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Die dritte KG rund um Barat, der Hauptstadt des Westens im (noch) namenlosen Kontinent.
Barat: Todeshall
Die Nebelkrähe flog über das Kaufmannsviertel, im Mondlicht suchte sie die Schindeldächer nach Leckerbissen ab. Sie war allein, ihre zahlreichen Geschwister hatten sich mit dem Fraß im Sund zufrieden gegeben, Fleischbrocken aus Kotzepfützen gepickt und mit den Ratten um Abfälle gezankt, bevor sie zum Nistplatz heimgekehrt waren. Schnelle Beute in der Tat, doch Delikatessen gab es dort nicht.
Dafür riskierte man am Boden nicht Haut und Federn. Hier oben lebten die Wohlhabenden und aus Sorge um ihre perlenbesetzten Tischdekorationen, Silberlöffeln und Zuckerzangen, hatten sie den Wächtern die unbarmherzige Order gegeben, sämtliche Rabenvögel, die den Terrassen und Balkonen zu nahe kamen, vom Himmel zu schiessen.
Während die besondere Krähe diesen Gedanken nachhing, erspähte sie unter sich auf einem Dachbalken das leuchtende Hinterteil eines Glimmerkäfers! Das Glück hilft den Geduldigen, was für ein Prachtstück! Niemals nisteten diese großen Exemplare im Sund. Bei der Vorfreude auf das zarte Fleisch unter dem violett-glühenden Panzer schlug ihr Herz schneller. Sie legte die Schwingen an und tauchte ab in den Sturzflug.
Gleich war es so weit, der Käfer ahnte nichts, sie öffnete den Schnabel … da packte eine unsichtbare Macht abrupt ihren Körper! Finger würgten die Kehle und pressten die Flügel zusammen, panisch verspürte die Krähe, wie dieses Etwas immer stärker zudrückte! So hing sie hilflos direkt über dem Insekt – das kurz innehielt – und dann unbeeindruckt weiterkrabbelte.
Die Krähe dagegen zuckte und zappelte wie von Geisterhand; und verfluchte sich für ihre Kühnheit, es mit diesem Teil Barats aufnehmen zu wollen.
»Hab dich«, murmelte Diam erleichtert, den Blick gen Dachfirst gerichtet. Seit zwei Hornstößen kauerte die Hantu-Weberin nun schon in der Gasse, verborgen hinter zwei Weinfässern, auf der Suche nach einem passenden Späher.
Mit einer Abfolge kurzer Gesten zwang sie den Körper des Vogels vollends unter ihren Willen, Diams Magie strich über die Federn der Krähe, sie fühlte, wie das kleine Herz rasend schnell pochte, doch ihr Hantu legte sich wie ein engmaschiges Netz um den Leib und sorgte für Ruhe. Dann horchte sie in die nächtliche Stille.
Als Diam sicher war, dass weder Wachpatrouillen noch Galane, unterwegs zu einem der mit Weinranken bewachsenen Balkone, sich näherten, ließ sie die Krähe bis weit über die Dächer aufsteigen und konzentrierte sich auf den Geist des Vogels. Mit geschlossenen Augen intonierte sie den passenden Hantu-Kehlkopfgesang, ließ das Vermächtnis ihrer Ahnen vibrierend aus dem Unterbauch über Luftröhre und Lippen strömen; Ton für Ton wob Knoten um Knoten und verknüpfte so die eigene Seele mit der des Tieres. Es dauerte nicht lange und der letzte Klang des Zauberliedes verhallte in den dunklen Gassen.
Hoch oben am Himmel atmete sie aus. Sie war jetzt die Krähe.
Krähen-Diam blinzelte. Mit diesen Augen sah Barat bei Nacht anders aus: bunter, prachtvoller. Die goldene Kuppel der Zitadelle leuchtete so hell, dass es schmerzte.
