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Büchergrube
In Bahnhofshallen ist die Einsamkeit am kältesten. Leute hetzen an mir vorbei, wir sehen uns an und sehen zu Boden, Atem schwebt neblig in der klirrenden Luft. Manchmal kommt’s mir so vor, als ob keiner von uns ein Gesicht hätte. Ich gehe an den Gleisen entlang und kann mich an niemanden erinnern, wenn ich die Halle verlassen habe. Wie ein milchiger Film, der sich über alles legt, jede Kontur verschwinden lässt. Doch manchmal, da fühle ich mich beobachtet. Da sehen sie mich plötzlich an, mein Inneres stülpt sich nach außen und jeder kann es sehen.
So wie dieser alte Kerl, der jeden Morgen vor dem Bahnhofsgebäude auf dem Boden sitzt. Er mustert mich, als ich aus der Halle komme und mir ’ne Kippe anzünde.
„Das sollten Sie nich machen.“
„Was?“
Er deutet auf die Kippe. „Is nich gut für den Täng.“ Neben ihm liegt eine halbleere Wodkaflasche.
Ich wende mich von ihm ab und gehe in Richtung U-Bahn.
„Warten Sie doch mal. Hee! Scheiße …“
Hinter mir raschelt und stöhnt es und ich drehe mich um. Der Typ zieht sich an einer Laterne nach oben und atmet schwer. Sein Pullover spannt über dem mächtigen Bauch, fast kann ich Stoff reißen hören. Ich gehe ein paar Schritte auf ihn zu, weil es aussieht, als würde er gleich umkippen. Er verheddert sich mit den Füßen in dem zusammengeknüllten Schlafsack, der am Boden liegt, schüttelt ihn ab und richtet sich auf. Erst jetzt sehe ich das Buch neben der Wodkaflasche. Der Alte bemerkt meinen Blick.
„Überrascht, hä?“
„Nein, ich …“
„Liest sich prima ohne Dach überm Kopf. Das hier …“, er zeigt auf das zerfledderte Exemplar von Winters Knochen, „… das les ich immer, wenn’s zapfig wird. Bringt mich in die richtige Stimmung.“
Sein Lachen klingt blechern.
„Aha.“
Er bückt sich und greift nach dem Buch. „Hier! Is genau das Richtige für Sie.“
Ich kapiere gar nichts.
„Jetzt nehmen Sie schon! Geben Sie’s mir wieder, wenn Sie durch sind.“ Er humpelt auf mich zu, drückt mir das Buch auf die Brust und kneift die Augen zusammen. „Sie sind viel zu traurig für Ihr Alter. Das geht mir mächtig auf den Geist.“
„Sie kennen mich überhaupt nicht!“ Ich trete einen Schritt zurück, halte ihm das Buch hin. „Danke, aber ich brauch das nicht.“
„Brauchen Sie wohl.“
Dann dreht er sich um, humpelt zurück zu seinem Schlafsack und ruft mir zu: „Ich bin entweder hier oder an der Reichenbachbrücke. Wenn Sie fertig sind …“
Ich sehe mich um, suche nach jemandem, der uns beobachtet, der mir erklären kann, was der Alte von mir will, was ich mit dem Buch anfangen soll, warum der Kerl überhaupt mit mir spricht, als würde er mich kennen. Aber die Leute laufen an uns vorbei, die Blicke auf irgendetwas in der Ferne gerichtet, auf etwas, dem sie entgegenstreben, etwas, das nichts zu tun hat mit dem grauen Himmel, der heute auf die Stadt drückt.
Der alte Typ hat sich wieder hingesetzt, lehnt an der Hauswand und hat die Augen geschlossen. Das Buch fühlt sich weich an. Und warm. Ich betrachte die weite Landschaft auf dem Cover. Das Feld und die Berge, über denen sich ein paar Sonnenstrahlen durch schwere Wolken kämpfen und alles in schmutziges Zwielicht tauchen.
Ich werfe einen letzten Blick auf den dösenden Mann vor mir, drehe mich um und gehe zur U-Bahn.
Draußen vor dem Fenster fallen winzige Flocken, langsam tänzeln sie zu Boden. Ich beschließe, das Buch im Schnee zu lesen. Ich will die Kälte auf der Haut spüren, während ich umblättere. Keine Ahnung, was los ist, ich denke nicht nach. Ich stehe auf, packe mich dick ein und stiefle in den Westpark.
Es gibt dort einen kleinen See, an dessen Ufer ein Bauwagen steht, aus dem Studenten Tee und Kaffee verkaufen. Um den Wagen herum haben sie Holzpaletten unter Bäume und gusseiserne runde Tische mit Klappstühlen ans Wasser gestellt.
