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Serie Anna Irene: Achterbahn (20)

Seniors
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20.11.2001
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Anna Irene: Achterbahn (20)

… jede Träne, die geflossen ist,
obwohl sie abgewischt werden konnte,
ist eine Anklage …

Rosa Luxemburg, 1918​


Anna Irene stellt ihre Schultasche ab und dreht sich zu Uschi um, die mit zwei Plastiksäcken zur Schule gekommen ist. »Was hast du denn da heute mitgeschleppt?«
Uschi nimmt grinsend einen der Säcke, greift hinein und zieht ein altes Herrenhemd heraus, legt es auf den Tisch und holt das nächste hervor. »Die hab ich von meinem Opa bekommen«, sagt sie, während sie weitere Hemden auf den Tisch häuft. Pastell- und kräftige Töne; einfärbig oder mit verschnörkselten Mustern; lange Kragen und Vatermörder. »Wer will, kann eines anziehen!«
Dagmar nimmt ein blassrosa Hemd, schlüpft hinein und dreht sich einmal im Kreis. »Das passt dir gut!«, stimmen ihr die anderen beiden zu. Anna Irene entscheidet sich für ein weißes Baumwollhemd, auf das Ton in Ton filigrane, blumige Muster gestickt sind, und sie krempelt die Ärmel hoch. Am unteren Ende reicht es ihr fast bis zu den Knien. Aus dem zweiten Sack holt Uschi auch noch Krawatten, die sie sich locker über die Hemden binden. Lässig, denkt Anna Irene und fühlt sich plötzlich wie ausgewechselt. Als wäre das Hemd eine verkehrte Verkleidung, in der sie nicht mehr das darstellt, was sie sein soll, sondern so ist, wie sie sein möchte.

Die nächsten Monate verbringen die drei Mädchen jeden Schultag in den Großvaterhemden, die sie erst am Nachmittag wieder gegen das ordentliche Gewand tauschen, wenn sie die Schule verlassen.

*

Vor kurzem sind Frau K. und Anna Irene in eine Wiener Gemeindewohnung übersiedelt, nachdem sie fast zwei Jahre Wartezeit in dem Pensionistenheim verlebt haben, in dem Frau K. beschäftigt ist. Seit zwei Jahren kommt Onkel Joe, Anna Irenes Stiefvater, jedes Wochenende von Linz nach Wien; im letzten halben Jahr vor allem, um in der Wohnung zu arbeiten. Er hat eine Tür versetzt, Wände aufgestemmt, Kabel verlegt, Steckdosen montiert, Bad und Küche verfliest, alte Tapeten von den Wänden geschert und neu tapeziert, Teppichböden verlegt. – Anna Irene wollte ihm gern helfen, wie sie ihm auch in Linz vom Bauen kleiner Möbelstücke bis zum Wechseln der Autoreifen bei fast allem geholfen hat. Doch als sie mit ihm wie selbstverständlich mitgehen wollte, meinte Frau K. empört: »Was willst du denn in dem Dreck?!« Anna Irene hat gelernt, dass sie einer derartigen Frage nicht widersprechen sollte, und somit war dieses Thema schlagartig beendet.

