer.“
Ich lache auf. „Schiffsbauer.“ Er steckt sich eine Zigarette an, reicht mir eine.
„Aber selbst?“
„Karriere? Ich bin froh, nicht mehr Streife zu fahren. Eine Verbesserung, keine Frage. Ansonsten immer das selbe: Latinos, Italiener, Touristen.“
„Und einen neuen Kollegen, was?“
„Geben dem Ältesten anscheinend die Jüngsten.“
„Was ist mit dem Anderen geworden?“
„Lange Geschichte.“
„Und? Auf der Suche nach der Beute?“
Der Alte nickt. „Nach der Beute, nach Beweisen, zum Zeit vertreib.“
Sein Blick schweift über den Horizont zu seinem Kollegen. „Diego, kannst du die Zentrale anfunken? Was ist das für ein Rauch unten?“ Der jüngere nickt, steht auf und läuft fort.
„Ein guter Junge. Will die Stadt noch sauber kriegen.“
„Scheint so.“
„War eine turbulente Zeit nach dem Mord.“
Ich schaue auf die Gräber in der Ferne „Eine Frage, bevor ich gehe.“
„Nur eine?“
„Wer hat damals geschossen?“
Er schnippt die Fluppe weg. „Du warst dabei.“
„Das andere mal.“
„Du kennst den Bericht.“
„Ich kenne den Bericht und ich kenne unser Land.“
„Wer mit einem Kilo Heroin herumläuft und Polizisten vermöbelt, muss damit rechnen.“ „Erschossen zu werden? Vermutlich. Verstarb in deinen Armen.“
„Ja.“
„Und dann hast du ihm noch versprochen, dich um seinen Sohn zu kümmern?“
Er nickt. „Die Geschichte hat sich seit dem letzten Mal nicht geändert.“
„Wir fliegen heute.“
„Wissen wir, haben mittlerweile auch Technik.“
Aus meiner Tasche krame ich die Uhr, reiche sie ihm. „Um 18.30 geht’s los. Deine Schuld ist beglichen.“
Dann stehe ich auf, bewege mich in Richtung Juan. Bleibe stehen, drehe mich um und blicke Balu an. „Wer hat geschossen?“
Er lächelt. „Dasselbe könnte ich dich fragen.“
15 – Im Flugzeug nach Südafrika
„Fernando, die Stadt ist winzig“, Juan nimmt einen großen Schluck aus dem Rotwein Becher.
Ich fahre den Schmutz auf dem Fenster nach. „Ach? Wirklich?"
Er lächelt. „Bist schon paar Mal geflogen, was?“
Ich nicke. „Paar Mal.“
„Was ist das für ein Rauch?“, fragt er und zeigt auf die schwarze, dichte Wolke am Horizont.
„Welcher Rauch?“
„Könnt aus unserem Viertel kommen, oder?“
Ich zucke die Schultern. „Klar, warum nicht?“
„Ziemlich schwarz, was?“
Das Zucken wiederholt sich.
„Ich meine. Zu schwarz für ein normales Feuer, oder?“
„Weiß nicht.“
„Also was brennt da?“
„Keine Ahnung, vielleicht eine Küche.“
„Ein Küche?“
„Ja, oder eine Holzfabrik.“
„Kein Scheiß? Wir haben eine Holzfabrik?“
„Ja, habe ich gegründet.“
„Ernsthaft?“
„Nee, war nur Quatsch, weiß halt nicht, was da brennt. Warum machst du dir so einen Kopf?“
„Ich mach mir keinen Kopf, interessiert mich nur. Warum kam deine Alte nicht? Vielleicht hat es was mit dem Feuer zu tun?“
„Weiß nicht, warum sie nicht kam. Kennst ja Frauen. Aber mit dem Feuer hats nichts zu tun – da bin ich ganz sicher..“
„Du weißt es nicht und bist dir ganz Sicher?“
„Haben ja noch das Haus. Ist wohl da geblieben. - in diesem Barrio Privado, wo wir früher Busfahrer gespielt haben, erinnerst du dich?“
Juan nickt.
„Juan, Weißt du was?"
„Was'n?"
„Was wir machen, wenn wir ankommen?"
„Nee, erzähl."
„Wir bauen ein Floß“, sage ich, nehme mein Wein und stoße mit Juan an.