Auf eine Partie Schach - ein biographisches Portrait
Als ich das erste Mal auf Anton traf, war er mit meinem Teamleiter in ein Gespräch verwickelt. Ich lauschte unbemerkt, worum es in dem Gespräch ging.
Anton musste sich einige Einwände gegenüber seiner Art, sich sozial zu verhalten, gefallen lassen.
Er würde die Menschen bedrängen und keine Rücksicht auf ihr Bedürfnis nehmen, ihren eigenen Gedanken ungestört nachzugehen.
Es schien, als verstünde Anton nicht die Worte des Teamleiters. Antons Augen leuchteten nicht verständig. Sie glänzten trübsinnig.
Er nickte nur mit dem Kopf, verschränkte abwehrend die Arme vor dem energischer sprechenden Teamleiter.
Heute sind seit dem Tag unseres ersten Aufeinandertreffens zwei Monate vergangen. Ich werde Anton beim Spielen im Schachclub der Schlosswache in Prinzregentenstadt wiedersehen. Die Schlosswache ist eine Kneipe, vor der sich ein weit ausladender Marktplatz erstreckt. Auf Stühlen im Biergarten geben sich Menschen vergnüglich alkoholischen Getränken hin. Der Marktplatz ist übersät mit Menschen, die auf dünnen Decken campieren. Fröhlich flanierende Freunde kreuzen kreisförmige kleine Gruppen auf den Decken und lassen sich dort nieder. Hinter den kleinen Menschengruppen erhebt sich majestätisch das Gebäude der Schlosswache.
Voller Bewunderung betrete ich die säulengeschmückte Treppe zum Kneipenflur.Ich öffne die Tür zum Schachclubraum und erspähe Anton, vertieft in eine Partie mit seinem Gegenüber.
„Hallo Anton!“
Er dreht spät und irritiert den Kopf in meine Richtung. Seine Augen blicken abwesend in meine. Einzelne graue Haarfäden stehen wie feine Antennen von seiner Glatze ab. Anton hat seinen Empfang noch nicht auf meine Sendefrequenz gedreht. „Hm, ach! Nun, ich spiele hier Schach. Konzentration, Konzentraaaation...!“
Der Schachclub-Vorsitzende tritt auf mich zu und hat eine kleine Kiste mit Schachfiguren in der Hand. Er fragt mich, ob ich spielen könne. Ich bejahe und spiele gegen drei Spieler, die das Schachspiel wie eine Kunst virtuos beherrschen. Schließlich ist Anton mein nächster Gegner. Die ersten drei Partien sind sehr erfolglos für mich verlaufen. Mein König ist immer schneller schachmatt gesetzt worden. Mich überfallen plötzlich Kopfschmerzen. Sie sind der Muskelkater des Schachsports. Mit Anton vereinbare ich, nach dem Spiel noch in der Kneipe Kuchen zu essen. Während des Schachspiels beginnt er, mich, seine sechswöchige Bezugsperson in der Kontaktstelle für psychisch beeinträchtigte Menschen, wieder zu erkennen. Seine Augen leuchten plötzlich auf und er lacht, als hätte er etwas oder jemanden neu entdeckt. Dann beginnt er, mit seiner tiefen Baritonstimme zu summen.
Damals in der Kontaktstelle griff ich einmal zur Gitarre und wir sangen zusammen mit Elisabeth, die sich offen zu ihrer schweren Depression bekannte, und mit Wiebke, die in der Kontaktstelle ihr soziales Jahr ableistete, Die Gedanken sind frei. Anton sang sehr kräftig, wie ein röhrender Hirsch zur Brunstzeit. Elisabeth und Wiebke erwiderten Antons leidenschaftliche Gesangseinlage und mein Gitarrenspiel - erst mit einem zärtlichen Blick, dann schwollen auch ihre Stimmen zu einem sanften Crescendo an. Neben dem Gesang erweckt das Schachspiel Antons Leidenschaft. Und wie seinem Gesang, so obliegt seinem Schachspiel etwas Aggressives. Es ist seine Aggression, seine Kraft zu sein auf dieser Welt, in der er seine Liebhabereien obsessiv verfolgt. Auf das Schachbrett mit ihren hölzernen Figuren richtet er seinen konzentrierten Blick. Die Figuren bewegen sich über seine Hand in einem System, in dem er die Abfolge der Züge festlegt. Die Schachfiguren sind ohne sein Zutun nur hölzerne Geschöpfe eines Schnitzers oder Auswurf einer Brettspielfabrik. Erst Anton haucht ihnen Leben ein, reizt ihre Möglichkeiten aus, manövriert sie über das karierte Feld und bestimmt ihren Daseinssinn in einer mehrteiligen Zugabfolge.
