Aus dem Fenster
Aus dem Fenster
Sakristij erwachte aus ihm zunächst unerfindlichen Gründen mitten in der Nacht.
Da er das Innere seines Schlafzimmers als heiß und stickig empfand, begab er sich zum Fenster. Er drehte den Griff, der aus dem spröde weiß gestrichenen Holzrahmen herausragte und schwang die knarrenden Fensterhälften auf. Da es bereits September war, war die Luft der Nacht kühl und scharf und erfrischte Sakristij eingehend, als er tief durchatmete. Sakristij genoss die Aussicht aus seinem Fenster und erlebte jene magische Stunde, die nur jenen gesegneten bekannt ist, die bereits um vier Uhr aufstehen, sowie jenen bejammernswerten, die – freiwillig oder nicht – um diese Zeit noch auf sind.
Sakristij lebte in diesem ganz besonderen Viertel der Stadt, in der arm und reich, alteingesessen und multikulturell auf einzigartige Weise kontrastierten. Der Kontrast wurde dadurch deutlich, dass die reichen Alteingesessenen in der einen Hälfte des Viertels lebten und die armen Multikulturellen in der anderen Hälfte. Die Alteingesessenen bewohnten, wenn keine Gründerstil-Gebäude, die den Krieg überstanden hatten, ehemalige Neubauten, die im Gegensatz zu den aktuellen Neubauten einigermaßen komfortabel und beneidenswert waren. Die Multikulturellen beschränkten sich in sozialer Genügsamkeit auf Platten- und Blockbauten.
Sakristij bewohnte eine Wohnung im zweiten Stock eines Altbaus, der an einer Spitzen Straßenecke stand, sodass er weite Teile der schmalen Hauptstraße der Viertelhälfte überblicken konnte und ebenfalls Einsicht in eine ganze Reihe Wohnungen und Häuser in der Umgebung hatte. Da Sakristij ein anständiger Mensch war, war an ihm in Kombination mit diesem Domizil ein Voyeur verloren gegangen. In dieser Nacht allerdings wurde er zu etwas ähnlichem: Einem Écouteur.
Als erstes hörte er etwas, das diese Erfahrung beinahe verkürzt hätte. Sakristij wusste, dass sich an sein Wohnhaus ein Gebäudekomplex in einer Jugendstil-Retrospektive anschloss, der eine Art Altenheim beherbergte. Was er nun hörte, war offenbar eine Pflegerin, die einen ihrer greisen Schützlinge schalt.
Die Stimme hatte einen leiernden und maulenden Tonfall und implizierte ein deutliches Bild einer Person: Die fragliche Frau war etwa Anfang bis Mitte dreißig. Hypothetische Körpergröße und Übergewicht weckten Assoziationen an einen Kleiderschrank, ein Eindruck, der durch die vermutlich kurzen, dunkelrot gefärbten Haare noch verstärkt wurde. Eine solche Person trug gerne Leggins und bedruckte T-Shirts. Auch war ihr zuzutrauen, dass sie trotz der Tonlage ihrer Stimme enthusiastisch Ausdrücke wie „Butter bei die Fische“ benutzte und auch vor dem Gebrauch der Redewendung „Da purzeln die Pfunde“ nicht zurückschreckte, wenn sie sich beim Power-Walking der Illusion zu erreichender Fitness hingab. Sakristij schauderte.
„Ich habe es ihnen gesagt. Ich habe es ihnen so oft gesagt. Nein, wir nehmen in der Nacht kein Buch aus dem Regal. Nein, das machen wir nicht. Und jetzt? Jetzt stehen wir wieder da und wir müssen das Regal wieder einräumen. Ich habe es so oft gesagt. Nein, das machen wir nicht.“ Die Stimme seufzte. „Ich habe es so oft gesagt.“
Die Antwort war ein krächzendes Murmeln, Wasser auf die Mühlen derer, die sich aus Angst vor dem eigenen Verfall gerne über alte Leute lustig machen.