Die Konturen waren schärfer, Krähen-Diam konnte den Kontrast zu jeder einzelnen Dachschindel ausmachen. Auch der Hornstoß, der just in diesem Moment vom Turm der Historiker ertönte und mit seinem Bass die nächste volle Stunde verkündete, klang verändert.
Eine Bö zupfte am Federkleid, Krähen-Diam schlug mit den Flügeln und spürte die kräftigen Muskeln, sie flog eine lang gezogene Kurve, tauchte ab und stieg dann steil auf. Begeistert über den Rausch dieser Freiheit krähte sie dies in den Himmel hinaus. Wie bei jedem seltenen Mal, wenn sie das kraftraubende Seelenband knüpfte, war sie im ersten Moment von den neugewonnenen Eindrücken überwältigt.
Sie hielt Ausschau nach ihrem menschlichen Körper. Da war er, zusammengekauert hinter Fässern im Schatten eines Steintorbogens. Krähen-Diam sondierte die nähere Umgebung, doch es drohte keine Gefahr, dass die schutzlose Fleischhülle in Bälde entdeckt werden würde. Sie sah über die Dächer und orientierte sich, dann flog sie mit kraftvollen Flügelschlägen ihrem Ziel entgegen, bereit, den nächsten Schritt des Plans in die Tat umzusetzen.
Auf dem Weg vermischten sich grimmige Gedanken an das, was kommen würde, mit der schmerzlichen Erinnerung an ihre älteste Schwester. Auf dass mit dem ersten Licht des neuen Tages die Blutrache vollstreckt wäre und Kecils gepeinigte Seele endlich Frieden fände.
Gemuk Jelek sank tiefer in die Seidenkissen, rekelte sich und schmatzte zufrieden, dann hob er ein Bein und befreite so einen laut knatternden Darmwind. Er seufzte. Das Leben war gut.
Die Lautstärke des Furzes ließ eine außerhalb des Turmzimmers stationierte Wache durchs Fenster schauen. Und obgleich die Geste bloß von der Dauer eines Wimpernschlags war, merkte der Mann sofort, was er getan hatte und sah schnell wieder weg. Doch es war zu spät für ihn, denn Gemuk hatte die Verfehlung bemerkt.
Die anderen drei Wachen hinter den Bleiglasfenstern auf dem Balkon rund um das Ficknest, wie Gemuk sein mit handverlesenen Teppichen, Diwanen, mit Traumkraut gestopften Wasserpfeifen und weiteren Annehmlichkeiten ausgestattetes Refugium gern nannte, standen wie befohlen still auf ihren Posten.
Gemuk lehnte sich in die Kissen zurück, er betrachtete durchs Fenster den Rücken des scharfsinnigen Wächters und sinnierte lächelnd über eine angemessene Bestrafung dieses Ungehorsams. Er könnte die Finger des Mannes in Säure tunken, sodass der dreiste Kerl nie wieder eine Waffe halten, geschweige denn aus eigener Kraft essen könnte. Oder ihn blenden, mit einem glühenden Schürhaken konnte sein Folterknecht die Augäpfel zum Platzen bringen. Bei diesen Gedanken spürte Gemuk, wie die Säfte zurück in seine Lenden strömten und sein bestes Stück erwachte. Das Lächeln wuchs zu einem Grinsen an. Er könnte …
Die Lustsklavin zu seinen Füßen gab einen erstickten Laut von sich. Wahrscheinlich hatte der Furz ihr süßes Näschen trotz der schwelenden Räucherstäbchen erreicht.
Gemuk sah auf sie herab. Die Insulanerin war wirklich eine Augenweide, jung und unverbraucht, mit seidenweicher Haut in der Farbe von Sandelholz. Sachte hob er ihr Kinn an und sah ihr in die Augen. »Was ist denn, mein Täubchen, gefallen dir meine inneren Düfte nicht, hm?«, säuselte er.