„Warte mal“, ruft mir der Typ hinterher, bei dem ich gerade den Kaffee geholt habe. Unter seinem Arm klemmen zwei Wolldecken. „Is ganz schön kalt heute, vielleicht solltest du ...“
„Danke.“ Unsere Blicke treffen sich, als ich nach den Decken greife, in seinen grünen Augen blitzt etwas auf, Neugier vielleicht oder ein Lächeln, aber ich schaue schnell wieder zu Boden und gehe an ihm vorbei auf den See zu. Ich setze mich mit meiner dampfenden Tasse auf eine der Paletten, lehne mich an den Baumstamm und schlage das Buch auf. Die Seiten riechen nach altem Papier und ganz leicht nach Lagerfeuer.
Ich folge Ree, die sich mit unbändigem Willen durch die Geschichte schlägt. Ich bin direkt hinter ihr, höre den Schnee knarzen, durch den sie stapft, und fühle ihre Wut. Ich sitze mit ihr im Wald, beobachte die vom Schnee schweren Äste, die fast den Boden berühren und höre das Meeresrauschen, das aus den Kopfhörern kommt, die sie aufhat. Die Zeit löst sich auf, der Raum zwischen uns verschwimmt. Irgendwann nippe ich am Kaffee und verschlucke mich, weil er arschkalt ist. Zwei Enten fliegen über den See, ihr Flügelschlag durchbricht die Stille, die mich umgibt. Sie landen auf dem Wasser und schwimmen langsam davon.
Auf der anderen Seite steht eine junge Frau am Ufer. Sie hat die Hände in den Taschen eines grauen unförmigen Mantels vergraben, der trotz der Kälte offen an ihr herunterhängt. Darunter blitzt ein Kleid hervor, das zu dünn aussieht für die eisige Luft. Die Stiefel sind klobig und reichen ihr fast bis zu den Knien. Ich reibe mir die Augen. Öffne sie wieder. Die Frau steht immer noch da. Ihre langen blonden Haare sind zerzaust, ein paar Strähnen bewegen sich im Wind.
Ree hebt die Hand und winkt mir zu. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, um sie herum wird es heller, für einen kurzen Moment spiegelt sich ihr Leuchten im glatten Wasser des Sees. Dann dreht sie sich um und verschwindet.
Ich betrachte das Buch, das geöffnet in meinem Schoß liegt. Der Schnee fällt nun dichter. Vereinzelte Flocken landen auf meinem Gesicht, kleine kalte Küsse, die auf der Haut schmelzen. Ich lehne mich zurück, hinter mir der Baum, unter mir die Holzpalette, die mich vom gefrorenen Boden trennt, vor mir der See, der aussieht wie der Himmel über Kopf. Ich verschwinde in diesem Wintermoment, still und ruhig.
„Is da Zucker drin?“, fragt er, als ich ihm den Kaffeebecher hinhalte.
„Ihnen auch ’n schönen guten Morgen.“
„Mit Zucker wär er besser!“
„Ist drin. Zwei Tütchen.“
Er prostet mir zu. „Na dann – guten Morgen.“
„Hier, Ihr Buch.“
„Das ging ja fix … Is sie nich großartig?“
„Wer?“
„Na, Ree!“
„Ja …“ Ich sehe sie vor mir, wie sie mir von der gegenüberliegenden Seite des Sees zuwinkt. „Ja, ist sie.“
„Kann man sich ne Scheibe von abschneiden, hä? Vor allem Sie.“
„Wieso denn jetzt wieder ich?“
„Sie laufen rum mit diesem Gesicht.“
„Was stimmt nicht mit meinem Gesicht?“
„Immer, wenn ich Sie morgens seh, dann schauen Sie so.“ Er zieht die Mundwinkel nach unten. „Kneifen den Mund zusammen. Lassen die Schultern hängen. Glotzen auf den Boden. Als ob’s da was zu sehen gäb.“
„Vielleicht bin ich einfach nur müde.“
„Nee, sind Sie nich!“
Ich atme tief ein. So langsam geht der Alte mir auf die Nerven. Aber weggehen kann ich auch nicht. „Und was bin ich dann?“
„’ne Lusche. Nich prinzipiell, aber gerade jetzt eben. Sie tragen ihr kaputtes Herz spazieren, passen immer schön auf, dass es weiter weh tut, weil Sie das als Entschuldigung nehmen können für alles, was Ihnen Angst macht.“
„Wow, wie philosophisch. Wusste gar nicht, dass wir uns so gut kennen.“
„Ja, ja, das haben Sie schon mal gesagt. Recht hab ich trotzdem.“
Eine Gruppe Geschäftsmänner, jeder einen Rollkoffer an der Hand, schiebt sich ratternd an uns vorbei.
