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Arbeit, Konsum und Freiheit – Schiller, Marcuse, Lanier: „Der eindimensionale Mensch“
Schiller, Marcuse, Lanier
Wi€dergelesen – 50 Jahre „Der eindimensionale Mensch"
nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm!«
Brecht, Die Ballade vom angenehmen Leben
herrscht der laute, zuversichtliche Glaube, dass die Technologie sie eines Tages unsterblich
machen wird. Google zum Beispiel finanziert eine große Organisation mit dem Ziel, "den
Tod zu überwinden". Und es gibt viele Beispiele mehr. Ich kenne einige der Hauptbeteiligten
der Anti-Tod- oder posthumanen Bewegung, die im Herzen der Silicon-Valley-Kultur sitzt …«
Jaron Lanier, 2014
Ȇber den Fortschritten der Technisierung und Rationalisierung in der heutigen Gesellschaft
hat man … übersehen, dass die personale Macht der Menschen über die Natur und die ,Dinge'
nicht größer, sondern kleiner geworden ist! [...] ihre Werkzeuge: Maschinen, Verkehrsmittel,
Strom, Licht, Kraft [...] ihnen so schwer und groß geworden [sind], dass [...] die damit umgehenden
Menschen sich mehr und mehr in ihrer Existenz nach ihnen richten müssen, in ihrem Dienst stehen,
ja dass immer mehr Existenzen verbraucht werden, um sie in ihrem ,Funktionieren' aufrecht zu halten!«
Herbert Marcuse, 1929
»Ich kann seit 14 Tagen keine franz. Zeitung mehr lesen, so ekeln diese elenden Schindersknechte mich an.«
»Verschiedene Dressuren
Aristokratische Hunde, sie knurren auf Bettler;
ein echter demokratischer Spitz klafft nach dem seidenen Strumpf.«
Friedrich Schiller, 1793
Was hat Lanier mit diesem „Marcuse“, was Schiller mit den beiden andern zu tun?, wird der geneigte Leser sich zu recht fragen.
Und in der Tat, wenn man ihre Lebensdaten kennt - Friedrich Schiller (1759 – 1805), Herbert Marcuse (1898 – 1979) und Jaron Lanier (* 1960) - kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, immerhin musste Schiller vor seinem Dienstherrn, Marcuse aber vor den Nazis fliehen. Ob Lanier noch ein gern gesehener Gast im Silicon-Valley oder auch nur bei Amazon, Apple, Google, Microsoft ist – wird er selbst wissen!
Der älteste des Trios: Arzt, Dichter und aus Neigung Historiker (auf Betreiben seines ziemlich besten Freundes erhielt dieser Mensch in der Revolte einen Lehrstuhl zu Jena) und zudem – wie nebenbei, wenn man Rüdiger Safranski folgen darf - Erfinder des „deutschen“ Idealismus zu Zeiten der industriellen Revolution nebst der bürgerlichen (Amerikas, vor allem aber Frankreichs).
Dann der heute nahezu unbekannte deutsch-amerikanische Philosoph, Soziologe und Politologe, zudem – wenn man mir glauben darf - Ikone der wahrlich internationalen Studentenbewegung der 1960er Jahre von Kalifornien bis Mexico-City, von Paris bis Frankfurt am Main, von Westberlin bis Prag - zunächst mit hochschulpolitischen Themen („Unter den Talaren / Mief von tausend Jahren“) und schließlich politischen Impulsen zur Emanzipation (Kapitalismus, Frauenfrage, Rassismus und Dritte Welt) und vor allem dem Vietnamkrieg.
Immerhin, es gibt eine Verknüpfung mit dem Youngster des Trios: In Marcuses letzten Lebensjahren wurden die ersten gebrauchsfähigen Personalcomputer entwickelt.
Dieser Youngster gilt als Pionier der digitalen Revolution, vor allem – sonst kennte ich ihn gar nicht – aber zunehmend als deren Kritiker, da immer mehr Menschen ziemlich freiwillig ihre Souveränität und damit Freiheit an Maschinen abgeben. Die Maschine wird gottgleich. Der Prothesengott findet seine Religion in Internet und Konsum.
Die Antwort auf die Frage, was die drei miteinander zu tun hätten, ist schlichtweg simpel: Es ist die Weigerung der drei, die Welt so zu akzeptieren, wie sie sich gibt und gab,
- Schiller zu Beginn der industriellen wie der bürgerlichen Revolution mit den bisher leeren Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die sich hernach im Nebel des „terreur“ auflösen,
- Marcuse im Übergang zur post-industriellen Gesellschaft und seinen totalitären Erscheinungsformen und
- Lanier unter der Re-Feudalisierung und Dominanz des Finanzkapitals und der Wandlung der bürgerlichen Demokratie zur marktkonformen Demokratur und der Degradierung, gar Versklavung des Citoyen zum Konsumidioten.