Anton spielt sehr martialisch, sehr kriegerisch gegen mich. Seine schließlich bis in meine letzte Reihe vorgedrungenen Bauern tauscht er en passant aus.
„Du spielst besser Schach, viel besser,...wirklich besser!“, sagt Anton und fügt seiner Bemerkung ein zufriedenes Räuspern hinzu.
„Ey, Ruhe, Anton. Kann mich nicht konzentrieren!“
Ein Schachspieler mit einer Seitenscheitelfrisur und einer Hornbrille empört sich kopfschüttelnd und greift angewidert nach seiner Flasche Bier. Nachdem er seinen Zug beendet hat, haut er mit voller Wucht auf den Pin seiner Zeitschaltuhr. Auffallend sind die Augen dieses Schachspielers. Sie schauen nicht, sie stieren. Aus diesen Augen schimmert etwas Zwanghaftes und Aggressives.
Antons hellblaue Augen stieren nicht. Sie spähen konzentriert auf die Schachwelt. Ihnen bleibt jedoch ein verträumter Glanz. Die Brillengläser vor den Augen sind sehr dick, groß und von der Berührung mit Fett aus den Hautporen beschmiert. Anton ist ansonsten nicht unreinlich. Er rasiert sich regelmäßig. Damals in der Kontaktstelle hat er einmal einen Hautriss unterhalb des Kinns gehabt. Ich fragte ihn, ob er sich mit seinem Rasiermesser geschnitten hätte. Er nickt mir, an der Fragestellung offensichtlich desinteressiert, widerwillig zu. Es gibt für Anton wichtigere Dinge als sein leibliches Befinden, die er mir mitteilen will.
Als Anton mit mir alleine an einem kerzenbeleuchteten Tisch im Erdgeschoss der Kneipe sitzt, schmeckt ihm der Apfelkuchen gut. Er schmatzt laut.
„Apfelkuchen für mich! Was ist mit dir?“
Ich schüttele den Kopf, erwidere, dass ich keinen Appetit habe.
„Komm, komm. Ich teile. Pass auf, so wird’ s gemacht. Ich gebe dir etwas ab!“
Anton ergreift die Kuchengabel. Mühsam versucht er, den frisch aufgetauten Kuchen zu teilen. Er unterbricht vorzeitig seinen Versuch und schiebt den Teller mit dem zerdrückten Kuchen in meine Richtung. Ich reiße mir sanft mit einer Serviette das zerquetschte Kuchenstück ab.
Schließlich frage ich ihn, ob er in einer Wohnung in Johannestal wohne.
„Wie,... was,... in Johannestal?“
Kein guter Anfang, denke ich. Er selbst sieht sich offenbar nicht als einen Menschen, der an ausufernden zwanghaften Gedanken leidet. Zwanghafte Gedanken, die in seinem Verhalten zum Ausdruck gebracht, ihn vor den Augen medizinischer Experten als einen Menschen mit einer psychischen Erkrankung abzeichnen. Vor den Augen vieler alltäglicher Laien erscheint Anton hingegen oft als lästiger Verrückter, der nur noch in sich ist. Vielleicht kann er als ein Gefangener seiner eigenen, fast nur abstrakt zugänglichen Welt verstanden werden.
Darum ergänze ich meine anfängliche Frage und erkundige mich, ob er in dem Stadtteil Johannestal von Prinzregentenstadt wohne und wie groß die Wohnung sei.
„In der Karamelstraße 24 neben dem Eukalyptusplatz wohne ich. Die Wohnung ist 55 Quadratmeter groß.“
Damit wohnt Anton sehr stadtnah. Auf dem Eukalyptusplatz kreuzen sich alle U-Bahn-Linien. Johannestal ist ein weit außerhalb angesiedelter Stadtteil.
Er ist ein Zufluchtsort für alle dem normierten Leben Entrückten und deren staatlich bezahlten Fürsorgern, den Haus-Müttern und -Vätern.
„So,...jetzt,...vorwärts, mit Attacke auf den Kuchen... und dann weiter zum Schach.“ Anton kaut. Ich schaue ihn an. Er blickt mich an, hält kurz inne, dann kaut er weiter. „Das ist ja ganz famos,... dass du... heute... hier... an diesem Ort bist.“
Er senkt den Blick und lacht kurz in sich hinein. Wenn Anton so redet, legt er zwischen den Worten häufig unterschiedlich lange Pausen ein. Er ist dann dieser Mensch, der nach besonders treffenden Ausdrücken sucht und seine Worte vor dem großen Auftritt sortiert.