Nun wohnen Frau K. und Anna Irene zwar in der Wohnung, in der Onkel Joes Arbeit steckt, er selbst bleibt aber noch so lange in Linz, bis er im selben Konzern eine Stelle in Wien gefunden hat.
Anna Irene erinnert sich oft daran, wie schön es war in Linz, wünscht sich die Zeit zurück, in der Onkel Joe mit ihr zu seinen Eltern gefahren und Frau K. zuhause geblieben ist, nur einen schönen Gruß und den Eierbehälter zum Anfüllen mitgegeben hat. Außer Hennen gab es dort auch verschiedene Obstbäume, einen riesigen Himbeerstrauch und Gemüsebeete im Garten, eine Werkstatt, in der Anna Irene Sägen gelernt hat, und im Haus Onkel Joes Jugendbücher samt einer kompletten Karl-May-Sammlung, in der Anna Irene immer gerne ein paar Seiten gelesen hat, wenn sie im Winter vom gemeinsamen Schneemännerbauen bereits genug hatte. Sie las diese Bücher als etwas, das sie mit ihrem Onkel Joe verbindet, weil er sie ebenfalls gelesen hat. Auch die vielen Schiausflüge sieht sie in ihrer Erinnerung; wenn sie am Sonntag frühmorgens aufgebrochen sind, um den ganzen Tag auf der Piste zu verbringen – während Frau K. zuhause Wollreste zu kleinen runden Knäueln wickelte. Auch, wenn er mit Anna Irene zum Schwimmen an den Pichlinger See oder in ein Hallenbad fuhr, hütete Frau K. die Wohnung, und zum Schwammerlsuchen kam sie genau einmal mit – um zu kontrollieren, ob Onkel Joe das auch korrekt machte und die Wurzeln in der Erde ließ. Und obwohl Frau K. so viel über Schauspieler weiß, als wären Filme ihr liebstes Hobby, saß Anna Irene immer allein mit Onkel Joe im Kino, teilte nur mit ihm ihr Lachen.
All die schönen Erlebnisse fehlen Anna Irene in Wien. Wenn sie hier einmal einen Ausflug machen, will Frau K. plötzlich immer mitkommen, weil sie erst alles kennenlernen muss, wodurch die Erlebnisse ein ernstes Spazierengehen von A nach B werden.
Ganz besonders vermisst Anna Irene aber das Gefühl, sicher zu sein vor ihr; denn wenn Onkel Joe da ist, geht Frau K. nie körperlich auf Anna Irene los, dann schreit sie höchstens herum. Aber jetzt ist Onkel Joe nur am Wochenende da. In Linz konnte sie sich darauf verlassen, dass die tägliche Erleichterung wochentags kurz nach fünf einsetzte: Der Schlüssel, der ins Schloss fuhr, war das schönste Geräusch des ganzen Tages. Seit zwei Jahren ist dieses Geräusch passé, die Angst hat nur am Wochenende Pause; aber es würde sich bestimmt wieder ändern, wenn er nur endlich auch da wohnen und arbeiten würde.

*

Zweimal im Monat geht Frau K. zu den Sektionstreffen der Partei, in der ihre Schwester mitarbeitet. Manchmal begleitet Anna Irene sie in das Parteilokal, um ihre Tante Dora und ihren Cousin Michi zu sehen, und ab und zu verdient sie sich bei einer Veranstaltung mit dem Streichen und Verkaufen von Schmalzbroten ein paar Schilling zusätzliches Taschengeld, während Frau K. ihr Gesicht badet. Sich also sehen lässt, um gesehen zu werden und die Parteifunktionäre somit wissen, dass sie zu den ganz besonders Treuen gehört. Und sie findet nichts dabei, es selbst so zu bezeichnen – in scherzhaftem Ton, als wäre es in Wirklichkeit gar nicht so, als würden das nur einige andere tun.
Als sie diesmal hinkommen, sind gerade stapelweise Broschüren und Pickerl zur neuesten SPÖ-Kampagne eingelangt, die unter die Leute gebracht werden sollen. Frau K. platziert demonstrativ eines der Abziehbilder auf ihrer großen, rechteckigen Lederhandtasche und lächelt stolz durch den Raum.
Zuhause werden dann noch Frau K.s Buchkalender und ihr Aktenkoffer aus weinrotem Leder, auf dem sich auch schon ein »Ich bin ein freundlicher Wiener«-Pickerl befindet, mit der neuen Errungenschaft verziert. Der Umriss eines Herzens ist darauf gezeichnet, aus dem ein sommersprossiger Bub und ein Mädchen mit Zöpfen lachen, und in roter Schreibschrift steht darunter:

»Liebe statt Hiebe«​

Seit Beginn des Jahres haben österreichische Eltern kein Züchtigungsrecht mehr, das soll den Menschen nun bewusst gemacht werden. Selbstverständlich unterstützt Frau K. jede Parteiinitiative.
Hört sie jetzt doch auf damit, immer auf mich loszugehen? Wenn sie sich das schon auf ihre Tasche … Anna Irene zieht die Folie von der Klebefläche und streicht einen Aufkleber in Augenhöhe auf ihre Zimmertüre.
Als Frau K. das erblickt, meint sie: »Du kannst doch nicht die neu lackierte Tür damit ruinieren!«
Solange es drauf bleibt, kann ja nichts passieren … »Ich nehm’s eh nicht mehr runter.«
Frau K.s Augen werden größer, wie bei einem Tier, das seinem Opfer körperliche Überlegenheit demonstrieren will, dann brüllt sie: »Was erlaubst du dir, so frech zu sein! Na wart nur!«
Nein, bitte tu mir nichts … da ist es so eng … der Türstock … Anna Irene schaut nach hinten, weicht einen Schritt zurück, zieht den Kopf ein. Frau K.s Pupillen fahren wild umher, am Hals bekommt sie rote Flecken, ihre Krallen zucken, dann wendet sie sich zornig ab, wie auf einen Pfiff des Dompteurs.
Anna Irenes Herz schlägt, als wollte es die Rippen sprengen, hinter denen es eingesperrt ist. Sie wundert sich kurz, dass sie nicht, wie sonst, an den Haaren gezogen und irgendwo dagegengestoßen wird, dann kommt Frau K. zurück, schüttelt den erhobenen Zeigefinger im Takt der Worte »Eines sag ich dir: Du schneidest dich damit nur ins eigene Fleisch!«, dreht sich um und geht wieder.

Anna Irene setzt sich aufs Bett, lehnt ihren Rücken an die Wand, schlägt die Biographie von Rosa Luxemburg auf, die sie von Tante Dora bekommen hat, schaut in die Seiten, ohne sich auf die Worte konzentrieren zu können. Das wäre schon ur komisch, wenn sie mir plötzlich wegen dem Pickerl nicht mehr weh tun würde. Irgendwie würde dann etwas fehlen … ich müsste mich gar nicht mehr vor ihr fürchten. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, nach dem vielen Haarereißen, oder den Stecknadeln, mit denen sie mir die Augen ausstechen wollte … unheimlich wäre das … Sie kann mich doch nicht jetzt auf einmal … lieb haben? … So tun, als wäre sie nie böse gewesen, hätte mir nie weh getan? Wenn sie mich in die Arme nehmen würde … das wäre … ekelig. Sie hat mich doch nie lieb gehabt … Nein, das will ich gar nicht, nicht von ihr … jetzt nicht mehr … ich würde das gar nicht … es ist … Ein undefinierbares Angstgefühl überkommt Anna Irene bei dem Gedanken. Langsam macht sie das auf ihren Beinen liegende Buch zu und betrachtet die weißen Herzen auf der grünen Ikea-Tapete, die das ganze Zimmer vom Boden bis zur Decke schmücken; Tränen rinnen aus ihren Augen. Dabei hätte ich doch so gern eine liebe Mutti gehabt.

