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aPhone
(Book of Jobs)
Um die Wartezeit zu überbrücken, scrolle ich mich nochmals durch die aFirstDate Checkliste. Ja, ich bin an allen wichtigen Körperstellen enthaart. Ja, ich bin frisch geduscht. Nein, ich rieche auf keinen Fall wie ein menschliches Wesen, sondern wie ein großes Deodorant. Ja, Haare und Klamotten passen. Ich sehe heute ziemlich gut aus. Im Rahmen meiner Möglichkeiten, aber ziemlich gut. Nein, ich bin weder müde noch unterzuckert. Ja, mein Atem ist frisch und wird es bleiben (habe Pfefferminz dabei). Ja, ich habe Kondome (obwohl das bestimmt übertrieben ist). Ja, ich werde pünktlich sein. Ich bin nämlich schon da, sein Zug nicht.
Das aPhone fühlt sich heiß und glitschig an, geistesabwesend reibe ich meine Handfläche an der Hose trocken. Ein vierzigster Blick zur Bahnhofsuhr, zwanzig Minuten noch, Selbstmörder nicht eingerechnet. Ich rufe aTrainTracker auf, nein, die Gleise sind frei, sein Zug kommt planmäßig. In zwanzig Minuten. Und laut aPalsPhoneTracker ist er an Bord, zweite Klasse Ticket, Waggon vier, Fensterplatz. Was würde aFirstDate mir eigentlich raten, wenn ich er wäre? Ich wähle „Geschlecht: männlich“ und tippe mich durch das Anfangsgeplänkel. Ja, ich bin enthaart, ja, ich bin geduscht … das ist ja albern, wo soll denn jetzt der Unterschied – oh: Ich bleibe an dem Menüpunkt „Blumen oder nicht“ hängen. Das „hinge vom Typ Frau ab“. Ich beantworte die Fragen über mich und bekomme den Ratschlag, mir keine Blumen mitzubringen. Unverschämtheit. Ich mache trotzdem weiter mit „welche Blume könnte ihr gefallen“. Pauschal bei ersten Verabredungen keine roten Rosen, keine weißen Lilien, keine Orchideen … ist die Dame eher sportlich, elegant, … wie alt ist sie … was macht sie beruflich … nach geschlagenen zehn Minuten (!) erfahre ich, dass ich mich am meisten über einen Strauß gemischte Bartnelken freuen würde. Was zur Hölle sind Bartnelken?
Die stickige Luft wird durcheinandergewirbelt und plötzlich hält ein Zug vor meiner Nase. Das kann gar nicht sein, aTrainTracker weiß nichts über eine Planabweichung. Aber hier kommt er, ein paar Minuten zu früh, er muss jeden Moment aussteigen und ich bin noch gar nicht so weit. Warte, aPalsPhoneTracker meint, er ist schon ausgestiegen, ein Haufen Menschen um mich rum, er steht … nördlich, nordwestlich von mir … neben mir … vor mir? Vor mir. Und sind das Bartnelken?
„Oh … hallo!“
„Hey! Da bist du ja!“
Er hat Lachfältchen um die Augen. Wir stecken die aPhones weg, und ich bekomme einen feuchtstieligen Blumenstrauß.
„Hm … Danke. Das ist aber nett.“ (Wo soll ich denn damit jetzt hin?)
Ich lächle ihm zu, während ich versuche, ihn zu mustern, ohne direkt hinzusehen. Die Hände fallen mir gleich auf und die Arme, sehr sehnige Unterarme, mit Sonnenbräune, die auf den Oberarmen heller wird und unter dem T-Shirt-Ärmel verschwindet. Er sieht besser aus als auf dem Foto, jünger und schlanker, das trifft mich unvorbereitet. Ich ziehe den Bauch ein, spüre seinen Blick auf meiner Brust, hebe den Blumenstrauß davor, überlege es mir anders, lasse den Strauß sinken und verstecke lieber meine Hüften, über denen die Hose so straff spannt.