Immer, wenn Anton die Kontaktstelle betrat, geschah dies mit großem Pomp und Getöse. Er sang im Hineingehen bis zum Flur ein Lied und begrüßte ihm vertraute Gesichter mit einem melodisch klingenden, lang gestreckten „Haal-loo“.
Anton hat mir bereits in einem früheren Gespräch in einem Imbissladen erzählt, er habe nach seinem Studium, erst der Geographie, dann der Pädagogik, eine Zeit lang als Grundschullehrer gearbeitet. Heute ist er 65 Jahre alt, alleinstehend und bewohnt ohne Mitbewohner, wie eben erfahren, eine 55 Quadratmeter große Wohnung. Aufgewachsen ist er in Rheinland-Pfalz, als Sohn eines Musiklehrers und einer Schauspielerin. Er hat eine Schwester, die noch in Rheinland-Pfalz wohnt. Drei Menschen in Johannestal, zu denen er regelmäßig Kontakt hält, hat Anton für mich aufgezählt.
Es sind Herr Sahne, sein ehemaliger Chef in einer Werkstatt für Behinderte, Herr Wohl, ein an den Sonntagen der Stiftung Johannestal vor den Behinderten predigender Pastor und Herr Doktor Igel, ein leitender Pastor.
Im vorherigen Gespräch erzählte Anton, dass er geplant hätte, eine Weltreise zu unternehmen. In der Kontaktstelle für Menschen mit psychischer Behinderung zeigte er mir Bildbände über Paris, Griechenland und Ägypten. Anton hat bereits auf hundert Seiten handschriftlich niedergeschrieben, was er auf unserer Erde noch entdecken will. Dazu verfasste er ein Flugblatt, das er an „Meine Lieben!“ richtete, jedoch an mich aushändigte. Mit „Meine Lieben!“ sollten sich offenbar alle angesprochen fühlen, die ihm in seinen Erzählungen über seine Mission, die Welt zu bereisen, zuhörten.
Sein Vorhaben sollte also auch mich betreffen.
„Herr Wohl und Herr Sahne werden mich auf meiner Reise begleiten. Sie sollen zusammen mit mir an herrlichen Jahren arbeiten, die die schönsten auf unserer Erde werden.“,
schrieb Anton auf sein Flugblatt und notierte für Nachfragen die Telefonnummern der beiden Angestellten der Johannestal-Stiftung auf das Flugblatt. Geld zur Finanzierung seiner Weltreise spielte für Anton hingegen keine Rolle. Als ich ihn einmal in der Kontaktstelle darauf ansprach, wischte er meine Bedenken beiseite.
„Das ist jetzt..., nicht... das Entscheidende. Komm, schließe dich meiner Mission an und... du wirst schon sehen! Du hast mir deine Teilnahme bereits versprochen. Am zwanzigsten März geht es los, zuerst zur Sendeanstalt nach Berlin, mit Pastor Wohl und Herrn Sahne, von da aus weiter,...hinaus in die Welt, um neue Positionen noch stärker werden zu lassen.“
Jetzt liegt das von Anton für den Antritt der Reise festgelegte Datum, der zwanzigste März 2009, längst hinter uns und Anton guckt sich nicht die Pyramiden in Ägypten an, sondern sitzt mit mir zusammen in einer kleinen dunklen Kneipe in Prinzregentenstadt. Das einzige, was ihn nun zu interessieren scheint, ist Schach. Hektisch schlingt er das Kuchenstück in sich hinein und einige Kuchenkrümmel fallen in sein gestreiftes Anzugshemd.
Seine blauen Augen schauen mich erwartungsvoll an. Ich versuche, ihm weitere Fragen über sein Reisevorhaben zu stellen, doch er blockt ab.
Ob ich noch eine Partie Schach mit ihm spiele, fragt Anton mich.
Ich stimme lustlos zu. Wir steigen die Treppen zum Schachclubraum hinauf.
Einer der Schachkollegen kommt uns entgegen. Er fingert an seinem Gummihelm herum, ein Schutz um den Kopf bei Epilepsie-Anfällen, vermute ich.
Plötzlich fragt er mich, ob ich Röntgen-Schach kenne. „Nein“, antworte ich.
Nach einer weiteren Partie mit Anton verabschiede ich mich.