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Auf der Straße nach Red Lake
Georg wirft sich den Rucksack über die Schulter und beugt sich zur Beifahrertür hinein. „Vielen Dank.“
Der Alte murmelt etwas Unverständliches und fährt los. Der Türgriff wird Georg aus der Hand gerissen und die Tür schwingt zurück und rastet ein, ohne ganz zu schließen. Der Pick-up des Alten schaukelt auf der mit Gras bewachsenen Schneise hin und her, biegt Äste beiseite, die quietschend über die Seitenfenster und die Türen zurückschnellen und verschwindet langsam zwischen den wackelnden Ästen. Die Äste schwingen noch ein wenig hin und her, das Quietschen wird leiser, das Grummeln des Motors verklingt, bis Georg in der Stille steht und auf den unbewegten Wald schaut.
Er lauscht und schaut. Kein Geräusch, keine Bewegung. Langsam geht er zwei Schritte rückwärts, dann dreht er sich um.
Die Fahrspuren des Pick-ups bilden im Gras zwei dunkle, zur Straße führende Linien. Der Tau im Gras glitzert in der Morgensonne. Georg schaut sich nicht um. In einer der Fahrspuren geht er die wenigen Schritte zur Straße. Dort legt er den Rucksack in den Schotter des Seitenstreifens. Es ist noch früh am Tag. Er braucht sich keine Sorgen zu machen. Bis zum Abend wird ihn jemand mitnehmen.
Die Straße liegt in beiden Richtungen wie ein durch die Wälder geschossenes Band, das sich hebt und senkt, bis es hinter Bodenwellen verschwindet.
Er setzt sich auf seinen Rucksack.
Kein Vogel ist zu hören, nichts.
Nach ein paar Minuten grollt in der Ferne das Geräusch eines Motors. Das Auto ist die einzige sichtbare Bewegung. Es braust an Georg vorbei und er dreht das Gesicht weg und birgt es in der Beuge seines Armes, um nicht den Dreck in die Augen zu bekommen und nicht zu sehen, wie er angestarrt wird.
Als er wieder aufschaut, nähert sich ihm ein Auto aus der anderen Richtung. Er hat es nicht gehört. Er springt auf und hebt gleichzeitig seinen Arm mit dem hinausgestreckten Daumen.
In der nächsten Stunde fahren drei Autos vorbei.
Dann taucht in der Ferne ein Punkt auf. Der Punkt nähert sich und Georg erkennt einen Pick-up. Die Windschutzscheibe ist dreckig und reflektiert so stark, dass er nichts dahinter erkennen kann. Georg versucht, gleichmütig und freundlich zu schauen.
Hinter dem Rauschen der Räder hört er das Dröhnen des Motors. Dann wird der Motor leiser, der Pick-up fährt langsam an ihm vorbei, und Georg sieht zwei Männergesichter. Wenige Meter weiter halten sie an. Georg nimmt den Rucksack und läuft auf das mit blubberndem Motor wartende Fahrzeug zu. Fast hat er die Beifahrertür erreicht, als das Blubbern des Motors in ein tiefes Dröhnen übergeht und der Pick-up anfährt. Georg wirft den Rucksack auf den Boden und reißt den Arm nach oben, besinnt sich im letzten Moment, zieht den Mittelfinger wieder ein und fährt sich heftig mit der Hand durch die Haare.
Der Pick-up stoppt wieder und Georg fühlt, wie sich sein Magen zusammenzieht. Ein kleiner kräftiger Mann steigt auf der Beifahrerseite aus. Er winkt Georg. „War nicht so gemeint, komm, wir nehmen dich mit.“
Georg zögert, nimmt dann seinen Rucksack und geht langsam auf das Fahrzeug zu. Unter dem Dreck kann er kaum das stark verblichene Orange des Lackes erkennen. Rost hat die Kanten der Radkästen in Sägen verwandelt.
„Lester hat manchmal einen nervösen Fuß und einen seltsamen Humor. Mach dir nichts draus.“
Der Mann trägt ein rotkariertes Baumwollhemd, schmutzige Jeans und eine dreckige weiße Kappe.
„Hi, ich heiße Roy. Nichts für ungut, Kumpel.“
Sie schütteln die Hände. Roys Hand ist klein, sehr kräftig und rau.
