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Büchergrube

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21.04.2015
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Büchergrube

In Bahnhofshallen ist die Einsamkeit am kältesten. Leute hetzen an mir vorbei, wir sehen uns an und sehen zu Boden, Atem schwebt neblig in der klirrenden Luft. Manchmal kommt’s mir so vor, als ob keiner von uns ein Gesicht hätte. Ich gehe an den Gleisen entlang und kann mich an niemanden erinnern, wenn ich die Halle verlassen habe. Wie ein milchiger Film, der sich über alles legt, jede Kontur verschwinden lässt. Doch manchmal, da fühle ich mich beobachtet. Da sehen sie mich plötzlich an, mein Inneres stülpt sich nach außen und jeder kann es sehen.
So wie dieser alte Kerl, der jeden Morgen vor dem Bahnhofsgebäude auf dem Boden sitzt. Er mustert mich, als ich aus der Halle komme und mir ’ne Kippe anzünde.
„Das sollten Sie nich machen.“
„Was?“
Er deutet auf die Kippe. „Is nich gut für den Täng.“ Neben ihm liegt eine halbleere Wodkaflasche.
Ich wende mich von ihm ab und gehe in Richtung U-Bahn.
„Warten Sie doch mal. Hee! Scheiße …“
Hinter mir raschelt und stöhnt es und ich drehe mich um. Der Typ zieht sich an einer Laterne nach oben und atmet schwer. Sein Pullover spannt über dem mächtigen Bauch, fast kann ich Stoff reißen hören. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, weil es aussieht, als würde er gleich umkippen. Er verheddert sich mit den Füßen in dem zusammengeknüllten Schlafsack, der am Boden liegt, schüttelt ihn ab und richtet sich auf. Erst jetzt sehe ich das Buch neben der Wodkaflasche. Der Alte bemerkt meinen Blick.
„Überrascht, hä?“
„Nein, ich …“
„Liest sich prima ohne Dach überm Kopf. Das hier …“, er zeigt auf das zerfledderte Exemplar von Winters Knochen, „… das les ich immer, wenn’s zapfig wird. Bringt mich in die richtige Stimmung.“
Sein Lachen klingt blechern.
„Aha.“
Er bückt sich und greift nach dem Buch. „Hier! Is genau das Richtige für Sie.“
Ich kapiere gar nichts.
„Jetzt nehmen Sie schon! Geben Sie’s mir wieder, wenn Sie durch sind.“ Er humpelt auf mich zu, drückt mir das Buch auf die Brust und kneift die Augen zusammen. „Sie sind viel zu traurig für Ihr Alter. Das geht mir mächtig auf den Geist.“
„Sie kennen mich überhaupt nicht!“ Ich trete einen Schritt zurück, halte ihm das Buch hin. „Danke, aber ich brauch das nicht.“
„Brauchen Sie wohl.“
Dann dreht er sich um, humpelt zurück zu seinem Schlafsack und ruft mir zu: „Ich bin entweder hier oder an der Reichenbachbrücke. Wenn Sie fertig sind …“
Ich sehe mich um, suche nach jemandem, der uns beobachtet, der mir erklären kann, was der Alte von mir will, was ich mit dem Buch anfangen soll, warum der Kerl überhaupt mit mir spricht, als würde er mich kennen. Aber die Leute laufen an uns vorbei, die Blicke auf irgendetwas in der Ferne gerichtet, auf etwas, dem sie entgegenstreben, etwas, das nichts zu tun hat mit dem grauen Himmel, der heute auf die Stadt drückt.
Der alte Typ hat sich wieder hingesetzt, lehnt an der Hauswand und hat die Augen geschlossen. Das Buch fühlt sich weich an. Und warm. Ich betrachte die weite Landschaft auf dem Cover. Das Feld und die Berge, über denen sich ein paar Sonnenstrahlen durch schwere Wolken kämpfen und alles in schmutziges Zwielicht tauchen.
Ich werfe einen letzten Blick auf den dösenden Mann vor mir, drehe mich um und gehe zur U-Bahn.

*********​

Draußen vor dem Fenster fallen winzige Flocken, langsam tänzeln sie zu Boden. Ich beschließe, das Buch im Schnee zu lesen. Ich will die Kälte auf der Haut spüren, während ich umblättere. Keine Ahnung, was los ist, ich denke nicht nach. Ich stehe auf, packe mich dick ein und stiefle in den Westpark.
Es gibt dort einen kleinen See, an dessen Ufer ein Bauwagen steht, aus dem Studenten Tee und Kaffee verkaufen. Um den Wagen herum haben sie Holzpaletten unter Bäume und gusseiserne runde Tische mit Klappstühlen ans Wasser gestellt.
„Warte mal“, ruft mir der Typ hinterher, bei dem ich gerade den Kaffee geholt habe. Unter seinem Arm klemmen zwei Wolldecken. „Is ganz schön kalt heute, vielleicht solltest du ...“
„Danke.“ Unsere Blicke treffen sich, als ich nach den Decken greife, in seinen grünen Augen blitzt etwas auf, Neugier vielleicht oder ein Lächeln, aber ich schaue schnell wieder zu Boden und gehe an ihm vorbei auf den See zu. Ich setze mich mit meiner dampfenden Tasse auf eine der Paletten, lehne mich an den Baumstamm und schlage das Buch auf. Die Seiten riechen nach altem Papier und ganz leicht nach Lagerfeuer.
Ich folge Ree, die sich mit unbändigem Willen durch die Geschichte schlägt. Ich bin direkt hinter ihr, höre den Schnee knarzen, durch den sie stapft, und fühle ihre Wut. Ich sitze mit ihr im Wald, beobachte die vom Schnee schweren Äste, die fast den Boden berühren und höre das Meeresrauschen, das aus den Kopfhörern kommt, die sie aufhat. Die Zeit löst sich auf, der Raum zwischen uns verschwimmt. Irgendwann nippe ich am Kaffee und verschlucke mich, weil er arschkalt ist. Zwei Enten fliegen über den See, ihr Flügelschlag durchbricht die Stille, die mich umgibt. Sie landen auf dem Wasser und schwimmen langsam davon.
Auf der anderen Seite steht eine junge Frau am Ufer. Sie hat die Hände in den Taschen eines grauen unförmigen Mantels vergraben, der trotz der Kälte offen an ihr herunterhängt. Darunter blitzt ein Kleid hervor, das zu dünn aussieht für die eisige Luft. Die Stiefel sind klobig und reichen ihr fast bis zu den Knien. Ich reibe mir die Augen. Öffne sie wieder. Die Frau steht immer noch da. Ihre langen blonden Haare sind zerzaust, ein paar Strähnen bewegen sich im Wind.
Ree hebt die Hand und winkt mir zu. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, um sie herum wird es heller, für einen kurzen Moment spiegelt sich ihr Leuchten im glatten Wasser des Sees. Dann dreht sie sich um und verschwindet.
Ich betrachte das Buch, das geöffnet in meinem Schoß liegt. Der Schnee fällt nun dichter. Vereinzelte Flocken landen auf meinem Gesicht, kleine kalte Küsse, die auf der Haut schmelzen. Ich lehne mich zurück, hinter mir der Baum, unter mir die Holzpalette, die mich vom gefrorenen Boden trennt, vor mir der See, der aussieht wie der Himmel über Kopf. Ich verschwinde in diesem Wintermoment, still und ruhig.

