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Aufsatz
Mit aufgeschlagenem Heft sitze ich am Küchentisch, während meine Mutter das Geschirr vom Mittagessen abspült. Ich teile ihr mit, dass wir für Fräulein Tennenhalm einen Aufsatz über unser Weihnachten schreiben sollen. „Na, dann streng dich mal an“, sagt sie. Ich strenge mich sehr an, aber bisher steht da nur die Überschrift. Sie wirft einen Blick in mein Heft. „Bei Weihnachten kommt ein h vor dem n.“
Ich verbessere, schreibe einen Satz und trage ihn vor. „Weihnachten. Um vier oder fünf Uhr gingen wir, mein kleiner Bruder Stefan, Vater und ich, in die Kirche.“
Meine Mutter trocknet eine Tasse ab und guckt mir über die Schulter. „Wie schreibt man denn Kirche?“
„Nicht so?“
„Du hast Kirsche geschrieben, wie das Obst. Du musst Kirche mit ch schreiben. Kir-che, hörst du das nicht?“
Ich höre das nicht, aber ich will jetzt auch weiterkommen und deshalb verbessere ich einfach und mir fällt der nächste Satz ein. Ich lese vor: „Weihnachten. Um vier oder fünf Uhr gingen wir, mein kleiner Bruder Stefan, Vater und ich, in die Kirche. Dort fanden wir keinen Platz und mussten stehen.“
„Schön“, sagt meine Mutter.
Als ich mit dem nächsten Satz fertig bin, ist meine Mutter im Flur und holt den Staubsauger aus dem Kabäuschen. Ich gehe mit dem Heft zu ihr.
„Weihnachten. Um vier oder fünf Uhr gingen wir, mein kleiner Bruder Stefan, Vater und ich, in die Kirche. Dort fanden wir keinen Platz und mussten stehen. Als wir wieder zu Hause waren, sagte meine Mutter streng: Erst die Schuhe ausziehen!“
„Also, dass ich das jetzt so streng gesagt haben soll … “ Meine Mutter schmeißt den Staubsauger an.
„Höflich?“, schreie ich.
„Vielleicht: freundlich.“
Ich ändere den Satz und schreibe weiter. Meine Mutter saugt im Kinderzimmer.
„Hör mal!“, schreie ich. „Weihnachten! Um vier oder fünf Uhr gingen wir, mein kleiner Bruder Stefan, Vater und ich, in die Kirche! Dort fanden wir keinen Platz und mussten stehen! Als wir wieder zu Hause waren, sagte meine Mutter freundlich: Erst die Schuhe ausziehen! Im Wohnzimmer sah ich: ein Kochbuch, eine Riesenpuppe, ein blaues Nachthemd, ein Gebetbuch, die Biene Maja, und mein Bruder ein Kanu, Winnetou mit Zelt und Marterpfahl und einen Roboter!“
Jetzt klappert etwas im Staubsauger, vermutlich ein Legostein. Meine Mutter richtet sich stöhnend auf und stellt den Staubsauger ab. „Schön. Pass mal auf, es reicht, wenn du mir nur den Satz vorliest, den du als allerletztes geschrieben hast.“
Das finde ich nicht gut. Man muss das Ganze doch zusammen hören! Ich schaue zu, wie meine Mutter die Klappe vom Staubsauger aufmacht und seufze laut. „Jetzt fällt mir nichts mehr ein.“
„Ja, dann überleg mal. Schreib doch, dass der Stefan dir einen von seinen Schlümpfen geschenkt hat.“
„Den hab ich gar nicht mehr.“
„Aha.“ Sie pult in dem Beutel herum.
„Darf man eigentlich etwas zurückfordern, was man schon geschenkt hat?“, frage ich.
„Ha!“, ruft sie, "Ein Legostein!"
„Willst du wissen, worüber wir gestritten haben?“, frage ich.
„Nein. Setz dich doch wieder in die Küche, da kannst du viel besser nachdenken.“
Schon wieder muss ich über den Staubsaugerlärm schreien.