„Ja, aber das geht nicht. Nicht in der Nacht. Sie brauchen doch ihren Schlaf, Frau Knebel. Nicht in der Nacht. So, jetzt aber Butter bei die Fische, das müssen wir aufräumen.“
Zu Sakristijs großer Erleichterung verstummte die Stimme vorerst. Trotzdem war ihm die Lust am Aus-dem-Fenster-Gucken vergangen. Da aber sah er ein junges Pärchen, das tuschelnd und kichernd die Straße hinauf kam und ein Haus betrat, das sich von Sakristij aus gesehen auf der rechten Straßenseite der Nebenstraße befand. Er sah, wie das Treppenhaus aufleuchtete und die Siluetten der jungen Leute die Treppen hinaufwanderten. Dann erstrahlte das Licht in einer Wohnung im dritten Stock, gedämpft durch bunte Vorhänge, sodass es aussah, als wenn man eine St Martins-Laterne betrachtete. Sakristij hörte wieder das helle kichern der jungen Frau und redete sich ein, gar nicht wissen zu wollen, was hinter den Fenstern vorging. Trotzdem konnte er ihre Stimmen hören. Die Frau sprach mit einer hellen und irgendwie vergnügt klingenden Stimme, der Mann ebenso.
„Hast du ein Kondom?“ fragte die Frau
„Nein. Du?“ fragte der Mann.
„Oh, Mann!“ Die Frau klang genervt.
„Entschuldige, Schatz.“
„Es ist doch immer das selbe.“
„Warum nimmst du nicht die Pille?“ fragte der Mann unschuldig.
„Ich? Warum sollte ich?“
„Das ist doch viel praktischer.“
„Für dich vielleicht.“
„Ohne Kondom ist es viel schöner.“
„Ich kriege Ausschlag von der Pille“, meinte die Frau trotzig.
Der Mann zögerte eine Sekunde. „Ich gehe eins holen“, sagte er.
„Beeil dich“, forderte die Frau.
Sakristij sah zu, wie das Treppenhaus wieder aufleuchtete und die schlanke Gestalt des Mannes die Treppen hinunterhastete. Der Bewohner der St Martins-Laterne huschte mit federnden Schritten aus der Haustür und schlug einen Kurs zum nahe gelegenen Restaurant ein, dessen Präservativ-Automat auf der Herrentoilette alle Straßenzüge im Umkreis von fünfhundert Metern vor einer Bevölkerungsexplosion bewahrte. Der Laternenbewohner wäre beinahe um seine letzte körperliche Liebeserfahrung gebracht worden, denn neben ihm zerschellte plötzlich eine hässliche Nippesfigur auf der Straße. Der Mann nahm sich nicht die Zeit, den Urheber des Anschlages zu ermitteln, sondern ließ sich von Amor und Eros weitertragen.
Ganz anders Sakristij. Neugierig reckte er den Hals und erkannte eine rauchende Gestalt, die an einem Balkongitter im ersten Stock eines Hauses auf der linken Seite der Hauptstraße lehnte. Die Gestalt warf in diesem Moment die Zigarette über die Brüstung und stemmte die Hände in die Hüften.
„Was soll denn das? Bist du verrückt geworden?“ brummte der Gemüsehändler. Jemand mit einer so volltönenden, aber durch einheimischen Dialekt und proletarische Routine undeutlichen Stimme musste einfach Gemüsehändler sein, fand Sakristij.
„Du kommst jetzt sofort wieder hier rein“, kreischte seine Frau. Sie trug wahrscheinlich Lockenwickler und einen kleingeblümten Bademantel, der gerne ein Negligee wäre. „Ich hol mir noch eine Erkältung in der Kälte!“
„Geh doch einfach wieder ins Bett, Annemarie.“
„Geh DU ins Bett. Ich hab’s satt, dich jeden Morgen um vier auf dem Balkon rauchen zu sehen!“
„Geh du ins Bett“, konterte der Gemüsehändler, „dann brauchst du mich nicht rauchen zu sehen!“
„Komm mir nicht mit Wortklaubereien“, heulte seine Gattin. „Ach, wenn ich doch nur auf meine arme Mutter selig gehört hätte, die hat mich vor dir gewarnt! Annemarie, hat sie gesagt, dieser Gemüsehändler ist ein ganz frecher Bursche!“
Man konnte den Gemüsehändler (Sakristij klopfte sich geistig selbst auf die Schulter) deutlich verwirrt zwinkern hören. Er fragte: „Was?“
„Und jetzt stell dich nicht dumm“, fauchte seine Frau, unrettbar in den Stromschnellen eines Ehekrachs treibend.