*********​

„Is da Zucker drin?“, fragt er, als ich ihm den Kaffeebecher hinhalte.
„Ihnen auch ’n schönen guten Morgen.“
„Mit Zucker wär er besser!“
„Ist drin. Zwei Tütchen.“
Er prostet mir zu. „Na dann – guten Morgen.“
„Hier, Ihr Buch.“
„Das ging ja fix … Is sie nich großartig?“
„Wer?“
„Na, Ree!“
„Ja …“ Ich sehe sie vor mir, wie sie mir von der gegenüberliegenden Seite des Sees zuwinkt. „Ja, ist sie.“
„Kann man sich ne Scheibe von abschneiden, hä? Vor allem Sie.“
„Wieso denn jetzt wieder ich?“
„Sie laufen rum mit diesem Gesicht.“
„Was stimmt nicht mit meinem Gesicht?“
„Immer, wenn ich Sie morgens seh, dann schauen Sie so.“ Er zieht die Mundwinkel nach unten. „Kneifen den Mund zusammen. Lassen die Schultern hängen. Glotzen auf den Boden. Als ob’s da was zu sehen gäb.“
„Vielleicht bin ich einfach nur müde.“
„Nee, sind Sie nich!“
Ich atme tief ein. So langsam geht der Alte mir auf die Nerven. Aber weggehen kann ich auch nicht. „Und was bin ich dann?“
„’ne Lusche. Nich prinzipiell, aber gerade jetzt eben. Sie tragen ihr kaputtes Herz spazieren, passen immer schön auf, dass es weiter weh tut, weil Sie das als Entschuldigung nehmen können für alles, was Ihnen Angst macht.“
„Wow, wie philosophisch. Wusste gar nicht, dass wir uns so gut kennen.“
„Ja, ja, das haben Sie schon mal gesagt. Recht hab ich trotzdem.“
Eine Gruppe Geschäftsmänner, jeder einen Rollkoffer an der Hand, schiebt sich ratternd an uns vorbei.
„Überlegen Sie mal, was die durchmacht“, sagt er und trinkt schlürfend aus dem Becher.
„Das ist nur ’ne Geschichte.“
„Denkst du.“
„Ist doch so.“
„Ree gibt es wirklich!“
„Aha.“
„Da wird sie so dermaßen vom Leben verprügelt und steht trotzdem wieder auf. Heult sie deshalb? Nee. Die macht weiter. Jetzt erst recht. Mit dem Kopf voraus.“
„So wie Sie?“
Vor seinem Gesicht fährt ein Rollladen runter. Alles friert ein, seine Züge sehen plötzlich aus wie die einer Puppe.
„Tut mir leid, das war bescheuert.“ Ich hocke mich hin und suche seinen Blick. „Ich kapier nicht, was das hier soll?“
„Hat auch keiner gesagt, dass Sie das müssen.“
Wir starren uns an.
„Ich bin Lena.“
Er schnalzt mit der Zunge und nimmt schließlich meine Hand. „Ferdinand.“
„Freut mich.“
„Hm.“
Ich richte mich wieder auf und sehe auf die Uhr. „Ich muss jetzt los.“
„Das hier nimmst aber mit!“
Schon wieder ein Buch. Dünner diesmal. Wie ferngesteuert greife ich danach, nicke ihm zu und gehe.

*********​

Am Abend stehe ich zu Hause vor dem Spiegel und betrachte mich. Meine Haut ist blass, aber das ist sie immer im Winter. Vielleicht diesen Winter ein bisschen mehr. Weil er anders ist als die davor.
Toms Geruch steigt mir in die Nase. Ich spüre die Wärme unserer Umarmung, die uns wie Watte umschließt, bevor ich mich aus ihr löse und die Wohnung verlasse. Sehe mich, wie ich allein unterm Weihnachtsbaum sitze, jede meiner Bewegungen verfolgt von verstohlenen Blicken meiner Familie. Sie sagen, nun sei ja schon ein wenig Zeit ins Land gegangen. Und sehen mich dabei erwartungsvoll an. Mein Mund ist trocken, eine Wüste ohne Worte. Und da ist Wut. Scheiße, was nehmen sie sich raus, mir zu sagen, es sollte mir doch längst besser gehen!
Und plötzlich sehe ich sie im Spiegel hinter mir stehen.
Ree.
Sie steht nur da und sieht mich an. Ernst und regungslos. Keine Ahnung, warum, aber ich schäme mich vor ihr. Ich denke an ihre Geschichte und ich denke an meine und ich rede mir ein, ihre sei nicht echt, aber irgendwie ist sie es doch, und ich weiß, ich sollte endlich den Arsch hochkriegen.
Ich durchquere die Wohnung, setze mich ans Fenster und zünde mir ’ne Kippe an. Ich hab das öfter. Ich kenn das. Bücher haben diese Wirkung auf mich, sie verschlingen mich und spucken mich dann, mal mehr, mal weniger zerzaust, wieder aus. Aber das hier, das ist anders. Ferdinands Buch war anders. Und jetzt hab ich noch eins davon. Ich muss nicht hinschauen, um zu wissen, wo es liegt. Ich spüre, wie es auf mich wartet. Der Schaum der Tage steht auf dem Einband. Die vier Worte haben etwas Tröstliches.
Ich lese es immer kurz vorm Einschlafen. In völliger Stille und an der Grenze zwischen Wachsein und Traum. Ich wirble zwischen den Seiten umher, sehe mich verwirrt auf Jazz-Partys um, bei denen Menschen in Plattenspielern sitzen, stehe in Küchen, in denen Aale aus Wasserhähnen flutschen. Traurig sitze ich mit dem Liebespaar auf dem Bett, als die Seerose im Herzen der Heldin immer größer wird.
Nach jedem Kapitel schaue ich durch das Dachfenster in den Himmel. Manchmal sind dort Sterne, manchmal milchige Wolken, aus denen knisternd Schneeflocken auf die Scheibe fallen. Ich erinnere mich an uns, an dich und mich, und mein Herz verkrampft und wehrt sich, aber das macht nichts.