Beschämt senkte sie den Kopf, doch nun hatte sie seine volle Aufmerksamkeit. Er sank neben ihr auf die Knie und griff nach der Eisenkette, die vom Ring um den Hals zu den Händen verlief. Beinahe zärtlich glitten seine Finger über die metallenen Glieder. Blitzschnell packte er die Fessel und riss daran, die Sklavin keuchte auf. »Wenn ich furze, hat dir das verdammt noch mal zu schmecken! Du solltest darum betteln, mehr von meinen kostbaren Dünsten atmen zu dürfen! Deine Nase sollte mein Arschloch anbeten wie eure heidnischen Priesterinnen die Schlampe, die ihr Göttin nennt!«
Die Sklavin zitterte am ganzen Körper. Er las in ihren Rehaugen, dass sie wahrscheinlich nicht mal die Hälfte verstanden hatte; Gemuk spürte mit Wonne, wie sein Schwanz zu voller Pracht anwuchs. »Bring mehr Wein!«, rief er barsch und ließ los.
Während sie zur Karaffe eilte, lag sein Blick auf dem Schwung ihrer wohlgerundeten Hüften. Mit der einen Hand nestelte er am Gürtel seines Seidenkimonos, die andere tastete nach der kurzen Lederpeitsche, die er an seiner Seite wusste. »Jetzt beeil dich, oder soll ich dir Beine machen?«
Ja, das Leben war gut.
Krähen-Diam segelte im Aufwind und behielt so Position, mit wenigen Flügelschlägen korrigierte sie diese ab und an. Sie hatte ihr Ziel erreicht, in sicherer Entfernung beobachtete sie das Anwesen des Edelmannes, der wie so viele Baratianer seinesgleichen ganz und gar nichts Edles in sich hatte.
Die Wachen patrouillierten in Paaren über das Gelände, die Kleidung der Männer und Frauen glühte im satten Blau, sie zählte insgesamt acht von ihnen. Sie umflog das Grundstück und merkte sich die Position an der westlichen Mauer, dort fehlten an der Außenwand einige Steine, das würde ihr Anstieg werden, sobald sie zurück in ihren Menschenkörper gewechselt wäre.
Sie schlug mit den Flügeln, stieg immer weiter auf, bis sie auf einer Linie mit dem Balkon des viereckigen Turmzimmers war und umkreiste es. Vier Wachen standen dort, jeweils eine auf jeder Seite mit dem Rücken zum Fenster. Das Innere des Zimmers schien von Kerzen erleuchtet und Krähen-Diam glaubte, spitze Schreie zu vernehmen. Ihr Herz schlug schneller. Er war hier. Isoliert und ohne Klinge am Leib. Innerlich lächelte sie. Es hatte sich bezahlt gemacht, die Diebe der Rabenschar großzügig für Informationen über den grausamen Patrizier zu entlohnen.
Ihr Blick fiel auf das Flachdach des Turms direkt über dem Raum, in dem Jelek jetzt gerade seine Lust befriedigte. Würden die Raben auch hierbei nicht gelogen haben, gab es dort eine Dachluke mit direktem Zugang zum Zwischenboden des Zimmers darunter. Ein einzelner Wachposten schritt dort oben die Mauer ab, er würde keine Herausforderung werden. Sie würde einfach …
Aus dem Nichts fetzte sengender Schmerz durch ihren Körper, schleuderte sie fort und sie verlor an Höhe! Erschrocken krähte sie auf und schlug mit den Flügeln, doch das entfachte nur noch heißere Pein. Panisch versuchte sie aufzusteigen, doch ihre linke Seite gehorchte ihr nicht mehr. Knapp über ihr zischte etwas Schwarzes vorbei, der Luftzug streifte ihr Gesicht und sie geriet ins Trudeln! Unweigerlich bekam Krähen-Diam es mit der Angst zu tun! Wenn dieser Körper auf dem Kopfsteinpflaster aufschlagen und bersten würde wie eine reife Rotfleischfrucht, dann geschähe eben dies mit dem hinter zwei Weinfässern kauernden Menschenleib! Die Welt drehte sich weiter und weiter, der Boden kam furchtbar schnell näher. Sie gab es auf mit den Flügeln zu schlagen, schloss stattdessen die Augen und sammelte sich: Ja, ich höre dich, Mutter. Ja, ich höre euch, Schwestern. Ja, ich höre euch, Ahnen. Das Vibrato schwoll an, stieg durch den kleinen Körper und auf den rettenden Schnabel zu; und in ihrem Geist hörte Krähen-Diam, wie ein Knoten platzte …
Keuchend riss sie die Augen auf. Bei Malaikat, Gott des Todes, war das knapp gewesen! In Diams Ohren rauschte es und Übelkeit stieg in ihr auf wie Suppe, die überzukochen droht. Sie schloss die Augen, schlang die Arme um die angezogenen Knie und kämpfte gegen das Gefühl an.