„Überlegen Sie mal, was die durchmacht“, sagt er und trinkt schlürfend aus dem Becher.
„Das ist nur ’ne Geschichte.“
„Denkst du.“
„Ist doch so.“
„Ree gibt es wirklich!“
„Aha.“
„Da wird sie so dermaßen vom Leben verprügelt und steht trotzdem wieder auf. Heult sie deshalb? Nee. Die macht weiter. Jetzt erst recht. Mit dem Kopf voraus.“
„So wie Sie?“
Vor seinem Gesicht fährt ein Rollladen runter. Alles friert ein, seine Züge sehen plötzlich aus wie die einer Puppe.
„Tut mir leid, das war bescheuert.“ Ich hocke mich hin und suche seinen Blick. „Ich kapier nicht, was das hier soll?“
„Hat auch keiner gesagt, dass Sie das müssen.“
Wir starren uns an.
„Ich bin Lena.“
Er schnalzt mit der Zunge und nimmt schließlich meine Hand. „Ferdinand.“
„Freut mich.“
„Hm.“
Ich richte mich wieder auf und sehe auf die Uhr. „Ich muss jetzt los.“
„Das hier nimmst aber mit!“
Schon wieder ein Buch. Dünner diesmal. Wie ferngesteuert greife ich danach, nicke ihm zu und gehe.
Am Abend stehe ich zu Hause vor dem Spiegel und betrachte mich. Meine Haut ist blass, aber das ist sie immer im Winter. Vielleicht diesen Winter ein bisschen mehr. Weil er anders ist als die davor.
Toms Geruch steigt mir in die Nase. Ich spüre die Wärme unserer Umarmung, die uns wie Watte umschließt, bevor ich mich aus ihr löse und die Wohnung verlasse. Sehe mich, wie ich allein unterm Weihnachtsbaum sitze, jede meiner Bewegungen verfolgt von verstohlenen Blicken meiner Familie. Sie sagen, nun sei ja schon ein wenig Zeit ins Land gegangen. Und sehen mich dabei erwartungsvoll an. Mein Mund ist trocken, eine Wüste ohne Worte. Und da ist Wut. Scheiße, was nehmen sie sich raus, mir zu sagen, es sollte mir doch längst besser gehen!
Und plötzlich sehe ich sie im Spiegel hinter mir stehen.
Ree.
Sie steht nur da und sieht mich an. Ernst und regungslos. Keine Ahnung, warum, aber ich schäme mich vor ihr. Ich denke an ihre Geschichte und ich denke an meine und ich rede mir ein, ihre sei nicht echt, aber irgendwie ist sie es doch, und ich weiß, ich sollte endlich den Arsch hochkriegen.
Ich durchquere die Wohnung, setze mich ans Fenster und zünde mir ’ne Kippe an. Ich hab das öfter. Ich kenn das. Bücher haben diese Wirkung auf mich, sie verschlingen mich und spucken mich dann, mal mehr, mal weniger zerzaust, wieder aus. Aber das hier, das ist anders. Ferdinands Buch war anders. Und jetzt hab ich noch eins davon. Ich muss nicht hinschauen, um zu wissen, wo es liegt. Ich spüre, wie es auf mich wartet. Der Schaum der Tage steht auf dem Einband. Die vier Worte haben etwas Tröstliches.
Ich lese es immer kurz vorm Einschlafen. In völliger Stille und an der Grenze zwischen Wachsein und Traum. Ich wirble zwischen den Seiten umher, sehe mich verwirrt auf Jazz-Partys um, bei denen Menschen in Plattenspielern sitzen, stehe in Küchen, in denen Aale aus Wasserhähnen flutschen. Traurig sitze ich mit dem Liebespaar auf dem Bett, als die Seerose im Herzen der Heldin immer größer wird.
Nach jedem Kapitel schaue ich durch das Dachfenster in den Himmel. Manchmal sind dort Sterne, manchmal milchige Wolken, aus denen knisternd Schneeflocken auf die Scheibe fallen. Ich erinnere mich an uns, an dich und mich, und mein Herz verkrampft und wehrt sich, aber das macht nichts.
Ich ziehe den Reißverschluss meiner Jacke hoch und wickle den Schal enger um den Hals. Der Wind, der über die Reichenbachbrücke fegt, ist eisig. Aber Ferdinands Stammplatz vorm Hauptbahnhof war leer, also bin ich nun hier und suche nach ihm. Auf der anderen Seite der Brücke nehme ich die schmale Treppe hinunter zum Isarufer und biege in die Unterführung ab, in deren Windstille sich eines der Matratzenlager befindet. Ich laufe an den provisorischen Betten vorbei, in denen sich Fremde verkriechen, die mich nicht sehen wollen. Ich klammere mich an den Pizzakarton und fühle mich zum Kotzen. Wie ein beschissenes Arschloch, das den Blick für so vieles verloren hat.
