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Anna Irene: Stich für Stich (17)
»Meine Eltern hab ich gut erzogen«, prahlt Harald. »Die schimpfen nicht mehr, das hab ich ihnen längst abgewöhnt.«
»Und wie hast du das gemacht?«, will Anna Irene wissen.
»Ich hab ihnen einfach nicht mehr gefolgt. Hausarrest? Ich geh einfach, und wenn ich wieder komme, sind sie froh, dass ich wieder da bin, weil sie mich dann nicht suchen müssen!«
»Das glaubst du doch selber nicht«, spricht Sabine aus, was auch Anna Irene denkt.
»Mein Vater kommt erst abends heim, und wenn er beim zweiten Bier ist, ist ihm sowieso alles egal. Meine Mutter kommt gegen mich nicht mehr an, für die hab ich schon zu viel Kraft, die kann mich zu gar nichts mehr zwingen.«
So wenig Anna Irene glauben kann, was Harald erzählt, so sehr beneidet sie ihn um seine vermeintliche Freiheit.
Ich muss es doch auch irgendwie schaffen, dass Mutti weniger schimpft? Irgendwann muss das doch aufhören, irgendwann bin ich doch sicher groß genug, dass sie mir nicht mehr ständig weh tut? Harald hat es gut, dass er schon mehr Kraft hat als seine Mutter, aber ich würde mich ja gar nicht trauen, mich zu wehren… Sie würde mich umbringen … Ich muss halt nur alles so machen, wie sie es will …
Anna Irene ist froh, dass viele ihrer Freunde aus den Hochhäusern nun mit ihr in einer Klasse sind. Auch ihre beste Freundin Liesi ist darunter, und bald sind sie gemeinsam mit ein paar anderen Kindern eine Clique, in der sie stark sein können, weil jeder alleine zu schwach wäre. Eigentlich waren sie ja immer schon Freunde, aber nie saßen sie alle gemeinsam in einer Klasse. So gefällt Anna Irene die Aussicht auf die nächsten Schuljahre.
Die Freundschaft mit Liesi vertieft sich immer mehr, sie gehen Arm in Arm auf der Straße, nennen sich gegenseitig »Mausi« und tauschen schon gekaute Kaugummis. Wer die beiden zehnjährigen Mädchen gemeinsam sieht, muss sie wohl für die glücklichsten Kinder halten.
Frau K. beginnt mit ihrer Umschulung, damit sie nicht mehr als Serviererin arbeiten muss. Deshalb meldet sie Anna Irene in einem Hort an, nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt.
So kann Anna Irene nach der Schule ein Stück Weg mit ihrer Freundin gemeinsam zurücklegen. Bevor Liesi zu sich nach Hause weitergeht, stehen sie oft noch zehn oder gar fünfzehn Minuten vor der Horttür, um sich zu verabschieden oder für später einen Treffpunkt auszumachen. – Bei Frau K. zuhause kann sich Anna Irene solche Unpünktlichkeiten nicht erlauben, sie flöge gegen die Badewanne oder würde an den Haaren gerissen und zusammengeschrien. Hier im Hort ist niemand so genau, was Anna Irene ein Gefühl von Freiheit vermittelt. Das geistige Gefängnis kommt sie erst um sechzehn Uhr abholen.
»Warum kann ich nicht alleine vom Hort heimgehen? Das hab ich doch früher schon dürfen…« Anna Irene ist es unangenehm, mit Frau K. auf der Straße zu gehen, aber das kann sie natürlich nicht zugeben. Sie geniert sich für diese Frau und möchte sich möglichst weit abgrenzen. Manchmal schaut Anna Irene unbeteiligt weg, damit es so aussieht, als gehöre sie nicht zu ihr.