*

Der nächste Tag beginnt wieder, als wäre nichts gewesen. Wie immer, pünktlich zehn nach sieben, verlassen Frau K. und Anna Irene gemeinsam das Haus. Zwar würde Anna Irene lieber etwas früher und alleine weggehen, aber Frau K. ist dagegen. »Ich hab mir meine Dienstzeit extra so festgelegt, dass wir gemeinsam fahren können«, hat sie einmal auf Anna Irenes Bitte gekontert. »Und ich will auch gar nicht, dass du unbeaufsichtigt vor der Schule herumstehst. Wozu soll das denn gut sein?«
Anna Irene wusste keine Antwort. Keine, die bei Frau K. gezählt hätte. Ich versäume immer die wichtigsten Sachen …
Sie geniert sich, neben Frau K. gehen zu müssen, die bis zur Haltestelle ihren Schlüsselbund genau so, wie sie damit zugesperrt hat, in der rechten Hand hält und den Arm fast militärisch vor- und zurückbewegt. Das Schlüsseltäschchen schaukelt dabei, hinten aus ihrer Faust hängend, wild umher. Anna Irene hasst es, wenn jeder sieht, wie verkrampft ihre Mutter ist. Womöglich halten die mich dann auch für so steif …
Erst bei der Tramwaystation zieht Frau K. den Schlüsselbund in das Täschchen und steckt es ein.
In der Straßenbahn sitzen sie immer auf den gleichen Plätzen; Frau K. rechts, sie möchte nicht eingesperrt beim Fenster sitzen; Anna Irene will das zwar auch nicht will, mit »Ich steig aber früher aus als du« hat Frau K. allerdings schon seit sie gemeinsam fahren einen triftigen Grund und somit das letzte Wort.
Als sie vom Neunundvierziger in den Zehner umsteigen und sich auf ihre Plätze setzen, sieht Anna Irene wie so oft Sabine auf einem einzelnen Platz. Sie würde gern aufstehen, zu ihr gehen und sie begrüßen, doch als sie einmal gefragt hat, ob sie das dürfe, hat Frau K. empört zurückgefragt: »Was denkst du dir eigentlich dabei, deine Mutter einfach so sitzen zu lassen?!« Erst, nachdem Frau K. ausgestiegen ist, kann Anna Irene ihren Platz verlassen, aber da sind sie auch schon gleich bei der Schule angekommen. Mit ihrem Eintreffen öffnet der Schulwart das Tor, und die Schüler, die beim Blick aus dem Straßenbahnfenster noch in kleinen Gruppen herumgestanden sind, strömen die Stiegen hinauf.
Nur jeden zweiten Mittwoch, wenn Frau K. Teambesprechung hat und erst später weg muss, ist alles anders; dann rennt Anna Irene den ganzen Weg bis zur Haltestelle, als wäre es ein Wettlauf, und sie gewinnt durch die frühere Straßenbahn ein paar Minuten Zeit, um die anderen noch vor der Schule anzutreffen und ein paar Gesprächsfetzen aufzufangen.