„Ich heiße Georg.“ Er spricht den Namen amerikanisch aus.
„Werf deinen Rucksack hinten drauf.“ Roy geht zur Ladefläche und schiebt eine Schippe, eine Spitzhacke und eine Kettensäge etwas zur Seite. „Wir haben genug Platz.“
Georg rückt die ölverschmierte Säge noch ein Stück weiter weg, legt dann seinen Rucksack auf die Ladefläche und zieht einen Abfallsack zwischen die Säge und den Rucksack. „Ist alles, was ich hab. “ Er tritt an den Straßenrand, zieht die Innenfläche seiner schmutzigen Hand mehrmals über einen Grasbüschel und geht zur Beifahrertür.
Lester ist Indianer. Seine langen schwarzen Haare hängen unter einem schwarzen Baseball Cap hervor. „Chuck’s the Best f… the Rest.“ steht darauf.
Georg klettert zwischen den Sitzen nach hinten. Dort ist eine Sitzbank ohne Fußraum. Er streckt die Beine auf der Bank aus und lehnt sich mit dem Rücken gegen ein kleines Seitenfenster.
Sie fahren los.
Roy dreht sich zu ihm. „Was zum Teufel machst du in dieser gottverlassenen Gegend?“
Georg lacht kurz durch die Nase. „Das war nicht so geplant. Heute früh bin ich in Kenora gestartet und habe mich gefreut, weil mich gleich jemand mitgenommen hat. Ein alter Mann, den konnte ich kaum verstehen, so hat der gemurmelt. Auf jeden Fall hat er genickt, als ich ihn gefragt habe, ob er nach Red Lake fährt. Tja, und dann ist er hier in den Wald eingebogen und das wars dann. Hab schon gedacht, ich muss hier übernachten.“
„Und in Red Lake? Da ist doch auch nichts los. Eine verdammte Sackgasse ist das hier. Hinter Red Lake kommt nichts mehr bis zum Polarkreis. Mann, du bist doch auf Reisen, da geht man doch nicht nach Red Lake. Freiwillig würde mich da keiner hinkriegen. Was willst du denn da?“
„Morgen fliege ich von dort in die Sandy Lake Reservation.“
„Du siehst nicht aus wie ein verdammter Wilder, oder Lester, was meinst du?“ Er lacht und boxt Lester an den Oberarm. Lester lächelt. „Oder bist du ein Missionar, oder was? Wo kommst du eigentlich her?“
„Aus Deutschland.“
„Deutschland! Bierre zeehr gutt. Verstehst du mich?
„Ja, klar.“
„Ein Kumpel von mir war letztes Jahr in Deutschland. Da war gerade dieses Flugzeugunglück.“
„Rammstein.“
„Ja, genau Mann. Echt krass, die Leute sind da rumgerannt wie die Fackeln.“
„War dein Kumpel dabei?“
„Nein, Mann. Im Fernsehen hab ich’s gesehen. Mein Kumpel hat erzählt, die Deutschen wären nicht mehr so wie früher, so tough, wären heute eher so Weicheier. Stimmt das, Georg, bist du ein Weichei?“
„Keine Ahnung. Kommt darauf an.“
„Na, ein Mann der klaren Worte biste schon mal nicht. Mein Vater war im Krieg. Hat gegen die Deutschen gekämpft. Die haben gekämpft wie die Teufel, hat er gesagt. Die besten Soldaten, die er jemals gesehen hat. War dein Vater auch so ein guter Soldat?“
„Mein Vater war zu jung. Bei Kriegsende war er erst zwölf.“
„Und deine Großväter?“
„Sind beide im Krieg gefallen.“
„Respekt, Mann.“ Er wendet sich zu Lester und boxt ihn auf den Oberarm. „Wie deine Vorfahren, Lester. Harte Krieger, da wird nicht viel geredet, da wird gekämpft und gestorben und dann können die Enkel so nebenbei sagen ‚Meine Großväter sind beide im Kampf gestorben‘, krass.
Unser Lester ist nicht so ein Ojibwe hier aus der Gegend. Die haben hier doch nur die Rinde von den Bäumen gefressen und sind im Winter wie die Fliegen gestorben. Die waren doch froh, als die Weißen kamen und sie endlich was zu beißen hatten.