„Annemarie...?“ begann der Gemüsehändler.
„Ich rackere mich hier Tag für Tag ab, koche dir dein Essen, bügle deine Socken und kaufe dir dein Bier und wie dankst du es mir? Indem du mich verspottest und um vier Uhr morgens faul auf dem Balkon rumstehst und deine ekligen Glimmstängeln paffst!“
„Annemarie, ich stehe um vier Uhr morgens hier und rauche, weil ich gleich zum Großmarkt fahren muss und die Ware abholen, die ich bis heute Abend um acht Uhr auf dem Markt verkaufen muss und deren Restbestände ich dann zu meinem Abnehmer auf dem Mühringshof bringen muss, von dem ich vor dreiundzwanzig Uhr nicht zurückkommen werde!“
„...legst die Füße hoch und guckst mir beim Schuften zu und guckst dir in der Glotze die ganzen Weiber an, du Schuft...“
„Annemarie!“ schrie der Gemüsehändler. „Was du da sagst, ergibt absolut keinen Sinn!“
Eine weitere Nippesfigur segelte dicht an dem Gemüsehändler vorbei und zersplitterte in einer Chrysantheme aus Scherben auf dem Asphalt. Daraufhin hörte man das Knallen einer Tür. Der Gemüsehändler seufzte und steckte sich eine neue Zigarette an.
Sakristij musste ein Kichern unterdrücken, doch da hörte er wieder die unangenehme Stimme der Pflegerin.
„Nein, Frau Knebel, nein Frau Knebel, ich habe es ihnen so oft gesagt! Die Nacht ist zum schlafen da, Frau Knebel. Nein, Frau Knebel, nein Frau Knebel. Morgen sind ihre Bücher auch noch da Frau Knebel.“
Krächz. Murmel.
„Natürlich, es sind ganz tolle Bücher Frau Knebel und auch wichtige Bücher, Frau Knebel. Aber jetzt legen wir uns erstmal hin, Frau Knebel. Ja, so ist’s ja ganz dufte, Frau Knebel. So, und jetzt Butter bei die Fische, jetzt nehmen wir mal unsere Tablette und schlafen, Frau Knebel.“
Krächz. Murmel.
„Nein, Frau Knebel, ihre Bücher können sie auch Morgen noch lesen. Ich habe es ihnen so oft gesagt, ich habe es ihnen so oft gesagt, Frau Knebel. In der Nacht wird geschlafen, Frau Knebel und nicht gelesen. Das machen wir nicht, nein, das machen wir nicht. Wo sind denn jetzt ihre Tabletten, Frau Knebel?“
Die Pflegerin verstummte gnädigerweise und Sakristij konnte seine Aufmerksam nun wieder dem jungen Mann widmen, der vom Restaurant zurückgespurtet kam. Sakristij hielt nach einer Packung Verhütungsmittel Ausschau und runzelte die Stirn, als er nichts derartiges identifizieren konnte. Der Laternenbewohner spurtete die goldgelb erleuchtete Treppe wieder hinauf. Kurz darauf wurde er von seiner ungeduldig wartenden Freundin begrüßt.
„Na, hast du welche bekommen?“
„Nein.“
„Was? Warum nicht?“
„Der Automat im Restaurant ist aufgebrochen worden. Da sind keine mehr drin.“
„Und bei der Apotheke?“ fragte die Laternenbewohnerin. Ihre Stimme zitterte.