*********​

Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und wickle den Schal enger um den Hals. Der Wind, der über die Reichenbachbrücke fegt, ist eisig. Aber Ferdinands Stammplatz vorm Hauptbahnhof war leer, also bin ich nun hier und suche nach ihm. Auf der anderen Seite der Brücke nehme ich die schmale Treppe hinunter zum Isarufer und biege in die Unterführung ab, in deren Windstille sich eines der Matratzenlager befindet. Ich laufe an den provisorischen Betten vorbei, in denen sich Fremde verkriechen, die mich nicht sehen wollen. Ich klammere mich an den Pizzakarton und fühle mich zum Kotzen. Wie ein beschissenes Arschloch, das den Blick für so vieles verloren hat.
„Hee! Lena! Hier rüber.“ Ferdinand steht am anderen Ende der Unterführung und winkt mir zu. Ein paar Köpfe erscheinen unter den Schlafsäcken, eine Frau mit kurzem grauen Haar reibt sich die Augen.
„Ferdinand, wer is’n das?“
„’ne Studentin von mir.“
Die Uni will ich sehen, die dich einstellt …“
„Ruhe!“, schreit jemand hinter mir.
Ich schlängle mich an den Matratzen vorbei und lege den Pizzakarton auf Ferdinands Lager ab. „Studentin?“
Er winkt ab. „Is lange her.“
„Du hast unterrichtet?“
„Hm.“
„Ich hab Abendessen mitgebracht.“
„Brauchst nicht jedes Mal …“
„Mach ich aber.“
Er schnalzt wieder mit der Zunge. Dann setzt er sich und beginnt zu essen. Ich ziehe das Buch aus der Tasche und gebe es ihm.
„Hast du’s gelesen?“
„Zwei Mal sogar.“
„Und?“
Am Eingang der Unterführung fliegt eine Plastiktüte vorbei, raschelnd flüstert sie uns ein paar Worte zu, bis sie in einem Busch hängenbleibt.
„Was soll das alles?“
„Was denkst denn, was das soll?“
„Oh Mann …“
Er wischt sich einen dünnen Käsefaden vom Mund. „Hast ’ne gesunde Farbe im Gesicht.“
„Hab ich das?“
„Und schauen tust auch nicht mehr so griesgrämig.“
„Aha.“
Ferdinand klappt den Pizzakarton zu und stellt ihn zur Seite. Er sieht mich an und ich werde unruhig. Was mache ich hier eigentlich?
„Komm mal mit, ich zeig dir was.“
Bevor ich widersprechen kann, ist er auf den Beinen und läuft davon. Ich folge ihm schweigend. Nach ein paar Minuten erreichen wir die nächste Brücke und Ferdinand klettert vorsichtig die Böschung zur Isar hinunter. Ich hab’s aufgegeben, ihn zu fragen, was das soll. Unten am Pfeiler bleiben wir stehen. Er fängt an zu graben, bis eine rote Plastikfolie sichtbar wird. Für einen kurzen Moment hält er inne und sieht zu mir hoch.
„Jetzt wird’s mal Zeit für’n Klassiker. Scheinst recht gscheit zu sein.“
Ich grinse ihn an. „Sehr freundlich.“
Ferdinand schlägt die Folie zurück. Darunter kommt eine Grube zum Vorschein, in der sich Bücher stapeln. Er wühlt darin herum und reicht mir schließlich ein dünnes rotes. Es riecht erdig und feucht.
Geschlossene Gesellschaft …“
„Das passt wie Arsch auf Eimer.“
„Wieso das denn?“
„Den hat der Vian nicht ausstehen können. Jetzt schau nicht so deppert. Boris Vian, das Buch, das du eben gelesen hast.“
„Klar, tschuldige.“
„Bissal konzentrieren musst dich schon.“
Ich fühle mich tatsächlich ein bisschen schlecht, packe das Buch in meine Tasche und deute auf die Grube. „Was versteckst du da drinnen denn noch?“
„Nix. Nur Bücher. Is sozusagen meine Privatbibliothek“, sagt er und richtet sich auf. Seine Augen strahlen, er strafft die Schultern und lächelt. Ich habe plötzlich das Bedürfnis, ihn zu umarmen.
„Ich hab das alles mit Folie abgedichtet, verstehst? Feucht werden die Bücher trotzdem, aber im Sommer trockne ich die dann immer, das geht ganz gut.“
Das Buch in der Tasche wiegt schwer. Ich suche nach etwas, das ich ihm sagen könnte, aber es gibt nichts, das in diesem Moment richtig klingen würde.
„Nicht schlecht, was?“
Ich nicke. „Sind das alles deine?“
„Freilich sind das meine. Hab ich damals mitgenommen. Als alles den Bach runterging.“
Er lässt den Blick über den Fluss schweifen, der sich schnaufend durch die Stadt schiebt. Ich stelle mich neben ihn. Vereinzelte Schneeflocken fallen auf uns herab. Wir wenden uns der Grube zu, decken die Bücher wieder mit der Folie ab, stopfen sie sorgfältig in die Ecken und Ritzen und bedecken dann alles mit Erde.
Auf dem Weg zurück frage ich ihn, wie es so weit gekommen ist.
„Nicht heute“, sagt er.
„Vielleicht beim nächsten Mal?“
„Vielleicht.“