„Vielleicht könnte ich schreiben, dass der Papa sich nicht genug über den Bademantel gefreut hat!!!“
„Was? Nein!“
„Nein?!“
„Nein!“
Ich folge ihr durch den Flur ins Wohnzimmer. „Aber über die Capital hat er sich doch gefreut! Darf ich schreiben, dass der Papa den ganzen Heiligabend in der Capital gelesen hat?!“
Meine Mutter stellt den Staubsauger ab. „Ach, das ist für Fräulein Tennenhalm doch gar nicht interessant.“
„Und das mit Oma?“
„Auch nicht. Schreib doch, was schön war an Weihnachten. Zum Beispiel, dass wir eine tolle Krippe hatten. Krippe mit zwei p. Und wie schön wir gesungen haben.“
Wir hatten eine tolle Krippe und wir haben schön gesungen. Ich schreibe den Satz am Couchtisch, während meine Mutter wieder um mich herumsaugt. Dann schreie ich: „Willst du noch mal hören?!“
„Erst wenn du ganz fertig bist!“
„Jetzt bin ich ja fast fertig! Mir tut schon die Hand weh!“
Ein bisschen beleidigt gehe ich in die Küche, um ein gutes Ende zu finden. Ich überlege sehr lange. Ich denke daran, wie unser Weihnachtsbaum geleuchtet hat, mit roten Kugeln und Kerzen und den Strohsternen, die wir gebastelt haben. Und wie der Stefan mit den Tannennadeln an den Kerzen gekokelt hat, als wir gesungen haben. Sogar Papa hat mitgesungen, aber das mit dem Singen habe ich ja schon geschrieben.
Vor dem Küchenfenster wirbeln jetzt Schneeflocken, man wird ganz schwindelig, wenn man da länger hinguckt. In Wirklichkeit bestehen Schneeflocken aus Wasser, man erkennt das, wenn sie schmelzen. Papa sagt, nächstes Jahr Weihnachten wohnen wir schon in unserem eigenen Haus. Eigentlich finde ich es ganz schön in unserer Wohnung, aber im neuen Haus bekommen Stefan und ich jeder ein eigenes Zimmer. Dann gucke ich dort aus dem Fenster, wenn es schneit. Vielleicht würde ich lieber doch hier wohnen bleiben. Was schreib ich bloß?
Ich könnte einfach schreiben, dass der Baum abgebrannt wäre. Also, der Stefan hätte es mit dem Kokeln zu weit getrieben und wäre weggegangen, zum Beispiel aufs Klo. Dann hätte ich gesehen, dass der Baum brennt. Papa hätte nichts bemerkt, weil er in die Capital versunken gewesen wäre, und Mutti hätte in der Küche gerade den Kartoffelsalat abgeschmeckt. Ich würde Stefans Kanu aus dem Wassereimer fischen und schon mal das Gröbste löschen. Aber die Flammen würden wieder auflodern. Papa wäre immer noch versunken in die Capital und ich würde schreien: „Feuer! Alle raus hier! Folgt mir!“ Jetzt springt Papa auf, Mutti kommt aus der Küche gerannt, Stefan vom Klo und alle schreien durcheinander. Ich hingegen behalte als einzige die Ruhe und zeige ihnen den Weg zur Feuerleiter. Sie trauen sich nicht zu klettern, weil, es sind drei Stockwerke, aber die Flammen kommen schon näher und ich rufe: „Das ist unsere einzige Chance, sonst sind wir verloren! Ihr müsst an euch glauben!“ Gerade noch rechtzeitig klettern sie doch hinunter. Ich würde allen helfen und als Letzte gehen. Ach so, vorher hätte ich noch Paulchen mitgenommen. Dann würde ich blitzschnell die Leiter hinunterklettern. Zufällig stünden gerade unten Oma und Opa und hätten alles gesehen und Oma würde zu Mutti sagen: „Das war knapp. Beinahe wärt ihr alle gestorben. Du bist doch meine Lieblingsschwiegertochter von allen. Bitte verzeih mir!“ Und Papa würde zu mir sagen: „Ohne dich hätten wir es nicht geschafft. Das hätte ich dir niemals zugetraut! Sogar den dämlichen Hamster hast du gerettet!“
Mir wird ganz warm, wenn ich daran denke. Plötzlich fällt mir ein, dass da noch mehr Leute in unserem Haus wohnen. Vielleicht sollte man die Feuerwehr anrufen. Aber unser Telefon ist ja nun verbrannt. Jetzt wird es aber kompliziert. Außerdem glaubt Fräulein Tennenhalm mir das mit der Feuerleiter vielleicht nicht, weil ich mich neulich an der Sprossenwand so angestellt habe.
Meine Mutter ruft von drüben: „Wenn es weiter so schneit, können wir bald den Schlitten aus dem Keller holen!“
Also schreibe ich: „Wir spielten mit den Sachen und gingen ins Bett.“