(„Wir bleiben schön im Bett, Frau Knebel“, plärrte die Pflegerin, „wir stehen nicht auf. Das machen wir nicht, das machen wir nicht. Ich finde ihre Tabletten. Wo haben sie sie denn bloß hingetan?“)
„Die Apotheke hat jetzt zu“, antwortete der Laternenbewohner. „Wollen wir es ohne probieren?“
„Lieber nicht. Du weißt doch, wie das bei mir ist. Ich werde GANZ SICHER schwanger. Ich habe immer solches Pech. Und wenn das Kind erstmal da ist werden wir heiraten und uns verkrachen und uns scheiden lassen und das Kind wird Drogen nehmen und mit siebzehn bei einer Polizeirazzia erschossen. Dafür will ich nicht verantwortlich sein.“
Sakristij hörte ein schmatzendes Küssen. „Du hast recht, Schatz. Komm, wir suchen mal, ob wir noch irgendwo welche in den Schubladen haben.“
In der Laternenwohnung rumorte es, als das junge Pärchen begann, die Einrichtung auf den Kopf zu stellen. Sakristij bemerkte zwei Jugendliche, die die Hauptstraße entlang schlenderten. Die beiden wirkten von Kleidung und auftreten her wie ein interstellarer Komet, der sich in ein ruhiges kleines Sonnensystem verirrt hat und beiläufig den Gravitationshaushalt eines Asteroidengürtels durcheinander bringt, um ein paar vorsintflutliche Spezies auf den Planeten auszulöschen. Augenscheinlich kamen sie aus der anderen Hälfte des Stadtviertels.
„Ey, Alder, voll krass“, stellte der eine der beiden fest.
„Ey, Alder, der Aame“, erwiderte der andere.
„Ey, Alder, voll krass viele Kondome, Alder“, rühmte sich der eine.
„Ey, Alder, war voll konkret krasse Aktion, Alder“, resümierte der andere.
„Ey, Alder, Bullen ham voll konkret keine Peilung, Alder“, meinte der eine spöttisch.
„Ey, Alder, nich ma der Kellner hat uns gesehen, der Aame, Alder“, sagte der andere Stolz.
„Ey, Alder, wenn der Kondomautomat jetzt gefraggt ist, Alder, dann gibst hier in der Gegend voll konkret viele Babys, Alder, ich schwör!“
Der andere überlegte. „Ey, Alder... was laberst du, der Aame?!“
Der eine jonglierte mit Kondomschachteln, die er aus der Tasche seiner Daunenjacke klaubte. „Ey, Alder, was machen wir jetzt, Alder?“
„Ey, Alder, der Aame, Alder“, meinte der andere Kopfschüttelnd. „Gehen wir voll konkret Chayen checken, ich schwör!“
„Ey, Alder, krass, Alder!“ begeisterte sich der eine. Weltmännisch fügte er hinzu: „Gehen wir Farsin, Alder. Die ist voll die Bitch, Alder, ich schwör!“
„Alder, krass!“
Die beiden gerieten außer hörweite.
„Nein, Frau Knebel. Ich habe es ihnen so oft gesagt, Frau Knebel, ich habe es ihnen so oft gesagt“, mahnte die Pflegerin.
Ein Lieferwagen kam. Der Fahrer lud zu Paketen gepackte Zeitungen für den kommenden Tag ab und verbarg sie im Eingang des Friseurladens, der sich im Haus direkt unter Sakristij befand. Sakristij beobachtete den lustigen, rhythmischen Effekt, den die Beine des Lieferers direkt von Oben gesehen verursachten, während der Mann lief. Der Mann sprang wieder in den Wagen und fuhr fort.
Die junge Laternenbewohnerin meldete sich wieder zu Wort.
„Verdammt. Ich habe dir gesagt, du sollst welche kaufen!“
Der Laternenbewohner schüttelte seine Mürrischkeit ab. „Komm, Schatz, wenn wir uns gegenseitig die Schuld geben, bringt das nichts.
„Du hast recht Schatz. Entschuldige.“
Es folgten einige Sekunden Stille, die wahrscheinlich durch eine wortlose Zuneigungsbekundung gefüllt wurden. Dann fragte die Laternenbewohnerin: „Was machen wir jetzt, Schatz?“
Es ertönte das Geräusch angestrengten Überlegens. Schließlich schnippte der Laternenbewohner mit den Fingern. „Ich habs! Ich habe vorhin gegenüber noch Licht gesehen. Ich frage einfach mal da nach.“
„Schatz, bist du sicher...“ wandte die Laternenbewohnerin besorgt ein.
