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Arbeit, Mai und Tierschutzprojekt
Vielleicht gab es auf der Welt zu wenig Tiere, vielleicht gab es zu viel Zeit im Lehrplan, auf jeden Fall organisierte unsere talentlose Jahrgangsstufe ein Tierschutzprojekt. Man konnte freiwillig teilnehmen. Da es während der Unterrichtszeit war, nahmen alle teil.
Wir stellten uns auf der zentralen Einkaufsstraße auf mit Pappkartontieren und standen. Machten uns in den Augen der Bevölkerung lächerlich. Ich hatte einen Tiger, den musste ich davor selbst aus Pappkarton basteln. Der Tiger war unproportioniert und hatte nur zwei Pfoten. Er wurde in Afrika ausgerottet.
Eli aus der Parallelklasse stellte sich neben mir auf. Ich kannte sie schlecht, aber sie gruppierte sich trotzdem mit mir. Wollte von meinem Tiger profitieren, meinem Lebenswerk. Ich fragte sie aus, wo sie ihre Klamotten gekauft hatte, um aus ihrer Anwesenheit Nutzen zu ziehen. „Keine Ahnung. Überall“, antwortete Eli. Das war ihr Geheimnis. Wenn ich Geheimnisse hätte, würde ich sie ihr auch nicht verraten. Das hast du davon, Eli.
Wir tauften den Tiger Dschingis Khan. Dschingi. Wenn Dschingis Khan es wüsste, würde er sich im Sarg umdrehen. Der Frühling war rein, wie ein Bergsee. Die Sonne wärmte unsere jungen Herzen. Eli musste aufs Klo.
„Komm mit“, sagte sie.
„Und der Tiger?“
„Wir gehen schnell. Wir rennen.“
Sie zog mich an der Hand und wir rannten wie kleine Mädchen zum McDonald‘s und schubsten Passanten. Es war Mai. Mein Lieblingsmonat. Ich hatte gute Laune. Bin fast erstickt, meine Wangen brannten. Was für Kondition, herrlich. Was macht Schule aus lebensfähigen jungen Leuten. „Sie lief zur Toilette und verstarb am Herzinfarkt im zarten Alter von 16 Jahren.“
„Weißt du, was dir stehen würde?“, fragte mich Eli auf der Toilette in McDonald’s.
„Es würde dir stehen, wenn du deinen Pony gerade schneidest und deine Haare rot färbst. Dann würdest du aussehen wie so ein Pin-Up Girl.“ Sie drehte meinen Pony so ein, wie ich es ihrer Meinung nach schneiden sollte. Ich war immer noch am Ersticken. Sollte vielleicht weniger rauchen. Dann suchte sie einen passenden Rotton in der Umgebung. Das dauerte zu lange.
Als wir zurückkamen, sahen wir, dass Dschingi keinen Kopf mehr hatte. Vandalen hatten mein Lebenswerk ruiniert. Kein Wunder, dass die Natur ausstarb, bei so einer Einstellung. Ohne Kopf sah der Tiger aus wie ein schiefer Tisch. Wir stopften ihn in die Mülltonne und stellten uns zurück in die Tierschutzreihe. Alle standen mit Pappe, und wir standen einfach so da. Wie Nutten.
„Das macht nichts“, sagte Eli. „Wir symbolisieren Menschen. Menschen muss man auch schützen. Wir stehen hier für Menschenrechte, ja!“
Das sah ich genauso. Menschen waren wichtiger, und keiner schützte sie. Ich würde alle Tiger töten, wenn es sein müsste, damit ein einziger Mensch einen Tag länger leben könnte. Doch für Menschenschutz interessierte sich keiner, Passanten liefen an uns vorbei.
„Weißt du, warum sie uns nicht beachten?“, fragte Eli.
„Weil wir keinen Tiger mehr haben“.
„Nein. Weil sie nicht an uns denken. Vor dem Tiger würden sie stehen bleiben, wenn ein Tiger einen Platz in ihrem Unterbewusstsein hätte. Wenn sie sich um Tiger kümmern würden. Wir erreichen hier eigentlich nur die Leute, die sich auch so um Tiere kümmern, verstehst du?“ Eli hatte einen Hang zu Philosophie.
