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Anna Irene und das Oktoberfest (13)
Bereits als Anna Irene noch im Kindergarten war, mußte Frau K. sie einmal im Jahr für zwei Wochen woanders hingeben. Sie ist Serviererin in einer großen Restaurantkette, von wo aus sie regelmäßig aufs Oktoberfest nach München geschickt wird – nur im Vorjahr konnte sie zu Hause bleiben, da Anna Irene gerade erst mit der Schule begonnen hatte. Aber heuer ist es wieder soweit. Natürlich lehnt sie nicht ab, denn es bringt mehr Geld als die übliche Arbeit ein. Eigentlich könnte Anna Irene während dieser Zeit auch mit Onkel Joe alleine zuhause sein, aber Frau K. traut ihm das nicht zu.
Bisher konnte sich Anna Irene während dieser Zeit über den Aufenthalt bei einer Schwester von Onkel Joe, Tante Hilde, freuen, die selbst zwei Kinder hat – Nicole und Andreas, beide sind etwas jünger als Anna Irene. Dort fühlte sie sich immer sehr wohl, niemand redete den Kindern drein, sie konnten spielen was und wo sie wollten. Trotzdem war immer jemand für sie da, wenn sie etwas brauchten. Am liebsten waren sie im Kukuruzfeld* hinterm Haus – es war für Anna Irene jedesmal ein richtiges Oktoberfest...
Vor zwei Jahren sollte sie einen Brief an ihre Mutter schreiben. Das forderte sie vorm Wegfahren und wies auch Tante Hilde an, darauf zu achten, daß Anna Irene ihrer Pflicht nachkam, und ihr dabei zu helfen. Eine Stunde saß sie vor dem Blatt Papier, auf dem sich keine Worte einfinden wollten. Sie wollte ihr nichts erzählen. Hilde saß neben ihr, um ihr den Brief vorzuschreiben, denn Anna Irene konnte ja noch nicht schreiben, nur abschreiben. So machte Hilde ihr auch einige Vorschläge, was sie erzählen könnte, doch all das lehnte Anna Irene ab. Schließlich konnte sie sich aber doch überwinden, um endlich diese lästige Aufgabe hinter sich zu bringen:
»Liebe Mutti!
Es geht mir gut.
Deine Anna Irene«
Ein paar Monate später, als Onkel Joe und Anna Irene an einem Samstag gemeinsam dort zu Besuch waren, verstanden sich die Kinder gerade wieder einmal prächtig und wollten sich nicht voneinander trennen. Alle drei redeten auf Onkel Joe ein, bis er endlich die Frage, ob Anna Irene diese Nacht hier übernachten dürfe, mit »Ja« beantwortete. Hilde beendete die beginnende Diskussion über Pyjama und frisches Gewand für den nächsten Tag, indem sie aus Nicoles Schrank passende Stücke herausfischte. Anna Irene war immer eher klein und Nicole nur ein Jahr jünger als sie, es gab überhaupt keine Probleme.
Die beiden Mädchen saßen gerade miteinander in der Badewanne und hatten einen Riesenspaß dabei, als es an der Tür klingelte. Onkel Joe war wieder zurückgekommen.
»Die Mutti will, daß du nach Hause kommst. Sie meint, daß du zuhause dein eigenes Bett hast und wenn es dir nicht gut genug ist, dann könntest du ja ausziehen. – Es ist wohl besser, du kommst mit.«
Eine Weile blieben sie noch, damit Anna Irenes Haare trocknen konnten. Während der Zeit stieg Angst in ihr auf, sie ahnte, daß ihre Mutter nun böse sein würde. Sie wußte sofort, daß es ein schwerer Fehler war, zu fragen, ob sie über Nacht bleiben dürfe. Aber immerhin war Onkel Joe mit ihr, also würde ihre Mutter nicht handgreiflich werden.
Daß sie sich so zurückhalten mußte, war Frau K. gar nicht recht. Sie unterdrückte es bis zum nächsten Tag und wärmte dann das Thema noch einmal auf. Es endete in üblichem Haarereißen und Gegen-die-Badewanne-Stoßen, das Anna Irene ohne zu schreien weinend über sich ergehen ließ.
Aber es ging nicht nur um diesen einen Abend. Anna Irene darf seither überhaupt nicht mehr bei Tante Hilde übernachten. Scheinbar hat es ihr dort zu gut gefallen. Deshalb fährt sie heuer während des Oktoberfestes zur Schwester ihrer Mutter, Tante Dora, nach Wien. Sie ist noch Studentin und hat Zeit. In der Schule hat Frau K. erzählt, es ginge nicht anders, und so wurde Anna Irene für die Zeit freigestellt.
Frau K. liefert Anna Irene ab und bleibt noch rund zwei Stunden, bevor sie wieder Richtung Bahnhof aufbricht.
Kurze Zeit, nachdem sie die Wohnung verlassen hat, ziehen sich plötzlich alle aus. Anna Irene findet das sehr seltsam und ist erst einmal verwirrt. Vielleicht aufgrund ihres fragenden Blickes, wird sie sofort von Onkel Michael aufgeklärt:
»Wir stellen uns gegen die gesellschaftlichen Konventionen und deshalb gehen wir zu Hause nackt. Wir brauchen uns nicht voreinander genieren, Gewand ist etwas Unnatürliches. Wir sind frei von solchen Zwängen, die die Gesellschaft uns auferlegt hat. Nacktheit ist nichts Schlechtes. Zieh auch du dich aus.«
Tante Dora lächelt bestätigend und auffordernd.