„Er ist sicher noch wach“, meinte der Laternenbewohner zuverlässig. „Und du weißt doch wie er ist. Er wird sicher nicht...“
„Ja, ich weiß, wie er ist.“ Die Frau klang beunruhigt.
„Ach“, lachte der Mann. „Er wird mir schon nichts tun.“
Das Licht im Treppenhaus ging wieder an und Sakristij sah gebannt zu, wie der Mann seine Laterne wieder verließ. Sakristij kniff die Augen zusammen. Tatsächlich erkannte er in den Fenstern der der Laterne gegenüberliegenden Wohnung einen vagen, flackernden Lichtschein, der wahrscheinlich von Kerzen verursacht wurde. Leise schallte das Geräusch einer Türklingel zu dem nächtlichen Zuhörer hinüber. Daraufhin erklang eine tiefe, überaus erotische Männerstimme. Sofort war klar, worum sich die Laternenbewohnerin Sorgen gemacht hatte. Ihr Nachbar kombinierte Homosexualität mit einem wahrscheinlichen Erscheinungsbild, das jeden noch so standhaften Hetero daran erinnerte, dass sexuelle Idealbilder rein subjektiv festgelegt werden. Zumindest die Stimme des Nachbarn ließ sofort die Überlegung keimen, dass Männer durchaus dazu fähig waren, Stimulanzen, die Frauen gefielen, nachzuvollziehen.
„Hal-LO“, sagte der Nachbar.
„Guten Morgen“, sagte der Laternenbewohner. „Ich hoffe, ich hab sie nicht geweckt.“
„Oh, ganz und gar nicht. Ich... wir waren noch wach.“
Einige Sekunden Stille. Der Laternenbewohner sprach etwas langsamer: „Oh. Gut. Äh. Ich wollte was fragen.“
„Wollen sie rein kommen? Wir haben noch etwas Kaviar da.“
„Nein. Danke. Wir... haben selber welchen, hehe.“
„Hehe.“
Im Haus gegenüber schloss der Gemüsehändler gerade die Haustür und wich gekonnt einem weiteren niveaulosen Keramikgeschoss aus. Annemarie knallte die Balkontür zu.
Der Laternenbewohner hatte begonnen, zu stottern. „Ich... wollte... f-fragen, ob sie uns ein p-paar... na ja... äh... hm... sie wissen schon...“ Die kurze Pause deutete auf ein verschwörerisches Umsehen hin. „...Gummis ausborgen k-können...?“
„Aber gerne doch“, meinte der Nachbar. „Wir haben jede Menge davon. Obwohl wir schon eine ganze Menge gebraucht haben. Nicht wahr?“
„Allerdings“, antwortete eine ähnliche Männerstimme.
„Hehe“, meinte der Laternenbewohner. „Es ist mir natürlich furchtbar unangenehm sie um diese Uhrzeit deswegen zu behelligen, aber im Restaurant ist der Automat aufgebrochen worden und...“
„Das macht doch rein gar nichts“, meinte der Nachbar. „Wie gesagt, wir haben hier jede Menge. Wenn sie was brauchen, kommen sie einfach zu uns rüber. Bringen sie ihre Freundin ruhig mit.“
Es herrschte schockierte Stille. Dann stammelte der Laternenbewohner: „Äh. Gern. Äh. Ich meine. Nein! Äh. Ich meine. Danke. Äh. Vielleicht ein anderes mal. Äh. Gute Nacht.“
„Viel Spaß“, wünschte der Nachbar und lachte neckisch. Sein Gast stimmte mit ein.
„Hehe“, sagte der Laternenbewohner mit hoher Stimme und hastete zurück in seine Wohnung.