„Es ist schon interessant, Leute zu beobachten“, stellte ich nach einiger Zeit fest. Es stimmte nicht ganz. Wir waren hier nicht in Berlin. Die meisten Passanten waren langweilig und schlecht gekleidet.
„Ja… Wie sie vor sich hin laufen. Sie sehen niemanden. Uns sehen sie auch nicht. Weißt du warum? Man sieht nur das, woran man denkt. Ist es dir schon mal passiert, du denkst an jemanden, und dann triffst du diese Person ständig irgendwo?“
„Ja. Kein Wunder, in unserem Kaff“, sagte ich.
„Nein, das ist weil dir diese Person in der Menge auffällt, weil du sie sehen willst. Oder eben nicht sehen willst, dann siehst du sie auch ständig.“
„Und wenn es jemand Unbekanntes ist, der auffällt?“
„Auch. Ich glaube, man lernt nur die Leute kennen, die schon in deinem Unterbewusstsein existieren. Du stellst sie dir unbewusst vor, und dann triffst du die. Andere triffst du auch, aber auf die achtest du nicht. Die vergisst du. Das hat Freud gesagt.“
Das hatte Freud nicht gesagt, jedenfalls nicht so. Ich hatte Freud gelesen. Es war nicht sein Stil. Das hat sich Eli ausgedacht. Eli war klug. Die Bevölkerung hatte keine Schüler mit Pappkartontieren im Unterbewusstsein und missachtete uns. Deshalb war unsere Aktion sinnlos.
Eine Rentnerin kam zu uns und fragte, wie man zum Rathaus kommt. Dann bemerkte sie, dass wir jung und dumm waren und fragte andere Leute.
Zwei Jungs kamen und blieben stehen. Einer hatte tätowierte Oberarme und große Kopfhörer, der andere war ein Mulatte und hatte auch Kopfhörer. Sahen aus wie Hipster.
„What are you guys doing here?“, fragte uns der mit Tattoos. Sie waren Amis, man hat es gehört und gesehen. Amis haben immer diese fröhliche, singende Art zu reden. Und strahlen immer. Positive Menschen. Gewiss, nicht alle. Wahrscheinlich, nur solche, die Mädchen auf der Straße anlabern.
Ich erklärte dem Tätowierten, dass wir früher einen Tiger hatten, aber er wurde von unbekannten Schurken geköpft. Und in Afrika wurden Tiger von bösen Afrikanern gejagt. Mehr hatte ich ihm nicht zu sagen, aber er ging nicht. Stand da und schaute mich an. Und ich schaute ihn an.
Die Amis waren Musiker aus Kalifornien. Sie reisten durch Europa, um ihre Platte zu promoten. Das Promoten bestand darin, dass sie den Leuten auf der Straße ihre CDs andrehten. Ich mochte keinen Hip Hop und wollte keine CD kaufen.
„Ich schenke dir eine CD, wenn du mit mir ein Bier trinken gehst“, versprach der Tätowierte. Der Schwarze war längst verschwunden, er hatte kein Bock auf mich und Eli. Vielleicht war er sauer wegen den bösen Afrikanern. Der Tätowierte schaute mich an mit halbgeschlossenen Augen. Von oben nach unten. Ich mochte kein Bier und keinen Hip Hop, aber ich ging natürlich trotzdem mit ihm. Ich wollte irgendwohin gehen. Im Mai zieht es mich immer irgendwohin, in die unbekannte Weite. Mich zog es in die unbekannte Weite, und ihn in ein Bierzelt. Bierzelt war näher.
Mein neuer Bekannter hieß Sergio. Habe ich jedenfalls so verstanden. Er erzählte, was er in seinem fröhlichen Leben machte. Er hatte eine künstlerische Ader. Produzierte Musik und sonstigen Kram.
„Ich bin ein Designer, Mann. Ich designe Klamotten“, sang Sergio. Das ist brauchbar, dachte ich. Die Bevölkerung braucht Klamotten.
„Kannst du nähen?“
„Was, nähen? Neeeein.“ Er lachte. „Ich bin Designer, ich zeichne“.
Ich habe nicht verstanden, was sie machten, diese Jungs. Vor allem habe ich nicht verstanden, wovon sie lebten. Man muss doch von etwas leben, oder nicht? Vielleicht konnte man sich in Kalifornien von Sonne und Sand ernähren. Oder von Sonne und Liebe. Vielleicht konnte man dort am Strand schlafen und gezeichnete Kleidung tragen. Man wusste es nicht. Kalifornien war von Menschen unerforscht, es war eine andere Welt.