»Früher musstest du auch nicht die Dauphinesstraße überqueren! Und warum sollte ich dich denn nicht abholen. Ich lass mir doch nicht zum Vorwurf machen, ich würde mich nicht kümmern.«
Beim anderen Hort in der Volksschule hat ihr das nichts ausgemacht, komisch … Und nach der Schule muss ich doch auch über die Dauphinesstraße …
Nach einer kurzen Pause entrüsteten Atmens setzt Frau K. nach: »Andere Kinder wären froh, wenn sich überhaupt jemand um sie schert!«
Ja, eigentlich sollte ich mich freuen … aber ich kann nicht … ich will alleine nach Hause gehen, oder mit anderen Kindern, aber nicht mit ihr … dann will sie den ganzen Weg lang wissen, was in der Schule war und fängt schon im Aufzug mit dem Haarereißen an … und wenn sie die Wohnungstür aufgesperrt hat, hält sie den Arm wieder so, dass ich unten durch gehen muss und ihr gar nicht auskommen kann …
Nach den ersten drei Monaten ihrer Ausbildung muss Frau K. alle paar Wochen auf Praxis in verschiedene Altenheime nach Deutschland fahren. Angesichts der Häufigkeit und zeitlichen Verteilung übers Schuljahr bleibt ihr nichts anderes übrig, als Anna Irene mit Onkel Joe alleine zu lassen.
Ängstlich, als müsste sie ein Kind plötzlich unvorbereitet alleine in den Kindergarten schicken, sagt sie zu ihm: »Da müsst ihr ohne mich zurechtkommen … hoffentlich schaffst du das … Ich werde für jeden Tag etwas vorkochen und einfrieren, das brauchst du dann nur auftauen …«
»Wir werden uns schon was zum Essen machen, und bei meiner Mutter oder meinen Schwestern bekommen wir sicher auch etwas. Mach du dir da keine Sorgen«, entgegnet Onkel Joe.
Frau K. schaut verdattert und sucht nach Worten. »Was … Wieso … Ist dir das, was ich koche, jetzt nicht mehr gut genug?!«
In Onkel Joes Blick steht »Du spinnst« geschrieben.
Vielleicht, weil sie sich plötzlich bewusst ist, dass sie ihn braucht, erwidert sie nichts.
Aus irgendeinem, für Anna Irene noch nicht ersichtlichen Grund beginnt Frau K. sich plötzlich in der SPÖ-Linz-Kleinmünchen zu engagieren.
Der Wahlkampf für die zweite Kandidatur Kreiskys wird eingeläutet und die Partei kann wirklich jede Hilfe gebrauchen.
Anna Irene freut sich über das orangefarbene T-Shirt mit dem aufgedruckten Einser, welches ab nun ihr Lieblings-Leiberl wird. Dazu Jeans und Turnschuhe – und nicht einmal Frau K. meckert, denn vor der Partei macht es ja einen guten Eindruck, wenn die Tochter als Wahlwerbe-Litfaßsäule herumläuft.
Die Wochen mit Onkel Joe alleine sind jedesmal eine Erholung für Anna Irene. Mit ihm geht alles ohne Druck und Stress, ohne Schimpfen und Gewalt. Wenn sie Frau K. gemeinsam am Bahnhof abliefern, winkt Anna Irene ihr freudig nach. Froh, dass sie wieder weg ist. Beim Abholen hofft sie immer auf möglichst lange Verspätung.
Vielleicht gibt es ja einmal ein Zugunglück und sie kommt nicht mehr …
Doch sie kommt immer wieder zurück und schwärmt dann, wie toll die Altenheime sind. Meist kommt erst nach ihrer Ankunft eine Ansichtskarte, auf der sie das Fenster ihres Zimmers mit einem x markiert hat, damit Onkel Joe und Anna Irene wissen, wo sie geschlafen hat. Ganz besonders schön soll ja das Heim in Bremen sein.
Ob sie uns das alles erzählt, damit wir wissen, wo sie hin möchte, wenn sie alt ist?
Anna Irene bettelt in Frau K.s Abwesenheit Onkel Joe einen seiner Ledergürtel ab. Sie möchte unbedingt so einen breiten Herrengürtel mit metallener Schnalle. Er passt gerade noch durch die Schlaufen ihrer Jean und sieht nicht gerade mädchenhaft aus, aber genau so will sie es auch haben. Sie will Onkel Joe ähnlicher sein als ihrer Mutter. Und irgendwie fühlt sie sich auch stärker damit. Größer. Sicherer. Geschützt durch das breite Leder. Anna Irene traut sich sogar, Frau K. zu widersprechen, als diese darüber nörgelt. – Aber gegen das Argument, der Gürtel sei doch von Onkel Joe, und daher möchte Anna Irene ihn tragen, fällt Frau K. kein Einwand ein. Stattdessen erinnert sie sich an die Worte ihrer Schwester, man solle Mädchen nicht zu Mädchen erziehen. So duldet sie den Gürtel von Anna Irene und fühlt sich dabei wieder einmal richtig emanzipiert. Als sie das nächste Mal mit Tante Dora telefoniert, erzählt sie dieser stolz: »Die Anna Irene richtet sich schon ganz wie ein Bub her«, und kichert künstlich.