„Hee! Lena! Hier rüber.“ Ferdinand steht am anderen Ende der Unterführung und winkt mir zu. Ein paar Köpfe erscheinen unter den Schlafsäcken, eine Frau mit kurzem grauen Haar reibt sich die Augen.
„Ferdinand, wer is’n das?“
„’ne Studentin von mir.“
„Die Uni will ich sehen, die dich einstellt …“
„Ruhe!“, schreit jemand hinter mir.
Ich schlängle mich an den Matratzen vorbei und lege den Pizzakarton auf Ferdinands Lager ab. „Studentin?“
Er winkt ab. „Is lange her.“
„Du hast unterrichtet?“
„Hm.“
„Ich hab Abendessen mitgebracht.“
„Brauchst nicht jedes Mal …“
„Mach ich aber.“
Er schnalzt wieder mit der Zunge. Dann setzt er sich und beginnt zu essen. Ich ziehe das Buch aus der Tasche und gebe es ihm.
„Hast du’s gelesen?“
„Zwei Mal sogar.“
„Und?“
Am Eingang der Unterführung fliegt eine Plastiktüte vorbei, raschelnd flüstert sie uns ein paar Worte zu, bis sie in einem Busch hängenbleibt.
„Was soll das alles?“
„Was denkst denn, was das soll?“
„Oh Mann …“
Er wischt sich einen dünnen Käsefaden vom Mund. „Hast ’ne gesunde Farbe im Gesicht.“
„Hab ich das?“
„Und schauen tust auch nicht mehr so griesgrämig.“
„Aha.“
Ferdinand klappt den Pizzakarton zu und stellt ihn zur Seite. Er sieht mich an und ich werde unruhig. Was mache ich hier eigentlich?
„Komm mal mit, ich zeig dir was.“
Bevor ich widersprechen kann, ist er auf den Beinen und läuft davon. Ich folge ihm schweigend. Nach ein paar Minuten erreichen wir die nächste Brücke und Ferdinand klettert vorsichtig die Böschung zur Isar hinunter. Ich hab’s aufgegeben, ihn zu fragen, was das soll. Unten am Pfeiler bleiben wir stehen. Er fängt an zu graben, bis eine rote Plastikfolie sichtbar wird. Für einen kurzen Moment hält er inne und sieht zu mir hoch.
„Jetzt wird’s mal Zeit für’n Klassiker. Scheinst recht gscheit zu sein.“
Ich grinse ihn an. „Sehr freundlich.“
Ferdinand schlägt die Folie zurück. Darunter kommt eine Grube zum Vorschein, in der sich Bücher stapeln. Er wühlt darin herum und reicht mir schließlich ein dünnes rotes. Es riecht erdig und feucht.
„Geschlossene Gesellschaft …“
„Das passt wie Arsch auf Eimer.“
„Wieso das denn?“
„Den hat der Vian nicht ausstehen können. Jetzt schau nicht so deppert. Boris Vian, das Buch, das du eben gelesen hast.“
„Klar, tschuldige.“
„Bissal konzentrieren musst dich schon.“
Ich fühle mich tatsächlich ein bisschen schlecht, packe das Buch in meine Tasche und deute auf die Grube. „Was versteckst du da drinnen denn noch?“
„Nix. Nur Bücher. Is sozusagen meine Privatbibliothek“, sagt er und richtet sich auf. Seine Augen strahlen, er strafft die Schultern und lächelt. Ich habe plötzlich das Bedürfnis, ihn zu umarmen.
„Ich hab das alles mit Folie abgedichtet, verstehst? Feucht werden die Bücher trotzdem, aber im Sommer trockne ich die dann immer, das geht ganz gut.“
Das Buch in der Tasche wiegt schwer. Ich suche nach etwas, das ich ihm sagen könnte, aber es gibt nichts, das in diesem Moment richtig klingen würde.
„Nicht schlecht, was?“
Ich nicke. „Sind das alles deine?“
„Freilich sind das meine. Hab ich damals mitgenommen. Als alles den Bach runterging.“
Er lässt den Blick über den Fluss schweifen, der sich schnaufend durch die Stadt schiebt. Ich stelle mich neben ihn. Vereinzelte Schneeflocken fallen auf uns herab. Wir wenden uns der Grube zu, decken die Bücher wieder mit der Folie ab, stopfen sie sorgfältig in die Ecken und Ritzen und bedecken dann alles mit Erde.
Auf dem Weg zurück frage ich ihn, wie es so weit gekommen ist.
„Nicht heute“, sagt er.
„Vielleicht beim nächsten Mal?“
„Vielleicht.“