Ich wurde betrunken. Ich war schon den ganzen Tag betrunken gewesen von der Schwüle. Sergio war ein Junge von der schläfrigen Westküste, er war auch selbst schläfrig, und schön, und seine Tattoos waren auch schön. Die Luft hatte im Mai einen besonderen Klang. Alles war gut. Ich hatte vielleicht eine neue Freundin. Und vielleicht einen kalifornischen Rapper. Alles vielleicht. Ein durchaus gelungener Tag.
Am nächsten Tag schien die Sonne, und ich wollte besser werden. Die Schule hatte ich sowieso verschlafen. Was macht man, wenn man besser werden will? Geht man in ein Kloster? Ich ging zum Friseur und ließ meine Haare rot färben. Es war nicht so cool, wie Eli gesagt hatte. Sah nicht nach einem Pin-Up Girl aus. Sah aus nach mir mit roten Haaren.
Dann rief ich zwanzig Mal Sergio an, bis er ranging, und wir trafen uns in der Stadt. Sergio fand rote Haare gut. Sergio fand alles gut, denn er war bekifft. In Betracht der frühen Uhrzeit etwas verwunderlich, in Betracht seiner Person wiederum nicht. Wir gingen zu McDonalds, zu dem gleichen, zu dem ich mit Eli gerannt war. Dchingis Khans Reste verbarrikadierten immer noch die Mülltonne. Sergio erzählte, dass er einen Pitbull kaufen wollte. Sein Onkel hatte eine Farm mit Pitbullen, sagte er. Ich enteignete ihm seine Sonnenbrille und setzte sie mir auf. Im McDonald’s machten wir miteinander rum, wenn man es so nennen mag. Er hatte kein Bock, seine Zunge zu bewegen, er war bekifft. Ich schweifte in egozentrische Gedanken ab. Dachte darüber nach, wer ich war.
Ich war zynisch, infantil und empfindlich. Lachte demonstrativ über Dinge, über die man nicht lachen durfte. Das war immer so gewesen und das würde immer so bleiben. Ich änderte mich nicht. Ich habe sechzehn Mais erlebt und sie waren vergangen, und ich hatte nichts daraus gemacht. Ich wollte immer durch die Stadt laufen, und meine Füße taten weh, aber ich konnte nicht stehen bleiben.
„Sergio.“
„Mmmh?“ Nichts. Halte mich fest, sonst falle ich runter.
„I adore May.“
Er hielt mich nicht, und ich fiel unter den Tisch. Schmiss eine Cola um. Ich blamierte mich ständig in diesem McDonald’s.
„Sergio.“
„Was, Baby?“
„Ich habe beschlossen, Penner zu werden. Werde nachts auf der Bank im Park schlafen, und morgens mit dem Roller fahren und Flaschen sammeln.“
„Was, neeeein. Ist doch gefährlich, alleine im Park“.
„Nein, ist es nicht. Unser Park ist ruhig. Ruhig und schön.“ Das war der spießigste Park auf der Erde.
Ich wollte, dass Sergio mich trägt. Wollte weg vom Boden. Ein Vogel sollte ich sein und über der Erde fliegen. Ich wäre der letzte meiner Art. Es war ein seltsames Gefühl. Nicht im Bauch. In den Lungen. Ich konnte nicht atmen. Mir fehlte Sauerstoff. Ich sollte weniger rauchen. Weniger, weniger, weniger rauchen. Nur noch eine. Und Sergio wollte mich nicht tragen. Zu anstrengend.
„In deinem Alter hab ich geraucht, weil es cool war“, sagte er zu mir, anstatt mich zu tragen. So eine feine Andeutung. Ich rauchte nur, um mich zu beruhigen. Wollte entspannt und glücklich sein. Und Sergio sollte lieber die Fresse halten.
Frühling ging in den Sommer über. Asphalt blendete. Farben zerflossen. Wind zerzauste meine Haare, sie flogen mir ins Gesicht und klebten an den Lippen. Ich wackelte ein bisschen, weil ich nicht wusste, wohin ich lief. Fragte Fremde in Cafés nach Zigaretten. Menschen begegneten mir und blitzten im Bewusstsein auf, um dann für immer zu verschwinden.
