Auf dem Friedhof
Die aus gebrochenen Kalksteinen gefügte Friedhofsmauer war etwa zwei Meter hoch und teilweise mit Efeu bewachsen. In vielen Fugen fehlte der verwitterte Mörtel. Eine nicht einsehbare und leicht übersteigbare Stelle hatte er schon vor längerer Zeit ausgekundschaftet. In dieser kalten Winternacht war es soweit. Nach zweiundvierzig Jahren wollte er nun seine Rache vollziehen, ein verzweifelter Versuch sich endlich zu befreien. Sein aufgeregter, stoßweiser Atem wehte durch das Efeu und schlug sich auf den Brillengläsern nieder. Obwohl er einige male mit den Füßen abrutschte, war die Mauer bald erklommen. Auf der Mauerkrone sitzend stieß er sich leicht vorwärts ab und landete genau zwischen zwei Gräbern. Sein Weg führte ihn dann quer über den dunklen Friedhof auf den Hauptweg zu einer großen und aufwendigen Grabstätte. Auf dem mächtigen, polierten, schwarzen Grabstein waren die vergoldeten Buchstaben der Inschrift im fahlen Licht der Mondsichel gut lesbar. Hier lag ER, hochbetagt gestorben, in allen Ehren beigesetzt und SEIN Grab war bestens gepflegt, mit Torf bestreut und frisch bepflanzt. Wie viele Kinder hatte ER unterrichtet, wie viele hatte ER gebrochen, und wie viele hatte ER ... .
Ein konvulsiver Krampf fuhr durch seinen Unterleib. Wochen hatte er sich vorbereitet. Die Darmentleerung zu dieser nächtlichen Stunde war ihm zur Gewohnheit geworden und so hockte er sich mitten auf das Grab.
Eine kalte Hand fuhr ihm von unten zwischen die Beine. „Bist du endlich gekommen! Endlich! Endlich! Ich habe so lange auf dich gewartet! Warum hast du dich so geziert? Warum hast du meine Liebe nicht erwidert? Ich hätte dir das Paradies gezeigt, dir den Weg geebnet und wir wären sooo glücklich gewesen! Oh du zarter Knabe! Was habe ich mich verzehrt nach dir - mir gehörtest du. MIR !!! Warum hast du dich gegen deine Bestimmung gesträubt? Du Undankbarer! Der Blick deiner Rehaugen raubte mir oft den Atem. Wenn ich dich schlagen musste um sie mit Tränen zu füllen, wollte mein Herz zerspringen. Mein Gaumen war trocken vor Glück und ich hätte dich auf der Stelle lieben mögen! Welche Lust! Welche Macht!“
Unter dem Griff der kalten Hand im Entsetzen völlig erstarrt, atemlos, kaum das sein Herz schlug, hörte er dieses Flüstern unter sich. Eine hohe, ganz in schwarz gekleidete Gestalt war inzwischen auf dem Hauptweg hinzu getreten und betrachtete die Szene sinnend. Ihr Gesicht war unter dem breitkrempigen Hut nicht zu erkennen. „Du toter Thor!“ sprach der Dunkle mit dunkler Stimme.. „Glaubst du nun im Tode doch noch zu erhalten was du zu deinen Lebzeiten mit all´ deiner Macht nicht erlangen konntest? Ist es ein Knabe den du in deiner kalten Hand hältst?“ „Ah!“ schrie es aus der Tiefe entsetzt auf. „Du bist keine Knabe mehr! Du hast mich schon wieder betrogen! Du bist nicht mehr das junge unschuldige Leben, nicht mehr zart und schön! Alt und ekelhaft bist du geworden! Ich hasse dich! Ich haaaassssseee diiiiiiiiiiiiiiiiiiiich!“ versanken die Hand und die Stimme in der Tiefe.
„Letztlich hat ER doch gewonnen und das bekommen was ER wollte. Aber nicht so wie ER es begehrte.“ sprach der Dunkle zu dem Erstarrten vor ihm. „Deine Kindheit, deine Träume, all´ die Jahre deines Lebens, SEINE Macht hat dich letztendlich hierher gezwungen. Aber nun bin ich gekommen um dich zu befreien. Komm! Komm mit mir!“ sagte der Dunkle freundlich und streckte seine schwarz behandschuhte Hand nach dem Erstarrten aus. Das Entsetzen und die Kälte hatten sich immer mehr wie ein eiserner Ring um dessen Herz zugezogen. Erleichtert ergriff er die Hand des Dunklen, erhob sich und ging mit ihm.
Am nächsten Morgen fand man auf dem Grab des hochnotablen ehemaligen Grundschuldirektors einen zusammengekrümmten Toten mit hinuntergelassenen Hosen, eingekotet und über und über dick mit dem Raureif der Winternacht bedeckt.