Für das Ende der Sommerferien wird auf dem Spielplatz gegenüber von Anna Irenes Haus ein großes Wahlkampf-Fest geplant, bei dem es auch einen Flohmarkt geben soll. Frau K. sagt in der Partei ihre Mitarbeit zu und nimmt auch Anna Irene und Onkel Joe zum Helfen mit, als von den Leuten aus der Umgebung gemeldete Sachen eingesammelt werden, die dann verkauft werden sollen. Anna Irene macht es Spaß, die alten Sachen abzuholen, und gleichzeitig hat sie das Gefühl, den Wünschen ihrer Mutter zu entsprechen.
»Und bei deinen Sachen kannst du auch gleich ausmisten, da ist jede Menge zum Hergeben«, fordert Frau K., kaum dass sie wieder zuhause angekommen sind, »das kann ich beim nächsten Mal mitnehmen, dann sehen die wenigstens, dass auch von uns etwas kommt.«
Anna Irene hängt an ihren Sachen, sie will kein Spielzeug hergeben, nur weil sie zu alt dafür ist, denn sie hat noch so gut und schmerzhaft in Erinnerung, wie sie ihre BRIO-Eisenbahn herschenken musste und wenig später so gern wieder damit gespielt hätte.
Aber vielleicht kann ich ihr ja doch damit zeigen, daß ich schon groß bin, also muss ich vernünftig sein … und vielleicht erlaubt sie mir dann mehr … Ich geb halt meine Puppe her, ich soll ja eh nicht wie ein Mädchen spielen, also freut sich Mutti sicher, wenn ich sie hergebe … Den Teddybär behalt ich mir aber. Das Xylophon brauch ich nicht, weil sie kann es ja ohnehin nicht ausstehen, wenn ich darauf spiele, und dann bekomm ich immer nur geschimpft … Für das »Schwarzer Peter«-Spiel bin ich sicher schon zu alt, und wer darf mich denn schon besuchen, mit dem ich es spielen könnte? Die kleinen Bälle sind ja wahrscheinlich auch nur was für kleine Kinder … und ich geh sowieso lieber in den Hof, mit richtigen Bällen spielen. Da ist ja auch mein kleiner roter Ball, den ich schon als ganz kleines Kind gehabt hab, den ich immer beim Schlafen festgehalten hab, aber wenn ich groß sein will, muss ich mich wohl von ihm trennen …
Anna Irene hat zuvor noch nie einen Flohmarkt erlebt. Sie stellt ihn sich lustig vor und freut sich schon sehr darauf. Auch ihre Freunde werden bestimmt dabei sein und gemeinsam haben sie dann sicher viel Spaß. Mit diesen Gedanken tröstet sie sich die Trauer um ihre Spielsachen weg. Wenn ich jetzt weine, dann schimpft sie sicher wieder …
Zwei Wochen vor Schulschluss bekommt Frau K. eine freudige Nachricht durch ihre Schwester übermittelt: Sie kann bereits ab September in Wien zu arbeiten beginnen, da Tante Dora mit dem Chef der Wiener Pensionistenheime gesprochen hat, als sie neulich Bezirksparteisitzung hatten …
Um eine Wohnung bräuchte sie sich keine Sorgen machen, sie könne erst einmal in einer Personalschlafstelle unterkommen und sich für eine Gemeindewohnung anmelden – auch da würde sie ihr dann helfen, möglichst schnell eine schöne zu bekommen.