 

Hallo RinaWu,
auch ich musste sofort an "König der Fischer" denken, als ich deine Geschichte gelesen habe. Ein Film, der mir, obwohl uralt, immer noch unter die Haut geht.
Ich finde den Plot klasse, gut erzählt, atmosphärisch dicht, offenes Ende. Mich stört nicht, dass ich nichts über die Bücher weiß. Ich benötige auch nicht mehr Infos. Ich lese eine klassische "Awareness" Geschichte: das Universum hält immer Hilfe und Antworten bereit. Und meist an den unwahrscheinlichsten Orten oder bei den unmöglichsten Personen. Man muss bereit sein, zu sehen und zu hören. Und das ist deine Prota. Und ich mit ihr. Und werde sensibilisiert, noch genauer und aufmerksamer zu werden.
Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass du uns zeigst, dass auch der Obdachlose sich ändert. Nicht im Sinne von "Rettung", kitsch und so. Also, was kann den Obdachlosen motiviert haben, warum sucht er sich eine Studentin?
Liebe Grüße
Heike

 
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Hallo Heike Hatzmann,

auch ich musste sofort an "König der Fischer" denken, als ich deine Geschichte gelesen habe. Ein Film, der mir, obwohl uralt, immer noch unter die Haut geht.
Okay, ich glaube, den Film muss ich mir anschauen! ;)

das Universum hält immer Hilfe und Antworten bereit. Und meist an den unwahrscheinlichsten Orten oder bei den unmöglichsten Personen. Man muss bereit sein, zu sehen und zu hören. Und das ist deine Prota. Und ich mit ihr. Und werde sensibilisiert, noch genauer und aufmerksamer zu werden.
Das hast du schön geschrieben. Ich bin da auch gerade ein wenig beeinflusst von der Serie, die ich schaue, "Dirk Gentlys Holistic Detective Agency", das ist total abgefahren und ich kapiere nur die Hälfte, aber im Grunde spielt da dieser Gedanke eine Rolle, dass alles und jeder auf der Welt irgendwie miteinander verflochten ist. Dass praktisch alles, was passiert, eine Rolle spielt. Mal runtergebrochen. Und ja, auf jeden Fall kann es helfen, den Fokus mal ein bisschen von sich selbst und dem Packerl, was man trägt, wegzulenken auf das, was so um einen herum passiert. Wie sagt Dirk Gently so schön in einer Szene: "Wenn ich immer nur hinter mich schaue, sehe ich nicht, was vor mir passiert." :D

Allerdings hätte ich mir gewünscht, dass du uns zeigst, dass auch der Obdachlose sich ändert. Nicht im Sinne von "Rettung", kitsch und so. Also, was kann den Obdachlosen motiviert haben, warum sucht er sich eine Studentin?
Stimmt, der Fokus liegt hier eher bei Lena. Ich weiß nicht, ob es für die Geschichte zu viel wird, wenn ich ihn und sein Schicksal, bzw. seine Veränderung auch noch thematisiere. Ich habe das schon bewusst so vage gelassen. Aber vielleicht gebe ich den beiden bald ein wenig mehr Raum.

Liebe Grüße
RinaWu

 

cool! Wusste gar nicht, dass der Held meiner Jugend jetzt verfilmt wurde: Der elektrische Mönch, Douglas Adams!! Juchu, such ich mir direkt als Stream.
Danke RinaWu

 

Liebe Rina,

der Anfang gefällt mir. Du baust sofort eine besondere Atmosphäre auf.

Er deutet auf die Kippe. „Is nich gut für den Täng.“ Neben ihm liegt eine halbleere Wodkaflasche.
Hehe.

„Liest sich prima ohne Dach überm Kopf. Das hier …“ Er zeigt auf das zerfledderte Exemplar von Winters Knochen. „… das les ich immer, wenn’s zapfig wird.
Vilelleicht wäre es so besser, schließlich geht der Satz ja weiter:
„Liest sich prima ohne Dach überm Kopf. Das hier …“, er zeigt auf das zerfledderte Exemplar von Winters Knochen „… das les ich immer, wenn’s zapfig wird. ..."

Bücher haben diese Wirkung auf mich, sie verschlingen mich und spucken mich dann, mal mehr, mal weniger zerzaust, wieder aus.
Sehr schön.

Obwohl ich die erwähnten Bücher nicht kenne, klappt es bei mir auch so. Du hast mich auf jeden Fall neugierig auf die Bücher gemacht.

Für mich ist dieser Teil die Kernaussage der Geschichte:

ich sollte endlich den Arsch hochkriegen.
Und das ist ja mal ein vernüftiger Vorschlag! :thumbsup:

Hat mir gefallen.

Liebe Grüße,
GoMusic

P.S.: Freue ich auf unser Treffen :)

 

Lieber GoMusic,

schön, von dir zu lesen, danke, dass du dir Zeit genommen hast.

:D Ich hab ja wirklich kurz überlegt, Teint richtig zu schreiben, aber mich dann dagegen entschieden. Jetzt bin ich sehr froh darüber!

Vilelleicht wäre es so besser, schließlich geht der Satz ja weiter:
„Liest sich prima ohne Dach überm Kopf. Das hier …“, er zeigt auf das zerfledderte Exemplar von Winters Knochen „… das les ich immer, wenn’s zapfig wird. ..."
Ja, das stimmt, dann fließt das auch für's Auge besser. Hab ich angeändert, danke dir.

Sehr schön.
Hach ja, und ich finde es schön, dass du das schön findest. Es ist noch gar nicht so lange her, dass ich Winters Knochen gelesen habe und da ging es mir echt so. Mich hat das Buch so mitgenommen und mitgerissen. Dann ging auch noch gerade der Winter so richtig los und das hat dann irgendwie nochmal doppelt gewirkt, weil das Buch auch in dieser Jahreszeit spielt, nur ist die bei Ree tausend Mal härter als hier bei uns. Ja und das Buch hat mich tatsächlich am Schluss verstrubbelt ausgespuckt, das wirkt immer noch nach ...