Lester ist Mohawk. Das waren die ganz harten Jungs. Sind immer noch hart. Wir sind hier in Feindesland, was Lester? Wenn die Ojibwe dich hier kriegen, dann Gnade dir Gott.“ Er lacht und klopft sich auf den Oberschenkel.
„Ja, und Sandy Lake? Da gibt’s doch nur Indianer. Was willst du denn da?“
„Weiter nach Keewaywin. Dort arbeite ich in einem internationalen Projekt. Wir bauen Häuser für die Indianer.“
„Lester, hör dir das an. Da kommt dieser Georg aus Deutschland, um deinen Leuten Häuser zu bauen. Ich versteh die Welt nicht mehr. Indianer müsste man sein. Da kriegt man alles in den Arsch gesteckt: Haus, Krankenversicherung, nur um eine Muschi muss man sich noch selber kümmern und wenn man die ganze Nacht gepimpert hat, kann man am Morgen ausschlafen und den ganzen Tag fischen gehen und wenn man dann nach Hause kommt, hat Georg einem das Haus repariert. Teufel noch mal, ich hätte Indianer werden sollen!“
„Nächstes Mal.“
„Hör dir das an Lester. Dieser Georg. Furzentrocken. ‚Nächstes Mal‘. Ich kann‘s nicht fassen.“ Er starrt vor sich hin. „Nächstes Mal.“ Er murmelt es immer wieder vor sich hin, schüttelt ab und zu den Kopf, schnaubt durch die Nase und scheint etwas sagen zu wollen, murmelt aber nur ‚nächstes Mal‘.
Georg zieht die Jacke aus, schiebt sie in den Winkel von Seitenwand und Sitzbank und streckt sich aus. Es ist fast bequem.
Durch das Seitenfenster sieht er die Telefonleitung fallen, ansteigen, ein Pfosten, fallen, ansteigen.
„Halt an, ich muss mal pissen.“
Georg schreckt aus seinem Schlummer.
Lester nimmt den Fuß vom Gas und der Pick-up rollt langsam aus.
Roy steigt aus und streckt sich. „Besser, du gehst auch, dann brauchen wir bis Red Lake nicht mehr zu halten.“
Georg klettert über den Beifahrersitz raus.
Lester steigt ebenfalls aus, streckt sich, geht über die Straße und pinkelt dort in den Graben. Georg hört seinen Strahl auf Wasser klatschen. Er sieht, wie gedrungen, aber kräftig Lester ist.
Roy springt an der anderen Straßenseite über den Graben und verschwindet zwischen den mehr als mannshohen Pappelschösslingen, die in einem Streifen die Straße säumen. Hinter diesem Streifen beginnt der Wald.
Georg folgt Roy über den Graben, hält sich dann aber weiter rechts.
Er versucht in hohem Bogen ein Pappelblatt zu treffen, als er hinter dem hin und her zuckenden Blatt eine Bewegung wahrnimmt. Er neigt den Kopf und sieht etwas Weißes sich bewegen. Er schüttelt sich ab, schließt seine Hose, tritt einen Schritt zur Seite und geht um die feuchten Blätter herum. Etwas Weißes bedeckt den Boden vor ihm. Kleine, rasche Bewegungen der Masse lassen ihn nicht erkennen, was es ist. Die Umrisse verschwimmen vor seinen Augen. Dann erkennt er es. Es sind Maden. Zwischen den kriechenden Maden sieht er den Stoff einer Jeans und ein rotkariertes Baumfällerhemd. Die Brust des Mannes hebt und senkt sich in kleinen Bewegungen, auch die Beine bewegen sich in der Jeans und dann sieht Georg das Gesicht. Die Augenhöhlen starren ihn mit weißen Klumpen an. Das Gesicht verzieht sich zu seltsamen Grimassen und dann versteht Georg, dass die Maden mit ihren heftigen Bewegungen in der Suche nach dem fettesten Bissen Fleisch, die Hülle der Leiche in einen Totentanz versetzen.