„Und, hast du was gekriegt?“ fragte seine Freundin. Es kam keine Antwort. „Schatz?“
„Wie? Ja. Hier.“
„Ach, gut. Das ist aber sehr nett.“
„Ja.“
„Sind das etwa Magnum?“
„Und wenn schon. Komm jetzt.“
Das Licht in der St Martins-Laterne verlosch. Sakristij atmete tief durch und genoss die Ruhe. Da zersplitterte eine weitere Nippesfigur. Sakristij runzelte die Stirn.
„Nein, Frau Knebel. Sie können Morgen noch lesen. Und jetzt sagen sie mir, wo die Tabletten sind“, ließ sich die Pflegerin vernehmen. „Sie haben sie wieder versteckt, nicht war? Das ist ja gar nicht nett von ihnen, nein, nein. So was machen wir nicht, nein, so was machen wir nie, Frau Knebel. Wo haben sie denn ihre Tabletten versteckt?“
Krächz. Murmel.
„Frau Knebel...!“ Die Stimme klang ungeduldig. „Zum Allerletzten mal, wir lesen nicht Mitten in der Nacht! Legen sie sich wieder hin, sonst werde ich fuchsteufelswild!“
Sakristij starrte nachdenklich in die Dunkelheit. In der Wohnung des Gemüsehändlers knallten Türen. Gelegentlich flog ein hässliches Pseudokunstobjekt aus einem Fenster. Aus der St Martinslaterne erklang ab und an leises seufzen. Bei den Nachbarn schaltete jemand Samba Pa Ti ein. Auf der Straße ritt ein Mann auf einem Dromedar vorbei. Sakristij blinzelte. Ich sollte wieder ins Bett gehen, dachte er.
„Er ist ja ganz süß, dein Nachbar“, erklang es aus der Wohnung neben der Laterne.
Das Licht in der Laterne flimmerte plötzlich und ging, begleitet von einem Aufschrei der Frau, an.
„Du Idiot!“ schrie sie. „Jetzt ist das Ding geplatzt! Ich bin schwanger!“
Der Laternenbewohner klang verzweifelt. „Aber ich war doch noch gar nicht drin, Schatz!“
Annemarie warf mit Figuren. Die beiden Jugendlichen kraxelten über den Scherbenberg, der sich im Rinnstein angesammelt hatte.
„Ey, Alder, scheiß Farsin, ich schwör!“
„Krass, Alder! Guck dir konkret Sterne an. Voll krass schön, Alder!“
„Alder, der Aame! Bist du schwuloderwas?“
„Ey, Alder, genug Kondome haben wir, ich schwör!“
Der Dromedarreiter ritt die Straße in die andere Richtung entlang. Ein dürres, struppiges Geschöpf mühte sich damit ab, die Zeitungspakete zu öffnen und die Blätter in zwei Taschen an einem rostigen Fahrrad zu laden, wobei es vor sich hin fluchte. „Geht ins Bett, Leute, ihr macht einen ja ganz kirre!“ murrte es.
„Da sind ja ihre Tabletten, Frau Knebel“, schallte die Pflegerin. „In diesem Buch im Regal versteckt. Warum haben sie das nicht gleich gesagt?“
Sakristij schloss das Fenster wieder und drehte sich um. Er hatte vor, sich wieder ins Bett zu legen, aber daraus wurde nichts.
Er rutschte auf einer runden Amethystperle aus, die vormals zur Perlenkette seiner Freundin gehört hatte, welche der Freundin am Abend zuvor gerissen war und ihre funkelnde Substanz im ganzen Raum verstreut hatte. Sakristij knallte auf den Boden und verlor augenblicklich das Bewusstsein, was nach kurzer Zeit in tiefen Schlaf umschlug, der erst sechs Stunden später endete. Als er seiner Freundin, die sich beschwerte, dass es im Bett so kalt gewesen sei wegen des Mangels an a) Sakristij und b) geschlossenen Fenstern, am nächsten morgen von seinen Eindrücken in der Nacht erzählte, holte sie einen Eisbeutel und war drauf und dran, wegen einer schweren Gehirnerschütterung den Notarzt zu rufen. Sakristij konnte sie zwar davon abbringen, aber zumindest die Sache mit dem Dromedar glaubte sie nicht.