Es war erst das zweite Mal in diesem Leben, dass sie den Todeshall ertragen musste. Beim ersten war sie unerfahren, fast noch ein Kind. Natürlich hatte sie damals Kecils Mahnungen nicht ausreichend Beachtung geschenkt, zu aufregend war die Erfahrung, gleich die Seele eines flauschigen Löffelohrs mit der eigenen zu verbinden und zu ihm zu werden.
Als der letzte Ton gesungen, der finale Knoten geknüpft, war die Wiese unglaublich schön, so grün und saftig, die Gerüche und Geräusche schier überwältigend. Unerfahren, wie sie war, hatte sie den Streifenzahn im hohen Gras nicht lauern sehen und ohne Kecil wäre es ihr sicheres Ende gewesen.
Im Jetzt und Hier atmete sie langsam ein, durch die Nase … und langsam aus, durch den Mund.
»Folge deinem inneren Klang, Schwester«, hörte Diam Kecils sanfte Stimme aus der Erinnerung und doch so nah. »Dein eigenes Lied ist immer da, es handelt von dir, deinem Wesen, es erzählt deine Geschichte. Kannst du es hören?«
Diam öffnete die Augen. Mit dem Ärmel ihrer Robe wischte sie die Tränen weg, was einen Schmerzensstich im Arm folgen ließ. Leise stöhnte sie auf und erkannte Blut, das den dunklen Wollstoff tränkte. »Was auch immer der Seele widerfährt, die, die gebunden ist, muss es wahrhaftig ertragen.«
Diam versuchte die Muskeln im Arm zu belasten, ließ die Schulter kreisen und presste die flache Hand gegen das Fass vor sich. Schmerzenswellen brandeten auf, flossen ins Schultergelenk und in die Fingerspitzen. Diam biß die Zähne zusammen und verfluchte ihre Unachtsamkeit als Hantu-Krähe. Keine Chance, so zu klettern, geschweige denn, Rache zu nehmen. Erneut spürte sie, wie Tränen aufstiegen, doch diesmal aus Scham. Ihr Plan war gescheitert, Gemuk Jelek würde leben und wer weiß wie viele Unschuldige weiterhin unter seiner Knute leiden. Sie hatte Kecil nicht gerächt, ihrer Seele keine Ruhe gespendet. Sie war unfähig …
Leise Stimmen rissen Diam aus der Grübelei. Sie spähte über die Fässer hinweg. Zwei Stadtgardisten näherten sich, das trübe Licht ihrer Blendlaterne strich über die Ziegelwände und bat die Schatten zum Tanz. Zeit, zu verschwinden. Geduckt schlich Diam rückwärts im Schutz der Weinfässer tiefer in die Gasse hinein, bis sie sicher war, ungesehen aus dem Viertel verschwinden zu können. Sie würde wiederkommen, das schwor sie beim Vermächtnis ihrer Ahnen.