Georg sieht an sich hinab. Er steht auf einer Hand. Maden kriechen über seinen Schuh und haben die Hose erreicht. Er springt, wie von einer Feder katapultiert zurück, bricht zwischen den Pappelschösslingen hindurch, setzt über den Graben und stützt sich keuchend auf die Motorhaube. Heftig tritt er immer wieder gegen den Reifen. Dann bückt er sich und untersucht mit spitzen Fingern den Schlag der Hose und die Schuhe. Im Profil eines Schuhes klebt das Hinterteil einer halbzerquetschten Made, deren Vorderteil zuckend versucht, die Schuhsohle hinauf zu kriechen.
Georg jault auf und zieht den Schuh mit der Kante über den Asphalt. Dann streift er ihn mehrmals am Straßenrand an einem Grasbüschel ab. Als er unter den Schuh schaut, hängt dort noch immer das Hinterteil der Made. Er läuft ein paar Meter die Straße entlang, bis er einen kleinen Zweig findet, mit dem er die Reste der Made entfernt.
Roy ist in der Zwischenzeit zurückgekehrt und beobachtet ihn. „Alles klar bei dir? Das hier ist ein Nutzfahrzeug und kein buddhistischer Tempel. Mach mal nicht so ein Geschiss wegen dem bisschen Dreck am Schuh.“
Georg steht mit auf den Knien gestützten Händen, keuchend vor Roy. Roy tritt mehrmals gegen den Reifen. „Scheiß Dreck da drinne. Ein verfluchter Sumpf überall.“ Seine Stiefel sind bis zu den Knöcheln matschig. „Hast du ein Gespenst gesehen oder was? Wie siehst du denn aus, Mann?“
„Da liegt ein toter Mann.“
„Das kommt vor.“
„Im Ernst.“
Lester sitzt in der offenen Fahrertür, die Unterarme auf die Knie gestützt und raucht. Er dreht sich um und sieht Georg durch die Windschutzscheibe an. Georg sieht nur das Spiegeln des Lichts in der Scheibe. Lester bläst schnaufend Rauch aus der Nase und tippt die Asche.
Roy hört auf, die Schuhe abzuklopfen und sieht Georg mit zusammengekniffenen Augen an.
Roy stößt sich vom Auto ab. „ Das wollen wir uns doch mal ansehen.“ Er springt über den Graben und verschwindet in den Büschen.
Lester schnippt die Kippe weit in die Straße. Die Kippe hüpft und tanzt, bis sie einen Bogen rollt und sich im Schotter der anderen Straßenseite verfängt. Sie raucht noch, als Roy zurückkommt.
Roy reibt seinen Oberarm. „Mann, versuchst du immer in die Wipfel zu pissen? Gut, dass ich es nicht in die Fresse gekriegt habe.
Los, auf, rein ins Auto. Der hat genug Gesellschaft.“
Sie fahren weiter.
Georg starrt aus dem Seitenfenster. Die Telefonleitung fällt und steigt an, aber er sieht es nicht.
Lester sitzt zurückgelehnt und hält das Lenkrad am niedrigsten Punkt, die Daumen nach innen.
Roy hat die Füße auf das Armaturenbrett gelegt und tappt mit der Sohle an die Frontscheibe. Er blinzelt rasch und häufig und dreht den Kopf mit kleinen, schnellen Bewegungen hin und her. Dann wendet er sich zu Lester und grinst: „Hey Georg, das war bestimmt so ein Hitchhiker.“ Roy schlägt Lester auf die Schulter. „Hey Lester, wie oft soll ich dir noch sagen, du sollst die Jungs ein bisschen weiter in die Büsche schmeißen?“ Lester lacht lautlos und sieht geradeaus. Roy dreht sich zu Georg. Georg lächelt und sagt: „Vielleicht war’s auch jemand, der einen Hitchhiker mitgenommen hat.“
„Hast du das gehört Lester?“ Roy haut mit der flachen Hand auf das Armaturenbrett. „Dieser Georg, eiskalt. Gut, dass du fährst, da erledigt er mich zuerst. Du musst ihn dann irgendwohin fahren, wo er dich so lange in den Arsch fickt, bis du mit deinen Hämorrhoiden Stepp tanzen kannst.“ Er wiehert und schlägt wieder auf das Armaturenbrett.