Gemeinsam ist ihnen die Kritik an der fortschreitenden Kommerzialisierung der Gesellschaft, der Verzicht auf den sozialen zugunsten des technischen Fortschritts unterm Primat der ökonomischen und technologischen Rationalität. Es ist zugleich die Kritik am eindimensionalen Denken – ein Denken, das die negative Seite tabuisiert und gar nicht erst aufkommen lassen will. Das Denken des prototypischen Ohnemich, das nicht über den eigenen Tellerrand hinausschauen will.
Der heute nahezu unbekannte Name in diesem Trio dürfte Herbert Marcuse sein - und gerade er hat den Begriff des „eindimensionalen Menschen“ durch sein Hauptwerk “The One-Dimensional Man. Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society” 1964 geprägt und mit der deutschen Ausgabe „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft”, 1967, wurde Marcuse zur Ikone der Menschen in der Revolte, dass selbst das Zentralorgan der Kommunistischen Partei des ZK der Sowjetunion, die Prawda („Wahrheit“) lamentierte: „Marcuse, Marcuse - die westliche Presse hört nicht auf, den Namen dieses 70jährigen ,deutsch-amerikanischen Philosophen' zu wiederholen, der plötzlich aus dem Schatten der Vergessenheit aufgetaucht ist. [Er] ist ausgezogen, den Marxismus zu widerlegen [und] wird wie ein Filmstar angekündigt." Ersetzen wir „Marxismus“ durch „Kapitalismus“, trifft das Urteil durchaus heut noch zu.
Herbert Marcuse ist allgegenwärtig wie Schiller und Lanier zusammen! Ein halbes Jahrhundert nach dem One-Dimensional Man gewinnt Marcuse an Bedeutung durch Big Data und staatliche Massenüberwachung nebst privatwirtschaftlicher Datensammlung, um Wünsche, Geschmäckle und Kaufverhalten zu beeinflussen, die dem Konsumismus und der Wachstumsideologie einen quasi-religiösen Status zu verleihen. Wer weiß, was geschieht, wenn eines Tages Thomas Pikettys „Kapitalismus im 21. Jahrhundert“ seine volle Wirkung entfaltet und die Versprechen zu Beginn des industriellen Zeitalters sich im Nebel der Geschichte auflösen …
Was macht nun den Reiz des ehemalige Assistenten Heideggers aus? Genau das, was Lanier die „digitale Entrechtung“ nennt: Technologische Rationalität trägt den Keim zum Totalitären in sich, Technologie wurde zum Moloch, der übers Individuum herrschen will. Das sich frei wähnende Subjekt mit all seinen Stärken und Schwächen wird Objekt und lästiges, weil potenziell unberechenbares Anhängsel der Maschine(n). Leistungsfähigkeit wird standardisiert und als Maßstab über das individuelle Tun gestülpt.
Das sich frei wähnende Subjekt entwickelte sich zum bloßen Objekt ökonomischer Koordination und Organisation. Individuelle Leistungen gerinnen zur standardisierten Leistungsfähigkeit und setzen Maßstäbe, nach denen einer motiviert, angeleitet und beurteilt wird. Und dieser Prozess beginnt im Kindergarten als einem Teil des Sytems Arbeit (so schon Piaget). „Der maschinelle Prozess im technologischen Universum zerstört die innerste Privatsphäre der Freiheit und vereinigt Sexualität und Arbeit in einem unbewussten, rhythmischen Automatismus — ein Prozess, der dazu parallel läuft, dass die Beschäftigungen einander ähnlich werden.“ (S. 47; Anpassung an die neuere dt. Rechtschreibung durch mich) Selbst Freizeit und Konsum werden durchorganisiert (es sei daran erinnert, dass dies eine Methode der Nazis war – was heute selbstverständlich in „privatisierter“ Hand liegt).