Obwohl ich die erwähnten Bücher nicht kenne, klappt es bei mir auch so. Du hast mich auf jeden Fall neugierig auf die Bücher gemacht.
Das freut mich! Ist ja immer auch Geschmackssache, aber ich hätte sie nicht gewählt, könnte ich sie nicht bedenkenlos weiterempfehlen.

Für mich ist dieser Teil die Kernaussage der Geschichte
Das ist für Lena auf jeden Fall das Entscheidendste, was mit ihr im Verlauf dieser Geschichte passiert.

P.S.: Freue ich auf unser Treffen
Ich bin jetzt schon vorfreudig!

Liebe Grüße
RinaWu

 

Hallo RinaWu

wenn ich Deinen Text mit Musik vergleichen müsste, dann ist neben den immer wieder kehrenden Themen ein ständiges Flirren im Hintergrund. Eine leichte Art zu erzählen hast Du, auch wenn´s eben mal schrifttechnisch leger wird - das tut der Spannung keinen Abbruch - es wirkt eher vertraulich und bringt zumindest mir die Prots näher.
Irritierend finde ich, dass Dein Prot sofort auf den "Penner" reagiert ... aber da ich mich selbst schon oft neben einen "Penner" gesetzt habe und wunderbare Gespräche erleben durfte, kann ich es nachvollziehen ... was für mich gilt, muss nicht usus sein.
Gefesselt und zu einem Kommentar bewogen hat mich Deine Kunst zu schreiben. Einfach großartig.
Liebe Grüße
Detlev

 

Hallo Detlev,

freut mich, dass du vorbeigeschaut und einen Kommentar hinterlassen hast.

Klar, das stimmt schon, ich habe das weiter unten schon mal erwähnt, im wahren Leben würde Lena den Ferdinand vermutlich ignorieren, bzw. zumindest kein Gespräch mit ihm anfangen. Andererseits gibt es Situationen im Leben, einen bestimmten Zeitpunkt, wenn zwei Menschen aufeinander treffen, da ist sowas vielleicht doch denkbar. Und ich nehme mir da natürlich auch die Freiheit des Fiktiven, ich erzähle schließlich eine Geschichte und spiegele nicht 1:1 wider, was jeden Tag passiert. Und andererseits, wie du schon sagst, gibt es genug Menschen, die da eben (zum Glück) doch offener sind und sich auch mal auf Gespräche mit Fremden einlassen, an denen andere einfach vorbeigehen.

Gefesselt und zu einem Kommentar bewogen hat mich Deine Kunst zu schreiben. Einfach großartig.
Das nehme ich dankend und mit einem Lächeln entgegen. Freut mich sehr!

Liebe Grüße
RinaWu

 

Hey RinaWu,

In Bahnhofshallen ist die Einsamkeit am kältesten.

Ich mag ihn gern, diesen ersten Satz.

Leute hetzen an mir vorbei, wir sehen uns an und sehen zu Boden, Atem schwebt neblig in der klirrenden Luft.

Dafür hatte ich hier einen Hänger. Schon völlig klar, was Du sagen willst, aber neblig schwebend/schwebt nebelig - weiß nicht, ich mag es nicht. Kann das jetzt aber auch nicht sinnvoll begründen, eher so ein fliegisches Bauchgefühl.

Dann habe ich die Geschichte aber in einem Zug durchgelesen und war bisschen erschrocken, als ich ans Ende kam. Wie jetzt? Kann doch jetzt und hier nicht zu Ende sein? Was soll das! Das ist Kritik und Lob zugleich. Zum einen ist es natürlich toll, wenn es dem Leser nach mehr verlangt, zum anderen hat es den Beigeschmack, dass da noch was in der Luft hängt, so ein unbefriedigtes Gefühl. Und das hatte ich mit dem Ende tatsächlich. So rein plottechnisch jetzt. Ja, was ist jetzt mit der Büchergrube? Was will/soll ich damit? Es offenbart ja nix oder schließt ab, das ist ja kein Ende, worauf die Geschichte (zwangsläufig) zuläuft, die ganze Vorarbeit steht (für mich) in überhaupt keinem Zusammenhang damit. Die Grube kommt daher wie eine Pointe. Ich mein, dass Ferdinand belesen ist und von daher Bücher ein Schatz für ihn sind, klar, das erzählt mir die Geschichte, tut sie aber auch ohne das Ende. Und dann ist sie auch noch Titelgebend? Also, ich fand das Ende nicht so prickelnd, eher so drangeklebt. Wie der Anfang von etwas Neuem, anderen, was sich jetzt daraus ergeben müsste.
Aber das davor fand ich schon ziemlich gut. Der Text öffnet viele Türen. Das mochte ich gern. Meine Lieblingsstelle ist, wo sie am See in der Kälte sitzt und ihr erstes Buch liest und Realität mit Fiktion verschwimmt. Und was ich jetzt sagen will, liebe RinaWu, geht nicht gegen deinen Text oder gar deine Intention, aber selbst wenn das Ende für mich stimmig wäre, würde ich die Geschichte nicht empfehlen, weil ...

Das Thema ist natürlich ein gern beackertes Feld (Literatur und Film). Jemand trifft auf einen Clochard, der zum Lehrmeister und Wegweiser für das eigene Leben wird. Gefühlt würde ich sagen, stranden hier jährlich fünf bis zehn Geschichten mit diesem Motiv im Forum. Ist ja nicht schlimm, aber was ich echt vermisse, dass mal irgendwer nicht nur die Heiligenkrone auf die Obdachlosen stülpt. Und es ist immer, wirklich immer, dieselbe Geschichte, wie die "Opfer" aus ihrer "Opferrolle" geholt werden. Sie sind gebildet, sie weisen den Weg, sie sind Propheten. Und sie sind immer nett dabei. Nie Arschlöcher, weil man das moralisch nicht darf: Treten auf die, die eh schon am Boden liegen. Aber, und das ist so schade, dadurch entstehen auch immer eine weiße Figuren. Der Obdachlose und der Protagonist, der sich auf ihn einlässt. Sie sind immer nett zueinander, tauschen Kaffee und Pizza gegen gute Ratschläge. Schöne heile Welt. Und in so einem Setting, kann natürlich auch nie Reibung entstehen. Dadurch sind es auch immer die inneren Konflikte die als Spannungsträger herhalten, die gelöst werden, und insofern behandeln die Geschichten die Problematik auch nicht wirklich, da werden die "Luxusprobleme" der Protagonisten gelöst, aber nie geht es wirklich um den Menschen auf der Straße. Der darf nur als Stichwortgeber fungieren (bleibt Randfigur) und der Leser wird so ein bisschen moralisch verwarnt, da wird mal kurz mit dem Finger auf Vorurteile verwiesen.