Dann wird er still, setzt sich auf und öffnet das Handschuhfach. Er dreht sich um und hält Georg den Lauf eines Revolvers ins Gesicht. „Na, da war ich wohl ein bisschen schneller.“
Georg hebt die Hände. Roy beginnt zu lachen. „Hey Mann, verstehst du keinen Spaß?“ Er hält Georg den Revolver am Lauf hin. „Mann, die ist doch nicht geladen. Hier!“ Er hebt den Revolver leicht an, doch Georg nimmt ihn nicht.
„Das war sehr komisch, Roy.“
Roy legt den Revolver zurück in das Handschuhfach. „Die Jugend von heute versteht einfach keinen Spaß mehr, was Lester? Bei uns früher hätten wir dich erst erschossen und dann geguckt, ob du noch lachst.“ Er kichert noch eine Weile in sich hinein.
Es ist Nachmittag, als sie in Red Lake einfahren. Georg richtet sich auf und schaut nach vorne auf die Straße. Roy wacht auf. Er sieht zu Seite hinaus. „Hier sieht es so verdammt langweilig aus wie immer.“
„Wisst ihr, wo das Budget Inn ist?“
„Klar, sollen wir dich da rauslassen?“
„Das wäre nett.“
„Ist gleich hier vorne rechts.“
Lester fährt an die Seite. Roy und Georg steigen aus. Georg beugt sich zur Tür rein. "Schönen Dank.“
Lester lächelt und klopft mit beiden Handflächen auf das Lenkrad.
Georg schwingt sich den Rucksack auf die Schulter. Roy steht gegen die Tür gelehnt. „Ist ganz schön schwer, was?“
„Man gewöhnt sich dran mit der Zeit.“ Georg streckt die Hand aus. „Danke fürs Mitnehmen.“
„Kein Problem. Wir hatten ja auch jede Menge Spaß, oder?“ Er schüttelt Georg die Hand. „Pass auf dich auf. Es gibt Leute, die verstehen keinen Spaß.“ Er steigt ins Auto. Als sie losfahren, schlägt Georg zweimal aufs Autodach und hebt die Hand. Roy schaut ihn im Rückspiegel an und hebt seinen aus dem Fenster hängenden Unterarm. Lester hupt kurz. An der nächsten Kreuzung biegen sie ab und verschwinden.
Georg dreht sich um und geht die Stufen hinauf.
Als Georg die Dusche ausstellt, hört er Stimmen im Zimmer. Worte kann er nicht verstehen, aber an dem Klang und dem Singsang der leisen Unterhaltung erkennt er die Sprecher als Schweizer. Dann geht die Tür und es ist still. Er wickelt sich ein Handtuch um die Hüften und geht vom Bad in das Zimmer.
Auf einem der vier Betten sitzt ein junger Mann und liest in einem Reiseführer.
Der junge Mann blickt ihn an.
„Hi“, am Ende des Wortes zieht er die Stimme in die Höhe.
„Hallo. Ich heiße Georg“, sagt er auf Deutsch.
„Ich heiße Jasper.“
Er gibt Jasper die Hand und hält mit der linken das Handtuch fest. Dann dreht er sich um und sucht frische Kleidung aus seinem Rucksack.
Jasper blättert im Reiseführer: „Bist du auch zum Goldsuchen hier?“
„Nein.“
„Nein? Was kann man denn sonst hier machen?“
Georg erzählt seine Geschichte. Nebenbei sortiert er die auf dem Bett ausgebreitete Wäsche.
„Du bist schon ein Jahr von zu Hause weg und willst noch länger weg bleiben? Das würde ich nie machen.“
„Warum nicht?“
„Überleg doch mal, was du da bei deiner Rente verlierst.“
Georg dreht sich um und schaut Jasper an.