So teilt Frau K. dies Onkel Joe und Anna Irene als fertig ausgearbeiteten Plan mit, den sie in den nächsten Tagen, nach einem Besuch in Wien, noch ergänzt:
»In welche Schule du dann gehst, werden wir noch regeln.«
Anna Irene fällt das Herz vor Schreck in die Hose: »ICH MUSS MITKOMMEN?!«
»Naja sicher, was denn sonst?«
»Ich kann nicht mit Onkel Joe hier in der Wohnung bleiben und weiter hier in die Schule gehen?!«
»Nein, Joe ist ja nicht dein Vater«, meint sie kopfschüttelnd, dann beinahe singend: »Du wirst dich wohl oder übel auch von deinen Freunden und den Lehrern verabschieden müssen.«
Abends kann Anna Irene wie üblich nicht schlafen. Sie hört Frau K. mit Onkel Joe reden und schleicht sich an die Tür, um es besser verstehen zu können: »Die haben mir das so erklärt, dass Anna Irene und ich zwei Jahre in Wien gemeldet sein müssen, damit wir eine Wohnung bekommen. Das heißt, du bleibst solange hier und ziehst dann nach. Die Voest hat doch auch in Wien Niederlassungen? Da kannst du dich dann ja vielleicht hinversetzen lassen.«
Anna Irene würde gerne das Gesicht von Onkel Joe sehen, denn Worte hört sie keine. Sie legt sich wieder ins Bett und weint ihre Angst leise in den Polster. Ich bin dann dort ganz alleine … ohne Onkel Joe … ohne Liesi … ohne die andern … Wieso gerade jetzt, wo alles so schön ist?
In der Schule fühlt sie sich nicht mehr wie sonst. Eigentlich gehör ich schon jetzt gar nicht mehr dazu … Ich bin ja nicht mehr lang da, was hat das dann alles noch für einen Sinn?
Sie bleibt in der Pause sitzen und schaut den anderen zu, bis Liesi zu ihr kommt. »Was hast du denn heute?«
»Wir ziehen nach Wien.« Sie könnte in Tränen ausbrechen, kann sie aber doch gerade noch zurückhalten, um nicht von den anderen ausgelacht zu werden. Sie bringt nur ein »Jetzt werden wir wohl nicht gemeinsam groß …« heraus und muss schlucken. Liesi nimmt sie in den Arm.
Nach der Schule bereden die beiden, was sie alles gern zusammen gemacht hätten. Pferdestehlen hätten sie können. Stattdessen stehlen sie beim Greißler, der sich an den Schülern ohnehin dumm und dämlich verdient, eine ganze Cola-Kiste. Als Ersatz für Abenteuer, die sie nie wieder haben werden. Sie gehen hinein, das Geschäft ist voller Kinder, nehmen die Kiste und gehen. An der nächsten Ecke stellen sie sie ab, ziehen je eine Flasche heraus und laufen weiter.
Wenige Tage später verstecken sie sich in einem Hauseingang und üben schmusen – damit sie es können, wenn sie sich zum ersten Mal verlieben. Denn dann, wenn es soweit ist, haben sie sich ja nicht mehr.
»Und wenn der Flohmarkt ist, da sind wir aber schon noch da, oder?«, will sich Anna Irene bei Frau K. vergewissern.
»Nein, da sind wir schon in Wien«, antwortet Frau K. entrüstet, als wäre es so selbstverständlich wie das Aufgehen der Sonne, und Dummheit, es nicht zu wissen. »Ich hab dann ja jede Menge Wege zu erledigen, bevor ich zu arbeiten beginne. Du stellst dir das alles viel zu einfach vor.«
Wieso kann sie sich eigentlich nicht hier eine Arbeit suchen…? Nur weil Tante Dora in Wien wohnt, müssen wir auch da hin?
Während der Handarbeitsstunde nimmt Anna Irene die dünne Nähnadel und sticht damit an der Außenseite ihres Unterarmes vorsichtig ein, fährt unter der Haut entlang und nach zwei bis drei Zentimetern wieder hinaus. Ins Fleisch sticht sie dabei nicht. Sie zieht die Nadel durch, wobei die Stichstelle breiter wird, und wiederholt die Stiche einige Male parallel im Abstand von je einem Millimeter. Anschließend kann sie die Haut über der ganzen dadurch entstandenen rechteckigen Fläche anheben.
Eigentlich bin ja nur das unter der Haut ich …