Das sind aber generelle Bauchschmerzen die ich mit dieser Art von Geschichten habe, deshalb noch ein paar Lieblingsstellen, denn ich fand da schon sehr viel Schönes auch in dem Text.

Ich beschließe, das Buch im Schnee zu lesen. Ich will die Kälte auf der Haut spüren, während ich umblättere.

Ich folge Ree, die sich mit unbändigem Willen durch die Geschichte schlägt. Ich bin direkt hinter ihr, höre den Schnee knarzen, durch den sie stapft, und fühle ihre Wut. Ich sitze mit ihr im Wald, beobachte die vom Schnee schweren Äste, die fast den Boden berühren und höre das Meeresrauschen, das aus den Kopfhörern kommt, die sie aufhat.

Sehe mich, wie ich allein unterm Weihnachtsbaum sitze, jede meiner Bewegungen verfolgt von verstohlenen Blicken meiner Familie. Sie sagen, nun sei ja schon ein wenig Zeit ins Land gegangen. Und sehen mich dabei erwartungsvoll an. Mein Mund ist trocken, eine Wüste ohne Worte. Und da ist Wut. Scheiße, was nehmen sie sich raus, mir zu sagen, es sollte mir doch längst besser gehen!

Beste Grüße,
Fliege

 

Hallo Fliege,

Ich mag ihn gern, diesen ersten Satz.
Ich habe mich eben schon gefreut, als ich gesehen habe, dass du ihn in der Rubrik Der schön(st)e erste Satz in Wortkriegergeschichten geposted hast. Vielen Dank dafür :kuss:

Dafür hatte ich hier einen Hänger. Schon völlig klar, was Du sagen willst, aber neblig schwebend/schwebt nebelig - weiß nicht, ich mag es nicht. Kann das jetzt aber auch nicht sinnvoll begründen, eher so ein fliegisches Bauchgefühl.
Okay, das ist natürlich voll in Ordnung. Ich selbst mag den Satz aber so wie er ist und würde ihn so stehen lassen :)

Es offenbart ja nix oder schließt ab, das ist ja kein Ende, worauf die Geschichte (zwangsläufig) zuläuft, die ganze Vorarbeit steht (für mich) in überhaupt keinem Zusammenhang damit. Die Grube kommt daher wie eine Pointe. Ich mein, dass Ferdinand belesen ist und von daher Bücher ein Schatz für ihn sind, klar, das erzählt mir die Geschichte, tut sie aber auch ohne das Ende. Und dann ist sie auch noch Titelgebend? Also, ich fand das Ende nicht so prickelnd, eher so drangeklebt. Wie der Anfang von etwas Neuem, anderen, was sich jetzt daraus ergeben müsste.
Auch das akzeptiere ich natürlich, da lässt sich nix gegen sagen, wenn du das so siehst. Aber das ist vielleicht tatsächlich Ansichtssache. Denn für mich ist die Büchergrube schon etwas Zentrales in der Geschichte. Sie ist das Einzige, das Ferdinand noch etwas wert ist, etwas, das er pflegt und das ihm Kraft gibt. Diesen "Schatz" teilt er mit einer Fremden, Lena. Die Büchergrube am Schluss offenbart ja nur noch deutlicher, was er da eigentlich mit Lena teilt, es gewinnt an Wert und Gewicht. Klar, das Ende ist offen. Da steckt noch mehr drin. Die Annäherung der beiden, was passiert da, was offenbart es für jeden von ihnen. Das arbeitet gerade ordentlich in mir, ich lasse das mal eben eine Weile köcheln und wenn es keine Ruhe gibt, erzähle ich da vielleicht weiter.

Dadurch sind es auch immer die inneren Konflikte die als Spannungsträger herhalten, die gelöst werden, und insofern behandeln die Geschichten die Problematik auch nicht wirklich, da werden die "Luxusprobleme" der Protagonisten gelöst, aber nie geht es wirklich um den Menschen auf der Straße. Der darf nur als Stichwortgeber fungieren (bleibt Randfigur) und der Leser wird so ein bisschen moralisch verwarnt, da wird mal kurz mit dem Finger auf Vorurteile verwiesen.
Ja, Fliege, da hast du recht. Das sehe ich ein und da verstehe ich dich. Auch das lasse ich mal sacken. Denn auch das könnte ich viel eher ausbauen, wenn ich der Geschichte mehr Raum gebe, also weg von der Kurzgeschichte hin zur Erzählung. Da spuken mir nämlich durchaus schon Gedanken im Kopf herum, sowohl Lena als auch Ferdinand viel komplexer zu gestalten und Ferdinand eben auch Seiten zu geben, die weggehen von der "weißen Figur". Einen oder mehrere richtige Streitigkeiten zwischen den beiden gingen mir auch schon durch den Kopf. Naja, was ich sagen will, ich behalte mir deine Worte im Hinterkopf, und warte jetzt mal ab, was sich da in mir tut und ob ich das noch weiter ausbaue. Ich habe sogar schon in die Richtung gedacht, das Ganze düsterer zu gestalten, also dass Ferdinand Lena auf eine Art dunkle Fährte lockt, irgendwas mit seiner Vergangenheit, irgendwie so ... Du siehst, alles noch sehr schwammig ;)

Danke dir auf jeden Fall für deine Anmerkungen und Anregungen.

Liebe Grüße
RinaWu

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo RinaWu!