Jasper rutscht kurz mit dem Hintern auf dem Bett etwas zur Seite und wieder zurück. „Was?“
Georg zögert, dann sagt er langsam: „Da hast du natürlich Recht.“
Jaspers Gesicht hellt sich auf und er beugt sich vor. „Schau, jetzt habe ich meine Matura, bis zum Studienanfang im Oktober habe ich noch zwei Monate Zeit, um Abenteuer zu erleben und dann kann ich gleich mit dem Studium anfangen.“
„Du konzentrierst dich auf die wichtigen Dinge im Leben?“
„Ja, genau. Hast du denn schon irgendwelche Abenteuer erlebt?“
„Bisher nicht.“
„Das gibt es doch nicht.“ Jasper springt auf und breitet die Arme zu den Seiten aus. „Du warst ein Jahr in der Wildnis und hast nichts erlebt?“
„Ich wünsche dir und deinem Kumpel viel Glück beim Goldsuchen.“
Georg geht ins Badezimmer, zieht sich an, nimmt seine Jacke und zieht die Tür rasch hinter sich zu. Im Gang atmet er mehrmals tief ein und aus. Plötzlich fühlt er, wie angespannt er ist. In seinem Kopf sind vibrierende Stahlseile von einer Seite des Schädels zur anderen gespannt. Gleichzeitig hat er das Bedürfnis nach einem Schnaps. Das hatte er noch nie.
Er biegt um eine Straßenecke und sieht direkt vor sich die Sonne im See versinken. Am anderen Ufer des Sees steht ein Hochspannungsmast im flimmernden Orange der eintauchenden Sonne und es sieht aus, als reiße die Sonne den Mast um. Georg sieht zu, bis die Sonne nicht mehr zuckt, und geht dann die plötzlich sehr graue und triste Hauptstraße entlang.
Der Türsteher wirft nur einen Blick auf ihn und macht sich nicht die Mühe anzupreisen, sondern hält ihm die Tür auf: „Einen wunderschönen Abend wünsche ich dem Herren!“
„Werde ich haben, mein Freund, werde ich haben.“
Als er eine zweite Tür aufstößt zu der rauchigen Dämmerung dieser Höhle, fühlt er sich bereits betrunken und hätte am liebsten die Arme ausgebreitet und alle Anwesenden laut begrüßt und wie schön wäre es, wenn auch er mit einem lauten, herzlichen ‚Hallo‘ begrüßt würde. Zumindest drehen sich die wenigen Männer an der Bar zu ihm um und es riecht herrlich nach Rauch und es ist wunderbar stickig und schummerig.
Er stellt sich an die Theke und den zweiten Schnaps teilt er bereits mit einem Bauarbeiter. Er langweilt den Bauarbeiter mit Geschichten über Indianer und das Fallenstellen und das wilde Leben im Busch, aber dann kommt Suzie auf die Bühne und Georg setzt sich an einen kleinen Tisch in der ersten Reihe. Suzie ist genau das, was er jetzt braucht. Zwischendurch kommen auch andere Frauen auf die Bühne, aber Suzie kommt immer wieder und sie ist so braun und lebendig und wackelt wie Schokopudding und Georg steckt ihr viele Geldscheine an viele Stellen und die Musik dröhnt und er versteht nicht, was der dicke Mann von ihm will und warum der dicke Mann ihn dann so fest und fies im Nacken packt, dass Georg sich steif wie ein Brett von dem Mann zur Tür führen und in den Rinnstein stoßen lässt.
Er erwacht im Bett in der Herberge. Die Betten der Schweizer sind leer. Auf der Toilettenschüssel sind Spritzer von Erbrochenem und er übergibt sich noch mal.
Er verlässt die Herberge so unauffällig wie möglich, sieht aber das mit Verachtung tapezierte Gesicht des Portiers.
Am Flugplatz verbringt er in einer Bude, die als Wartesaal dient, mehrere Stunden mit Müsliriegeln und Mineralwasser.
Als das Flugzeug startet, spürt er wieder seinen Magen und er zieht eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche, aber dann beruhigt sein Magen sich und er schaut zum Fenster hinaus. Sie lassen die Verwüstungen der Stadt hinter sich, bis er nichts mehr sehen kann, als Wald und Wasser und Felsen. Und plötzlich durchflutet es ihn und zuerst weiß er nicht, was es ist, bis er all diese Bilder sieht von den Weinbergen in seiner Heimat mit den kunstvoll gefügten Steinmauern und den alten Häusern und als er spürt, dass er sich nichts mehr wünscht, als in einer Buchhandlung zu stöbern und dann mit Freunden ein Eis in der Waffel zu essen, fragt er sich, wohin er fliegt.