Wir trafen Eli und ein anderes Mädchen. Perfektes Timing. Man traf sie sonst nie in der Stadt.
„Aaah. Ist das der Musiker von gestern? Hast du ein Date mit ihm?“
„Nein“, log ich. „Wir haben uns zufällig getroffen“. Warum? Weil es niemanden was anging, mit wem ich mich traf.
„Echt jetzt? Siehst du, genau das habe ich gemeint! Siehst du.“ Jetzt bestätigte sich ihre fragwürdige Theorie.
„Wir gehen heute Abend in den Park kiffen. Komm mit, Eli.“
„Ich will nicht kiffen.“
„Egal. Komm trotzdem.“
„Weiß nicht. Vielleicht.“
Vielleicht wollte ich, dass du kommst, Eli.
„Tschüss, Eli.“
Mir wurde schwindelig. Ich hing an Sergio, wie ein Sack, wir standen und liefen nirgendwohin. Sergio suchte seinen Kumpel. Er hieß Daniel oder so ähnlich. Ich vergaß es. Sergio wollte sein Handy aufladen und Daniel anrufen.
„Komm mit!“, sang er zu mir. „Gehen wir nach Hause“.
Sergio wollte sein Handy aufladen und vielleicht mit mir schlafen. Unsere Vorhaben gingen etwas auseinander. Sex mit Sergio traf meine Stimmung nicht. Meine Stimmung war gegen den Wind rennen. Oder Roller fahren.
Stattdessen saß ich auf dem Sofa in seiner Wohnung, legte die Beine auf den Tisch und wartete ab, was er machen würde. Streckte und beugte den großen Zeh. Beobachtete, wie Sergio das Ladegerät in sein Handy steckte. Freud hätte an dieser Szene seinen Gefallen.
Sergio telefonierte tatsächlich mit seinem Kumpel. Vielleicht hatte er sich vorgenommen, keine minderjährigen Schülerinnen zu ficken. Eine überaus löbliche Entscheidung. Vielleicht hatte er keine Lust, mich anzumachen. Ich könnte dann sagen: “Ach, mein Geliebter, ich weiß nicht…“ Dann müsste er mich überreden. Das wäre für ihn anstrengend. Vielleicht hatte er auch eine andere Stimmung, und ich verstand ihn nicht.
Sergios Kumpel tauchte wieder auf. Am Abend haben wir im Park gekifft. Ich lag auf der Bank und stellte mir vor, die Sterne wären kleine leuchtende Fliegen, die vor der Ausrottung in den Himmel geflohen waren. Sie sammelten Kraft. Irgendwann würden sie kommen und sich rächen.
Sergio und Daniel redeten miteinander. Sie wären ein süßes Pärchen. In ihrer Wortmelodie waren fast keine Konsonanten, und ich verstand sie nicht. Die Erde drehte sich um die Sonne und um die eigene Achse. Bei mir drehte sie sich noch in eine dritte, unbekannte Richtung.
Irgendein aufregender Gedanke entglitt mir. Entglitt, entglitt, entglitt …
Am nächsten Tag erfreute ich Schule wieder mit meinem Erscheinen. Kam zur dritten Stunde und ging gleich wieder. Ich konnte dort nicht sitzen.
Dann fuhren Sergio und sein Kumpel in eine andere Stadt. Wollten dort Leuten auf der Straße ihre CDs andrehen. Ich verabschiedete mich von ihnen am Bahnhof, küsste Sergio und ging nach Hause.
Etwas hat sich in mir verändert. Als ich mit Sergio rumgehangen war, hatte ich es nicht begriffen. Es war mir immer entglitten. Eine Neurose breitete sich in mir aus. Dann habe ich es verstanden.
Ich konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Ich drehte mich tausend Mal im Bett um, stand tausend Mal auf, trank kaltes Wasser aus dem Wasserhahn. Öffnete Fenster. Rauchte, suchte einen Kaugummi in der ganzen verdammten Wohnung, weil die Zahnpasta leer war. Ich war furchtbar verliebt, und mir war schlecht. Meine Augen brannten, es war fünf Uhr morgens. Ich biss mir Fingernägel ab und merkte nicht, dass meine Finger bluteten. Ich war verliebt in Eli.