Ich schreibe mal beim Lesen mit:

In Bahnhofshallen ist die Einsamkeit am kältesten. Leute hetzen an mir vorbei, wir sehen uns an und sehen zu Boden, Atem schwebt neblig in der klirrenden Luft. Manchmal kommt’s mir so vor, als ob keiner von denen ein Gesicht hätte, ich gehe an den Gleisen entlang und kann mich an niemanden erinnern, wenn ich die Halle verlassen habe. Wie ein milchiger Film, der sich über sie legt und alle gleich aussehen lässt.
Ich würde den ersten Satz streichen. "die Einsamkeit ist am kältesten" - für mich klingt das schief. Ich weiß, was du damit sagen willst, was du damit erzeugen willst, aber kann Einsamkeit "kalt" sein? Für mich passt das nicht, das klingt in meinen Ohren irgendwie zu gewollt, gerade für einen ersten Satz. Ich fände es toll, wenn der Text direkt beginnen würde mit "Leute hetzen an mir vorbei, ...", da wäre man direkt in der Geschichte drin, und man könnte als Leser selbst entscheiden, ob in Bahnhofshallen die Einsamkeit am schmerzhaftesten ist, ohne das schon vorangestellt vom Autor gesagt zu bekommen. Also, nicht böse gemeint, aber ich hoffe du verstehst, wie ich es meine?

Manchmal kommt’s mir so vor, als ob keiner von denen ein Gesicht hätte, ich gehe an den Gleisen entlang und kann mich an niemanden erinnern, wenn ich die Halle verlassen habe. Wie ein milchiger Film, der sich über sie legt und alle gleich aussehen lässt. Aber manchmal, da fühle ich mich beobachtet. Da stülpt sich mein Inneres nach außen und jeder kann es sehen.
Ich muss noch mal auf den ersten Absatz eingehen. Er wirkt irgendwie inkohärent auf mich. Ist sich beobachtet fühlen eine Antithese dazu, dass die Leute im Bahnhof für die Prot alle gleich aussehen? Ich finde, das "Aber ..." passt dazu nicht. Das klingt wie: Manchmal kommt's mir vor, als sähen alle Autos da draußen gleich aus. Aber manchmal, da fühle ich mich beobachtet.
Es passt irgendwie nicht ganz, oder?

„Sie sind viel zu traurig für Ihr Alter. Das geht mir mächtig auf den Geist.“
Eine tolle Charakterisierung und ein toller Satz von dem Mann!

„Wieso denn jetzt wieder ich?“
„Sie laufen rum mit diesem Gesicht.“
„Was stimmt nicht mit meinem Gesicht?“
:D

„Immer, wenn ich Sie morgens seh, dann schauen Sie so.“ Er zieht die Mundwinkel nach unten. „Kneifen den Mund zusammen. Lassen die Schultern hängen. Glotzen auf den Boden. Als ob’s da was zu sehen gäb.“
„Vielleicht bin ich einfach nur müde.“
„Nee, sind Sie nich!“
Ich atme tief ein. So langsam geht der Alte mir auf die Nerven. Aber weggehen kann ich auch nicht. „Und was bin ich dann?“
Was mir an der Szene wunderbar gefällt, ist, wie sie indirekt deine Prot charakterisiert, und zwar einerseits mit den Worten des Mannes, andererseits überlässt du aber hier mir als Leser einfach die Entscheidung, was ich von der Prot halten will, und wie ich sie sehen will. Du lässt die Szene irgendwie atmen und gibst ihr Raum, und ich als Leser kriege ein richtig schönes Bild von der Prot vor Augen

Schon wieder ein Buch. Dünner diesmal. Wie ferngesteuert greife ich danach, nicke ihm zu und gehe.
Ich mag Geschichten, in denen es um Bücher oder das Lesen geht, sehr gerne. Da hast du ein Stein bei mir im Brett.

Am Abend stehe ich zu Hause vor dem Spiegel und betrachte mich. Ich denke an Ferdinands Worte, obwohl ich das gar nicht will. Meine Haut ist blass, aber das ist sie immer im Winter. Vielleicht diesen Winter ein bisschen mehr. Weil er anders ist als die davor.
Toms Geruch steigt mir in die Nase.
Nur ein Gedanke: Was wäre, wenn du diesen Satz streichen würdest? Ich glaube, als Leser hat man Ferdinand noch so sehr vor Augen bzw. im Ohr, dass man begreifen würde, dass die Worte auch in deiner Prot in diesem Moment nachhallen, und dass sie an Ferdinand denkt, ohne es zu wollen. Würde vllt stärker wirken, wenn du es streichen würdest - aber deine Entscheidung

Da wird sie so dermaßen vom Leben verprügelt und steht trotzdem wieder auf, höre ich den alten Ferdinand sagen. Und plötzlich sehe ich sie im Spiegel hinter mir stehen.
Ree.
Auch hier - könntest du streichen, und es würde - meiner Meinung nach - stärker wirken

„Nix. Nur Bücher. Is sozusagen meine Privatbibliothek“
finde ich toll

Auf dem Weg zurück frage ich ihn, wie es so weit gekommen ist.
„Nicht heute“, sagt er.
„Vielleicht beim nächsten Mal?“
„Vielleicht.“
schade, dass ich als Leser hier nicht mehr erfahre! Ein paar Andeutungen oder noch mehr Infos hätte ich toll gefunden, um die Figur noch runder und menschlicher zu machen, muss aber nicht.

RinaWu, ist eine schöne Geschichte, die ich gerne gelesen habe. Sprachlich finde ich sie gut, ein paar Vorschläge habe ich dir mitgeschrieben. Ist ein rundes Ding, das man auf jeden Fall so stehen lassen kann, finde ich. Wenn du noch dran schrauben möchtest, hätte ich gesagt, dass du ruhig die Figur Ferdinands mit noch mehr Details und Geschichte anreichern kannst, weil das glaube ich etwas ist, was die Leser in dieser Geschichte besonders interessiert - wie schaut das authentische Leben eines Obdachlosen aus? Wie kommt jemand in eine solche Situation, gerade, wenn er davor Akademiker war? Ich halte das alles für realistisch und hätte nichts gegen mehr, muss aber natürlich nicht, ein Mangel sehe ich hier nicht.
Mein zweiter Vorschlag, falls du noch daran basteln wollen würdest, wäre, die missglückte Liebesgeschichte szenisch auszubauen, und sie nicht bloß nacherzählt in einem Kapitel zu erwähnen, sondern evtl in zwei, drei kurzen Szenen in die Geschichte einzuschieben, damit man als Leser auch das nachempfinden bzw. mitempfinden kann, weswegen die Prot ein solcher Schmerz plagt. Und - aber das ist jetzt meine eigene Fantasie - vllt findet sich da ja eine Gemeinsamkeit zwischen dem Herzschmerz der Prot, die sie zu Ferdinand treibt, und Ferdinand selbst, der in die Obdachlosigkeit gerutscht ist? Ein gemeinsames, geteiltes Leid, das beide verbindet und das beide somit überwinden können. Aber das ist meine eigene Interpretation, da will ich dir nicht reinreden.