Es ist ihr unangenehm, sich nackt auszuziehen und so in der Wohnung herumzulaufen. Schließlich wird sie ermahnt: »Zieh dich doch endlich aus! Du wirst sehen, wie frei du dich dann fühlst. Außerdem wäre es doch unfair, wenn wir nackt sind und du unter deinem Gewand versteckt bleibst.«
Widerwillig zieht Anna Irene ein Stück nach dem anderen aus, während ihr Cousin Michi ihr zusieht. Sie will am liebsten im Boden versinken, setzt sich aber dann doch auch zum Tisch. Michi setzt sich neben sie, ihm gegenüber sitzt Michael mit seiner stark behaarten Brust. Wenn Anna Irenes Blick über den Tisch schweift, tauchen hinter Doras Teller zwei riesige Hängebrüste auf.
»Mahlzeit!« – »Mahlzeit!« – »Mahlzeit!« – »Guten Appetit!«
Wenn sie außer Haus gehen und sie sich wieder anziehen kann, ist Anna Irene jedesmal froh. Liebend gern verbringt sie Stunden mit Michi auf einem der einfallslosesten Spielplätze, während sie sich vorstellt, wie schön es jetzt mit Nicole und Andreas im Maisfeld wäre. Oder sie fährt mit ihm in der Straßenbahn herum. Michi ist nämlich zur Selbständigkeit erzogen und durfte bereits mit fünf Jahren alleine Straßenbahnfahren. Jetzt ist er immerhin schon fast sechs. Er wirkt allerdings auch sehr gescheit und kennt sich in Wien bereits aus.
Anna Irene ist diese Selbständigkeit unheimlich. Bei der Vorstellung, ganz alleine unterwegs zu sein, bekommt sie Angst. Noch nie ist sie mit der Straßenbahn ohne Begleitung unterwegs gewesen, immer nur mit ihrer Mutter. Dabei gibt es in Wien viel mehr Linien als bei ihr zuhause in Linz. Anna Irene ist sich sicher, sie könnte das nicht. Sie würde sich alleine hoffnungslos verirren und irgendjemand könnte ihr Böses tun. – Aber im Moment hat sie ja Michi dabei, also ist sie nicht alleine.
Zu Hause fallen Michi trotz seiner Klugheit nur Blödheiten ein. Besonders, wenn Michael und Dora nicht da sind. Er wählt gerne blind Telefonnummern, um dann fremde Leute zu sekkieren. Oder er klettert auf den Kasten, um von dort aufs Bett zu springen. Dabei verletzt er sich einmal, worauf er Tante Dora anruft und anschließend aus einer Lade einen Krankenschein holt. Die beiden fahren sogar alleine ins Krankenhaus. Anna Irene hat den Eindruck, als würde der Arzt Michi schon kennen, ist sich aber nicht sicher. Vielleicht ist er auch nur einfach sehr nett.
Während Michi beim Arzt ist, sitzt Anna Irene im Warteraum. Wahrscheinlich geht es mir doch ganz gut bei meiner Mutti. Sie tut mir zwar oft weh, aber sie würde mich niemals alleine ins Krankenhaus schicken. Sie kümmert sich schon mehr um mich als Tante Dora sich um Michi kümmert...
Die Tür geht auf, Michi kommt verarztet wieder heraus und beide Kinder fahren wieder mit der Straßenbahn zurück.
Zwei Tage später steht ein Praterbesuch am Programm, auf den sich Anna Irene besonders freut. Sie war noch nie zuvor im Wiener Prater. Bevor sie hinfahren, bekommt jedes der Kinder hundert Schilling. »Damit könnt ihr machen, was ihr wollt. Teilt es euch gut ein – mehr gibt es nicht.«
Im Prater sitzen Dora und Michael im Gastgarten eines Restaurants, während die Kinder sich alleine auf den Weg machen, um die hundert Schilling bei den diversen Geräten auszugeben. Michi kennt sich auch hier gut aus und das Geld ist schnell verbraucht. Das Kettenkarussell gefiel Anna Irene am besten und sie würde gerne noch einmal dort fahren, deshalb bettelt sie jetzt Tante Dora an, ihr das noch zu bezahlen. »Du hättest dir das eben besser einteilen müssen. Michi hatte genausoviel Geld wie du und bettelt jetzt auch nicht.«
»Michi kommt ja auch öfter in den Prater als ich...«
»Aus, nein, es gibt nicht mehr«, sagt Dora fest und bestimmt.
Während der Rückfahrt denkt Anna Irene an Onkel Joe. Er hätte ihr bestimmt noch eine Fahrt mit dem Kettenkarussell bezahlt. Er hätte sie gern lachen gesehen und ihr die Freude gemacht. Dessen ist sie sich sicher und mit der Vorstellung tröstet sie sich schließlich auch. Auch, als sie abends schlafen geht, denkt sie noch immer an ihn. Wenige Tage später ist sie zum ersten Mal froh, daß das Oktoberfest endlich zu Ende ist und ihre Mutter sie abholen kommt.
Im Zug fragt Frau K.: »Und, wie hat es dir gefallen?«
»Gut«, sagt Anna Irene.
*Kukuruz = Mais
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Zur ersten Geschichte von Anna Irene geht es hier:
1. Februar 1965, eiskalt
Die nächste Folge findet Ihr hier: Froh zu sein bedarf es wenig