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Anna
Anna
Anna hat gelernt, nicht zu fragen.
Sie sieht zu, wie Martin seine Sachen zusammensucht. Gleich wird er gehen. Vielleicht wird er wiederkommen. Es ist seine Entscheidung.
Sie sieht zu Boden, als er ihr näher kommt. Seinem Blick kann sie ohnehin nicht standhalten, jetzt noch weniger als vorhin. Vielleicht kommt er zurück, vielleicht auch nicht. Vielleicht will sie es so, vielleicht auch nicht.
Martin hat einen Schlüssel. Also wird er tun, was er will. Solange er ihr nur ein wenig Zeit gibt. Solange es nicht zu lange dauert. Er geht um das Bett herum, während er sein Hemd zuknöpft. Das Pochen in ihrem Auge wird heftiger, als er näher kommt. Aber das wird vergehen. Unwillkürlich fährt ihre Hand ans Auge. Aber er beachtet sie nicht, sondern nimmt seine Uhr vom Nachttisch. Es wird Tage dauern, bis es abschwillt und wieder eine normale Farbe bekommt. Aber er hat das Schlafzimmer schon verlassen. Er wird nicht sehen, wie es sich von Tag zu Tag verändert. Wenn er wiederkommt, wird sie lächeln, als hätte er es nicht getan. Auch diesmal nicht.
Es ist spät, als Mama ihr einen Kuss auf die Stirn gibt, auf ihren Weg durch das kleine Wohnzimmer. Sie glaubt, dass Anna schläft. Deshalb hat sie sich umgezogen und schleicht sich raus. Fast jede Nacht. Vorbei an der Couch, auf der Anna vorgibt zu schlafen.
Mama ist nicht lange weg. Sie bringt dann einen Mann mit. Und sie gehen in Mamas Schlafzimmer nach nebenan. Anna tut, als ob sie immer noch schläft. Dann tut sie, als ob sie nicht hört, was im Schlafzimmer passiert. Manchmal ist der Mann schon früh wieder weg. Dann geht Mama noch mal raus. Anna hat gelernt, nicht zu fragen. Nicht danach, wohin Mama geht. Oder woher die Männer kommen.
Einmal hat Anna sich an die Tür geschlichen und hineingespäht. Nur einmal. Sie hat Mama aufschreien gehört, dann hat der Mann sie geschlagen. "Hure", hat er ihr ins Gesicht gebrüllt. Dann ist er aus der Wohnung gestürmt. Anna hat hinter der Couch gesessen und darauf gewartet, dass Mama aufhört zu weinen.
An die Tür geht sie nicht mehr. Auch nicht, wenn es laut wird. Still liegt sie auf der Couch und lässt es vorübergehen. Wartet, dass er geht. Hofft, dass er durch das Wohnzimmer geht, ohne sie zu sehen. Und wenn er sie doch entdeckt, dann tut sie so, als würde sie schlafen. Manchmal hilft es. Manchmal glaubt sie beinahe selbst, dass sie schläft. Denn dann ist es weniger schlimm.
Sie kann hören, wie Mama duscht. Das tut Mama jede Nacht. Sie schickt den Mann nach Hause und duscht. Das weiß er genau. Deshalb kommt er. Er geht bis zur Wohnungstür, öffnet sie, schließt sie, und kniet sich neben Anna, während Mama duscht.
Er ist jetzt an der Wohnungstür und Anna kann hören, wie die Tür sich öffnet und ins Schloss fällt. Sie schließt die Augen und wartet. Wartet darauf, dass er wiederkommt. darauf dass er zu ihr kommt. Aber heute geschieht nichts. Vielleicht kommt er morgen zurück. Oder auch nie. Wie schon so oft.
Langsam steht sie auf und geht in die Küche. Nimmt ein Küchentuch aus der Schublade und geht zum Kühlschrank. Sie hat noch Eiswürfel. Dann wird es nicht so schlimm. Eigentlich ist es zu spät. Das Auge ist schon fast zugeschwollen.
Blinzelnd fällt ihr Blick auf die Kühlschranktür. "Hure" hat er in den Lack geritzt. Sie kann noch das Quietschen hören. Den Dosenöffner hat er wie einen Dolch gehalten.
"Hure." Tränen quellen aus dem lädierten Auge, aber sie weiß nicht, warum. Vielleicht weil er sie so genannt hat. Vielleicht weil sie es ist. Vielleicht weil es Erinnerungen zurückruft. Sie will es nicht wissen.
Denn Anna hat gelernt, nicht zu fragen.