Schluss damit! Außerdem rempeln mich dauernd Gepäckstücke an, ich nicke zur Treppe. „Erstmal nach draußen.“
Ich würge den Blumenstrauß mit beiden Händen, während ich mich nach seiner Fahrt erkundige und versichere, dass ich nur kurz vor ihm angekommen bin, vor zwei Minuten erst. Kaum haben wir die Hitze und den Lärm der Bahnhofshalle hinter uns gelassen, stehen wir im kalten Nieselregen. Er zieht die Jacke an, die er bis eben über dem Arm getragen hat.
„Nehmen wir ein Taxi in die Innenstadt? Eigentlich wollte ich mit dir laufen, aber wenn sich’s hier erstmal eingeregnet hat …“
„Jaja, der Norden.“ Er zwinkert mir zu. „Gönnen wir uns ein Taxi. Das überbrückt auch die Peinlichkeiten der ersten halben Stunde.“ Wir lachen beide.
Vor dem Bahnhof wartet eine beigefarbene Reihe aus neun Taxen mit unterschiedlichen Aufdrucken an den Türen. Wir prüfen mit aTaxiFinder welches Unternehmen am günstigsten ist und welches laut Unfallstatistik am sichersten fährt. Im Taxi rieche ich ihn zum ersten Mal, leicht verschwitzt und darüber ein After Shave, das ich nicht kenne. Er riecht nach Meer und Leder. Er kommt zig hundert Kilometer aus einem Binnenstaat zu mir gefahren und bringt den Geruch von Meer mit, was ist das für ein After Shave? Mein Knie berührt seins, das geht gar nicht anders auf der engen Rückbank. Während der Fahrt will ich den Fremdenführer geben, aber ich kann mich an keine offizielle Sehenswürdigkeit erinnern. „In der Straße hab ich gewohnt. Das ist die Studentenkneipe, von der ich erzählt hab, die Feier, nach der ich in den Kanal gefallen bin – da drüben ist das passiert. Und von dem Steg aus hatte ich zwei Ruderstunden, danach bat mich der Lehrer, nie mehr wiederzukommen. Links ist die Konzerthalle, da sind wir damals oft aufgetreten.“
„Spielst du noch?“
„Fast gar nicht mehr.“
Das Taxi spuckt uns in der Altstadt aufs Kopfsteinpflaster und verschwindet in dem Moment um die Ecke, als mir einfällt, dass die Blumen noch auf der Rückbank liegen.
„Mach dir nichts draus, dafür hast du jetzt wieder beide Hände frei.“ Er sieht dem Taxi nach.
Ich stimme ihm innerlich zu, bloß gut, dass ich mich wieder normal bewegen kann, das war eine ganz unpraktische Idee mit den Blumen, trotzdem ist es mir peinlich. Hoffentlich glaubt er nicht, ich hätte die Blumen absichtlich liegen lassen.
„Ach was.“
Himmel, hab ich das gerade laut gesagt?
Wir sind uns einig, dass wir sofort Kaffee brauchen und man über Essen immerhin nachdenken könnte.
„Augenblick.“ Er hat sein aPhone gezückt und ruft aRestaurantFinder auf.
„Du, wir stehen vor einem Lokal.“ Ich finde, es macht einen gemütlichen Eindruck. Es scheint neu zu sein. Von der weißen Markise tropft Regenwasser, hinter den Fenstern brennen Bienenwachskerzen auf den Tischen, die meisten Tische sind besetzt.