„Im gegenwärtigen Zeitalter ist der Sieg über den Mangel noch immer auf kleine Bereiche der fortgeschrittenen Industriegesellschaft beschränkt. Ihr Wohlstand verdeckt das Inferno innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen; er verbreitet auch eine repressive Produktivität und »falsche Bedürfnisse«. Er ist genau in dem Maße repressiv, wie er die Befriedigung von Bedürfnissen fördert, die es nötig machen, die Hetzjagd fortzusetzen, um mit seinesgleichen und dem eingeplanten vorzeitigen Verschleiß Schritt zu halten, wie er es fördert, die Befreiung davon, sein Hirn zu benutzen, auch noch zu genießen und mit den Destruktionsmitteln und für sie zu arbeiten. Die offenkundigen Bequemlichkeiten, wie sie von dieser Art Produktivität hervorgebracht werden, ja die Unterstützung, die sie einem System profitabler Herrschaft zuteil werden lässt, erleichtern ihren Import in weniger fortgeschrittene Gebiete der Welt, wo die Einführung eines solchen Systems immer noch einen kolossalen Fortschritt in technischer und menschlicher Hinsicht bedeutet.“ (S. 252).
Schon in den 1950er Jahren entdeckte Marcuse über einer Arbeit zum wirtschaftswissenschaftlichen Arbeitsbegriff die Briefe Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen", wo der Mensch noch kreativ sein darf und folglich frei. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, womit Schiller sicherlich keine Spielhöllen meint (da herrscht wie am Computer das Programm, die Maschine und der Spieler degradiert sich zum Anhängsel, s. o.). Aber auch das hat Schiller schon erkannt: „Jetzt aber herrscht das Bedürfnis und beugt die gesunkene Menschheit unter sein tyrannisches Joch. Der Nutzen ist das große Ideal der Zeit." (Zweiter Brief)
„Kann eine Gesellschaft, die außerstande ist, das private Dasein des Individuums auch nur in den eigenen vier Wänden zu schützen, rechtmäßig behaupten, daß sie das Individuum achtet und eine freie Gesellschaft ist?
…
Um ein (leider phantastisches) Beispiel zu wählen: die bloße Abwesenheit aller Reklame und aller schulenden Informations- und Unterhaltungsmedien würde das Individuum in eine traumatische Leere stürzen, in der es die Chance hätte, sich zu wundern, nachzudenken, sich (oder vielmehr seine Negativität) und seine Gesellschaft zu erkennen. Seiner falschen Väter, Führer, Freunde und Vertreter beraubt, hätte es wieder sein ABC zu lernen. Aber die Wörter und Sätze, die es bilden würde, könnten völlig anders ausfallen, ebenso seine Wünsche und Ängste.“ (256)
Schließen will ich mit der Fortsetzung des Eingangszitates von Lanier:»Die Arithmetik ist klar. Falls die Unsterblichkeitstechnologie, oder auch nur eine Technologie der drastischen Lebensverlängerung zu funktionieren beginnt, müsste sie entweder auf die kleinste Elite beschränkt bleiben oder wir müssten aufhören, Kinder in die Welt zu setzen, und in eine unendlich fade Gerontokratie übergehen. Dies sage ich um hervorzuheben, dass in der digitalen Technologie häufig, was radikal scheint - was auf den ersten Blick wie kreative Zerstörung wirkt -, sich in Wirklichkeit, wenn es tatsächlich umgesetzt würde, als hyperkonservativ und unendlich fade und langweilig herausstellt. Eine weitere populäre Idee ist, unser Gehirn in die virtuelle Realität "upzuloaden", damit wir für immer in einer Softwareform weiterleben könnten. Und das trotz der Tatsache, dass wir noch nicht einmal wissen, wie das Gehirn funktioniert. Wir wissen nicht, wie Ideen durch Neuronen repräsentiert werden. Wir stellen Milliarden von Dollar bereit, um das Gehirn zu simulieren, dabei kennen wir jetzt noch nicht einmal die grundlegenden Prinzipien, nach denen es funktioniert. Wir behandeln Hoffnungen und Glaube, als wären sie etablierte Wissenschaft. Wir behandeln Computer wie religiöse Objekte …« (S. 56)
Herbert Marcuse: Der eindimensional Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Dt. v. Alfred Schmidt, DTV-Ausgabe, 3. Aufl. 1998; Erstausgabe 1967 beim Luchterhand Verlag
Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen, 1795
(Eingangszitate aus Briefen und Xenien und Votivtafeln)
Jaron Lanier: Für einen neuen Humanismus. Wie wir der digitalen Entrechtung entkommen. Rede zum Empfang des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 12. Oktober 2014 in der Frankfurter Paulskirche, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 11/2014, S. 42 ff.
Eric D.Weitz: Liberaler Totalitarismus? Zur Aktualität von Herbert Marcuse, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2014, S. 109 ff.