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Anna Irene schreibt brav Briefe (07)
Erst wehrte sich Frau K. gegen die Anschaffung eines Telefones. Aber jetzt, wo schon fast alle Haushalte so ein Gerät haben, sogar schon ihre eigene Mutter, ließ sie sich doch von ihrem Lebensgefährten, dem „Onkel Joe", dazu überreden. Jetzt kann sie immer gleich, wenn sie sich über etwas ärgert, jemanden anrufen, dem sie dieses kundtut...
»Das ist doch nicht dein Ernst! Das ist doch jetzt alles schon gebucht! Wie kann dir denn so etwas einfallen?! Mein Gott, mein Gott, ...«, spricht sie entrüstet in den Hörer und legt auf. Sie überlegt, wie sie ihre Mutter doch noch umstimmen kann, den gemeinsam geplanten Urlaub zu finanzieren. Wenige Minuten später legt sie Anna Irene Zettel und Bleistift hin und spricht in befehlendem Ton: »Da, schreibst der Oma einen Brief, dabei übst du das Schreiben und die Oma freut sich! Schreibst ihn erst vor, und bevor du ihn schön und ohne Fehler schreibst, les ich ihn durch!«
Anna Irene sitzt vor einem weißen Blatt Papier mit grauen Linien. »Liebe Oma!« steht darauf. Sie hat keine Ahnung, was sie in einen Brief an die Oma schreiben soll, noch dazu in einen, den ihre Mutter liest. »Schreib ihr, wie es dir geht und ob es ihr gut geht«, lautet der weitere Auftrag. Sie beginnt nachzudenken, wie es ihr denn geht. Sicher geht es ihr gut, denn sie hat ja zu essen und zu trinken. Kinder, denen es schlecht geht, hat sie ja schon einmal im Fernsehen gesehen, die waren dabei, zu verhungern und hatten Wasserbäuche. Und so wie ihr, denkt sie, geht es vielen anderen auch, also wird das wohl normal sein. Sie schreibt »Mir geht es gut«, sitzt wieder da und weiß nicht weiter im Text. Was könnte die Oma interessieren?
»Schreib ihr von der Singschule, darüber freut sie sich!«, weiß Frau K.
»In der Singschule lernen wir gerade die Noten und zwei Lieder«, schreibt Anna Irene, dann findet sie, es ist genug und schreibt noch dazu »Wie geht es Dir? Bussi Deine Anna Irene«.
Dann wird der Text kontrolliert und Frau K. holt ein Briefpapier hervor, auf das Anna Irene nun den Brief sauber und gestochen schön schreiben soll, was ihr aber erst beim vierten Versuch gelingt. Dann wird er in ein Kuvert verpackt und Frau K. schreibt vor, was außen noch dazugeschrieben werden muß. »An Frau Professor …« kommt Anna Irene sehr seltsam vor, aber es wird schon stimmen so, wenn ihre Mutter das so sagt. Danach steckt Frau K. den Brief mit einem triumphierenden Lächeln in ihre Tasche.
Drei Tage später ist schon eine Antwort von Oma da. Auf einer Mecki-Karte und sie schreibt, daß sie diese so lustig fand, so habe sie diese für Anna Irene ausgesucht und ob sie diese denn auch so lustig findet. Sofort bekommt sie wieder Papier und Bleistift auf den Tisch gelegt. Diesmal weiß sie wenigstens, was sie schreiben soll, da ja eine Frage in dem Brief enthalten ist.
Schon nach wenigen Wochen empfindet sie das permanente Briefeschreiben als lästig und es macht ihr deshalb auch keinen Spaß. Sie würde gerne dann schreiben, wenn ihr etwas zu schreiben einfällt, stattdessen muß sie immer sofort antworten. Sonst wartet die Oma, und Frau K. möchte ihre Mutter friedlich gestimmt wissen. Sie möchte, daß diese doch noch den nächsten Urlaub bezahlt. Anna Irene erarbeitet den Urlaub mindestens einmal wöchentlich.
Schon auf der Hinfahrt nach Jugoslawien kommt es zu ersten Streitereien. Frau K. meint, daß Onkel Joe zu schnell fährt und wird hysterisch, was die Oma nicht aushält. Anna Irene bekommt Bauchschmerzen und kann von Linz bis Dubrovnik nicht aufs Klo gehen. Sie muß zwar schon ab der halben Strecke dringend, aber wegen der angeblichen Gefahren auf Autobahnparkplätzen läßt ihre Mutter sie nicht aus den Augen. Und wenn diese zusieht, kann sie nicht. Womit sie den nächsten Grund für ein Geschrei liefert, denn Frau K. glaubt nun, Anna Irene habe sie pflanzen wollen. Als sie das nächste Mal sagt, sie muß aufs Klo, bekommt sie die zornige Antwort: »Damit du dann wieder nicht gehst?! Wir fahren jetzt weiter, vorhin hättest du Gelegenheit gehabt!«
Onkel Joe bleibt nicht stehen, er widersetzt sich fast nie den Anordnungen von Frau K. und ein weiterer Streit läßt sich so ganz gut vermeiden…
In der Hälfte der zweiten von drei geplanten Wochen, kommt es schließlich zum endgültigen Krach zwischen der Mutter und der Oma. Diese beschließt, das ewige Gebrüll nicht mehr länger mitzumachen und reist mit dem Flugzeug ab, nachdem sie die Hotelrechnung der ganzen Familie für alle drei Wochen beglichen hat. Anna Irene sagt ihr noch heimlich, daß sie gern mit ihr abreisen würde, aber das hätte Frau K. ohnehin nicht zugelassen und bedarf daher keiner weiteren Diskussion. Anna Irene kann nicht flüchten, wie die Oma, ihr bleibt nichts anderes übrig, als die Urlaubslaune ihrer Mutter weiter mitzuerleben.
Zwei Tage später bekommt Anna Irene wieder einen Zettel, auf den sie "ein paar Zeilen an die Oma" vorschreiben soll, den sie anschließend auf eine Ansichtskarte übertragen muß:
»Liebe Oma!
Mir geht es gut. Das Wetter ist sehr schön.
Bist Du gut zu Hause angekommen?
Bussi
Anna Irene«
Das wird die Oma wieder positiv stimmen. Bis Weihnachten wird sie alles vergessen haben, wenn Frau K. mit ihren und Anna Irene´s Weihnachtswünschen kommt, die allesamt von der Oma finanziert werden.
Anna Irene schreibt brav Briefe.
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Susi P.
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Die nächste Anna Irene-Geschichte findest Du hier: Der Rorschach-Test, der Beginn von allem ist hier zu finden:
1. Februar 1965, eiskalt