Er liest das vergoldete Namensschild, liest sein Phonedisplay und schüttelt den Kopf. „Das hab ich nicht in der Liste. Das nächste Restaurant ist in der Bergstraße, vier Minuten sechs Sekunden Fußweg von hier.“
„Aber wir stehen doch davor. Und es regnet.“
„Aber es ist hier nicht erfasst.“
„Vielleicht ist es zu neu.“
„Vielleicht taugt es nichts.“
Ein kurzer Abtausch prüfender Blicke. „In Ordnung“, lenke ich dann ein, ich will mir das hier nicht versauen, „mein Lieblingscafé von damals ist auch in der Nähe. Pferdegasse, wo war das, warte, fällt mir gleich wieder …“
„Moment, Pferdegassepferdegasse …“ Aha, er hat auch aCityMap installiert. „ … da lang.“
Mit Selbstbewusstsein marschiert er in eine Richtung, von der ich sicher bin, dass sie falsch ist. Sein GPS gibt mir mit einem ärgerlichen Piepen Recht. „Hoppla.“
Wenn ich die Augen zusammenkneife, kann ich das Straßenschild schon sehen, aber ich lasse ihn rausfinden, wie wir hinkommen. Wie ein Wünschelrutengänger läuft er dem Phone hinterher, biegt probehalber links ein und wird mit einem grünen Blinken belohnt, verstellt ein paar Einkäufern den Weg, als er sich zu mir umdreht und strahlt: „Immer wieder gut. Keine Ahnung, wie ich mich zurechtgefunden hätte, ohne das Ding.“
Vielleicht hättest du jemanden gefragt, der sich hier auskennt? Mich?
Ich überlege, mich bei ihm einzuhaken, jetzt, wo wir auf Kurs sind. Sein Phone spielt Eye Of The Tiger. Ich lasse es bleiben. Der Anrufer ist irgendein „Mark“, keine Frau, ich verliere das Interesse und höre höflich weg.
Das Café heißt nur „Kaffeehaus“, aber es hält wenigstens, was es verspricht. Zumindest war das früher so, der Kaffee war großartig. Ich nehme die zwei Stufen am Eingang mit einem Schritt.
„Warte mal.“ Sein Phone gibt einen Warnton von sich und lässt ihn auf dem Bürgersteig gefrieren. „In den Kritiken steht, der Latte Macchiato und die Apfeltorte sind grässlich.“
„Dann nimm keinen Latte Macchiato und keine Apfeltorte.“
„Aber …“
Latte Macchiato. Bah. Womöglich ist er Milchschaumtrinker.
„Kommst du oder nicht?“
Er bestellt seinen Kaffee schwarz, und wir entspannen uns beide. Unter dem Tisch starte ich heimlich aVoiceRecorder, falls ich das Gespräch später nochmal durchdenken will. Er verrührt einen Würfelzucker in seiner Tasse und erzählt, dass seine Eltern ihn schon in der Grundschulzeit zum Kaffeetrinker gemacht haben – mit viel Zucker und Milch. „Die konnten sich beide nicht vorstellen, wie ein Mensch einen Vormittag ohne Kaffee überstehen soll.“ Noch bevor die Karte gebracht wird und er über „Birnen, Bohnen und Speck“ staunt, hab ich beschlossen, ihn zu mögen. Sein Getue mit dem Phone – so unsympathisch ist es mir nicht. Darüber haben wir uns auch kennengelernt, bei aPartnerFinder. Und er sieht attraktiver aus, als ich erwartet hatte, das ist was ganz Neues. Das ist mir noch nie passiert.
„Kann das sein, dass du in deinem Profil irgendwie … bisschen tief gestapelt hast oder so?“
Er grinst. „Ein Experiment. Ich habe mich schwerer, kleiner und älter gemacht. Früher hab ich immer in die andere Richtung gelogen, aber jetzt hab ich es satt. Den ganzen Abend den Bauch einziehen und mir Gedanken über graue Haare machen, ich bin fertig damit.“
Ich versuche mich zu erinnern, wie viel ich in meinem Profil gelogen habe. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, meine grauen Haare anzugeben oder überhaupt irgendein Gewicht einzutragen. Er legt eine Hand auf meine.