Gerne gelesen jedenfalls
zigga

 

Hallo zigga,

tut mir voll leid, ich habe total verpeilt, dass du mir diesen tollen Kommentar hinterlassen hast ...

Ich würde den ersten Satz streichen. "die Einsamkeit ist am kältesten" - für mich klingt das schief. Ich weiß, was du damit sagen willst, was du damit erzeugen willst, aber kann Einsamkeit "kalt" sein?
Der Anfang wird ganz unterschiedlich aufgenommen. Mal sehr gut, mal eher weniger. Sowas zeigt mir immer, dass es tatsächlich Geschmackssache ist und wenn nicht alle mir sagen, Hör ma, das is kacke, dann bleibe ich gerne bei meinem Bauchgefühl. Und das sagt mir, dass dieser erste Satz stehen bleiben soll. Für mich klingt das nicht schief, sondern sehr passend, ich finde schon, dass man Einsamkeit mit Kälte vergleichen kann, vor allem eben mit innerer Kälte. Deshalb verzeih mir, wenn ich hier starrköpfig bin, aber das werde ich so lassen.

Ist sich beobachtet fühlen eine Antithese dazu, dass die Leute im Bahnhof für die Prot alle gleich aussehen?
Nein, stimmt, da habe ich im Kopf was gedacht, das ich aber nicht ausformuliert habe. Was ich meine, ist, dass sie manchmal das Gefühl hat, in der milchigen Masse zu verschwinden, und dann plötzlich fühlt sie sich beobachtet, als könne man ihr ihre Unzufriedenheit, ihre Trauer, ihren Schmerz, was auch immer, ansehen. Da muss ich noch mal ran, danke dir.

Was mir an der Szene wunderbar gefällt, ist, wie sie indirekt deine Prot charakterisiert, und zwar einerseits mit den Worten des Mannes, andererseits überlässt du aber hier mir als Leser einfach die Entscheidung, was ich von der Prot halten will, und wie ich sie sehen will. Du lässt die Szene irgendwie atmen und gibst ihr Raum
Vielen Dank, das freut mich sehr. Im letzten Jahr habe ich immer konzentrierter Geschichten mit viel Dialog geschrieben, damit ich das verbessere. Schön, dass es zu funktionieren scheint.

Ich mag Geschichten, in denen es um Bücher oder das Lesen geht, sehr gerne. Da hast du ein Stein bei mir im Brett.
:shy:

Über deine vorgeschlagenen Streichungen denke ich mal nach. Aber ich fühle jetzt schon, du könntest damit recht haben :D

Deine Vorschläge, wie ich die Geschichte noch ausbauen, bzw. an ihr rumschrauben könnte, sind toll und decken sich zum Großteil damit, was mir seit ich diese Geschichte geschrieben habe, im Kopf herum schwirrt. Ich spiele ja sogar mit dem Gedanken, das zu etwas Größerem, Richtung Roman, zu machen. Letztes Wochenende war ich mal wieder in Paris für drei Tage und hab mich komplett treiben lassen und über alles mögliche nachgedacht. Und da kamen auch wieder Ideen für diese Geschichte, die sich aber momentan noch nicht so recht ordnen lassen. Aber deine Vorschläge, also Ferdinand mehr Kontur zu geben und ihn eben nicht nur zum "Stichwortgeber" zu machen, und die kaputte Liebesgeschichte der Prot einzuschieben, finde ich sehr gut und werde sie im Hinterkopf behalten für den Zeitpunkt, wenn ich weiß, wohin ich mit der Geschichte will.

Danke dir!
Liebe Grüße
RinaWu

Hallo Ronja,

an dich auch ein großes SORRY, ich habe erst jetzt bemerkt, dass meine Geschichte noch mal kommentiert wurde, daher meine späte Antwort.

Über Ferdinand hätte ich gerne mehr erfahren. Du machst mich mit den Schlusssätzen neugierig auf seine Story.
Das ist toll und das verstehe ich. Ferdinand ist in der Geschichte zwar wichtig, er bringt etwas in der Protagonistin in Gang, weckt sie auf, aber er selbst wird von mir nur angedeutet, das stimmt. Wie ich oben schon zigga geschrieben habe, brodeln da gerade diverse Ideen in mir, die ich aber irgendwie nicht so recht ordnen kann. Dazu gehört aber, Ferdinand mehr Kontur zu geben, positive als auch negative. Mal sehen, ob ich mich sortiert bekomme ;)

Für einen dicken Menschen, der gerne Wodka trinkt, ist er sehr zagig auf den Beinen und Lena eine gescheite Frau, die normalerweise schnell reagiert.
Witzig, da habe ich noch gar nicht drüber nachgedacht. Denn Menschen mit dickem Bauch können trotzdem wendig sein, denke ich. Man nehme nur mal Kevin James, zum Beispiel. Aber ich weiß schon, was du meinst. Nur ist er ja nicht zwangsläufig dauerbesoffen und dann auch noch so sehr, dass er sich kaum auf den Beinen halten kann. Und ja, du hast schon recht, vielleicht schwingt da auch noch etwas anderes mit: Er reißt sich zusammen und haut schnell ab, damit sie das Buch auch behält, und sie wiederum zögert länger als gewöhnlich, weil sie unterbewusst das Buch behalten möchte ...? Könnte durchaus möglich sein.

Danke dir für deine Gedanken zu meinem Text.
Viele Grüße
RinaWu

 

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