„Macht es dir was aus, dass unser Altersunterschied doch nicht so groß ist?“
„Nein, natürlich nicht. Wie kommt das Experiment denn so an?“
Er lehnt sich zurück. „Das wirst du mir sagen müssen. Seit ich dieses Profil habe, hat sich niemand mehr bei mir gemeldet – nur du. Reden wir also über dich. Was zieht dich zu alten pummligen Männern hin?“
Ja, was? Nichts natürlich, aber er ist der beste in der Datenbank, biologisch gesehen. Der beste für mich, seine immunologischen Marker so verschieden von meinen wie nur möglich. Sonst habe ich kaum was über ihn rausgefunden, aber strenggenommen war mein Hack nicht ganz legal. Was zieht mich zu alten dicken Männern hin? Ich gebe bei meinem Gehirn eine originelle Antwort in Auftrag, originell und charmant und möglichst weit weg von der Wahrheit, aber natürlich kommt nur schräges Zeug zurück. Witzchen über die wichtigsten Männer in meinem Leben, Vater, Großvater, Weihnachtsmann. Übrigens haben auch alle vier einen Bart, auf seinem Profilfoto hatte er noch keinen. Ob sein Bart lang genug ist, dass er sich weich anfühlt oder wird das kratzen? Verdammt, er wartet immer noch auf eine Antwort …
Ein Kellner schiebt sich zwischen uns mit Besteck und einem Brotkorb, ich sage irgendwas Belangloses über die Brotsorte, wähle eine Scheibe, nehme einen Bissen, kaue, schlucke, und dann habe ich seine Frage auch vergessen und stelle stattdessen ihm eine.
„Was in deinem Profil ist noch Teil des Experimentes? Der Beruf auch?“
„Dein hoffnungsvoller Unterton deprimiert mich. Nein, ich arbeite tatsächlich bei der Bank. Aber ich verspreche, das heute nicht mehr zu erwähnen, es sei denn, du fragst mich danach. Und du? Du hast geschrieben ‚IT‘?“
Ich zeige auf das Phone, das neben seinem Ellbogen auf dem Tisch liegt. „Ich entwickle und teste Apps.“
„Im Ernst?“ Er scheint ehrlich beeindruckt. „Welche denn?“
„An aCityMap habe ich mitgearbeitet. Zum Beispiel.“ Ich mag ihn. Es gibt keinen Grund, hier irgendwas rauszuzögern. Ich stehe auf. „Entschuldige mich kurz – wenn der Kellner vorbeikommt, ich nehme ein Pils zum Essen.“
Ich finde die Toilette nicht gleich, es ist doch zu lange her, seit ich hier war. Oder sagen wir es anders, ich war eine sehr wertvolle Testperson für aCityMap. Seinen Kaffeelöffel trage ich sorgfältig in der Hand verborgen, dennoch so, dass ich nur den Stiel berühre. Jetzt kann ich’s kaum abwarten, schließe mich in einer Kabine ein, rupfe das Phone aus der Hosentasche und klappe den aDNAnalysator aus. Vorsichtig streiche ich den Löffel über den Sensor. Mit Speichel geht es nicht immer, ich muss darauf hoffen, dass sich genügend Zellmaterial von seinem Mund gelöst hat. Und es funktioniert! Die Onlineverbindung zu genome-check.com baut sich automatisch auf, ich rufe meine eigenen passwortgeschützten Genomdaten ab und wähle „Combine“. Jedes theoretisch mögliche Kind wird mindestens 1,90m groß – wow. Beeindruckt gehe ich die Liste durch, das meiste sieht so gut aus, dass ich aus dem Grinsen nicht mehr herauskomme. Bis zu der Rubrik „erhöhte Krankheitsrisiken“. Chorea Huntington. Ich lese autosomal-dominant vererbt, ich lese Veitstanz, ich lese neuro-degenerativ, ich lese tödlich.
Ich lehne mit dem Rücken gegen die Kabinentür und schließe die Augen. Wie lange er wohl noch hat, bis es ausbricht?
Er empfängt mich mit einem breiten Lächeln, dabei lässt er sein aPhone verstohlen in die Jackentasche gleiten. Vermutlich hat er gerade etwas Ähnliches angesehen wie ich, nur harmloser. aDateAnalyzer oder so. Und was immer er erfahren hat, es macht ihm gute Laune. Ich lächle auch und fühle mich schäbig dabei, aber das ändert nichts. Es ist Zeit, ihn wieder in den Zug zu setzen.
Zu Hause starre ich lange blind auf das aPhone, bevor ich es anschalte. Kandidat Zwei hat mir auf Facebook geschrieben, wir verabreden uns für Mittwoch. Im Menü „Favoriten“ habe ich das wichtigste App gespeichert, ready-to-launch. Ich starte aVibe und streife meinem Phone die Schutzhülle über.