Als Anna Irene abends nach Hause kommt, wartet Frau K. bereits auf sie. »Da hab ich dir eine Bluse mitgebracht, probier sie. Wenn sie nicht passt, kann ich sie noch umtauschen.« Sie holt eine altrosa-kaffeebraun-beige-karierte Flanellbluse aus einem Sackerl. Anna Irene muss beim Anblick schlucken, sie steht da und schaut die Bluse an.
Frau K. erinnert sie mit einem zackigen »Na-wird’s-bald!« daran, dass sie die Bluse probieren soll. »Ist sie dir vielleicht nicht gut genug?«
»Die Farben …«, presst Anna Irene mit schwacher Stimme heraus und sagt dann etwas mutiger: »Ich bin doch keine alte Frau.«
»Na, ich vielleicht?! Ich finde die Farben schön – und sie sind modern. Ordentliche junge Mädchen tragen das jetzt.«
Und solche wie ich tragen Großvaterhemden. »Ich will aber kein Rosa. Und ich hab auch noch niemanden gesehen, der …«
»Du willst sie nicht, weil ich sie ausgesucht habe!«
»Nein, weil ich kein Rosa will … Du hast doch gesagt, man kann sie umtauschen?«
Keine Antwort, nur wütende, sich rasch nähernde Augen, vor denen Anna Irene eine Runde um den Esstisch flüchten muss, dann bleibt Frau K. stehen. »Verschwind in dein Zimmer!«, zischt sie. »Ich will heute nichts mehr von dir sehen, du Saubankert, undankbares!«
Anna Irene geht in ihr Zimmer und legt die Kassette »British Greats« in den Kassettenrekorder. Frau K. kommt hinterher, schreit »Und hören natürlich auch nicht!« und schmeißt die Tür donnernd zu. Leise hört Anna Irene den Verputz neben dem Türstock rieseln. Aber ich mach die Tür kaputt, wenn ich ein Pickerl draufpick …
Sie setzt sich aufs Bett, hört sich in die Musik und überlegt, was sie sonst noch tun könnte. Zum Lesen ist sie zu aufgeregt; etwas handarbeiten will sie nicht, obwohl es ein angenehmer Zeitvertreib wäre, aber es ist ihr zuwider, etwas zu machen, worüber Frau K. sich freuen könnte.
Sie setzt sich an den Schreibtisch und nimmt das Tagebuch, das die Oma ihr vor einem halben Jahr geschenkt hat, zur Hand. Es ist immer noch leer. Sie schlägt die erste Seite auf, schreibt das Datum. Mit Kugelschreiber, da sie an dieser Stelle bereits einmal gekillert hat und die Tinte nicht mehr hält. Ich kann ja nichts aufschreiben … ich weiß doch, dass sie es dann liest … und dann bringt sie mich garantiert um … Sie streicht das Datum durch und macht das Tagebuch langsam wieder zu. Besser, ich versuche, mir alles ganz genau zu merken. Das kann sie mir nicht wegnehmen. Sie stellt das Tagebuch zurück ins Regal. Wieso hab gerade ich so eine Mutter?
Gedankenverloren blättert sie anschließend im »Rennbahn-Express«, bis sie irgendwann aufs Klo muss. Sie horcht erst durch die Türe, bevor sie sie öffnet, um Frau K. nicht direkt in die Hände zu laufen. Als sie an der Wohnzimmertür vorbeikommt, wirft sie einen Blick in den Raum und sieht Frau K. aus der Küche schauen. Während sie am Klo sitzt, hört sie sie im Vorzimmer herumgehen. Der Boden knarrt bei jedem Schritt, Anna Irene bleibt aus Angst vor dem Hinausgehen sitzen, wartet, dass die Schritte draußen zurück ins Wohnzimmer verschwinden. Sie bleiben. Ungefähr einen dreiviertel Meter vor der Klotür knarrt Frau K. gespenstisch mit dem Boden. Minuten vergehen. Anna Irene traut sich nicht aus dem Klo, am liebsten würde sie sich selbst hinunterspülen, nur um der Situation zu entkommen, und wäre da ein Fenster, würde sie hinaus… Das würd ich mich ja doch nicht trauen … ich käme ja nicht mehr herein, ohne dass sie mich an der Tür »empfängt« … Konzentriert darauf, das leise Geräusch der Schritte zu hören, erschrickt sie richtig, als Frau K.s Stimme durch die Tür dringt: »Was ist, willst du da drinnen übernachten?!«
»Nein …«
»Dann komm endlich heraus!«
»Wenn du von der Tür weggehst.«
Frau K. lacht hämisch und überlegen.
Ja, freu dich nur, dass ich mich vor dir fürchte, blöde Sau.
»Du kommst jetzt da heraus, sonst komm ich hinein!«
Anna Irene überlegt noch einen Moment, wie sie am geschicktesten hinausgeht, um möglichst abwehrbereit zu sein. Sie will schließlich nicht, dass Frau K. versucht, die Verriegelung von außen zu öffnen. Da käme ich ihr ja überhaupt nicht mehr aus … und dann hätte sie noch das Werkzeug in der Hand und noch mehr Wut … Sie drückt auf die Spülung und öffnet langsam die Tür. In Frau K.s Gesicht kann Anna Irene lesen, dass sie ihre Angst genießt. Sie geht mit Knien wie aus Pudding und eingezogenem Kopf an ihr vorbei ins Badezimmer, um sich die Hände zu waschen. Dabei nimmt sie ihren Blick nicht vom Spiegel, damit sie sieht, ob Frau K. ihr nachkommt. Als sie sich umdreht und die Hände abtrocknet, steht sie plötzlich da. Anna Irene zuckt zusammen, Frau K.s Hand erhebt sich, Anna Irene geht in Erwartung des üblichen Haarereißens leicht in die Knie, weil sie dann nach oben noch nachgeben und den Zug lockern kann. Aber Frau K. drückt sie stattdessen zur Wand, unter den Handtuchhalter, und grinst sie noch hämischer an. Dann starrt sie in Anna Irenes Gesicht und fährt mit ihren Fingern gezielt auf einen Punkt zu, setzt links und rechts davon ihre Nägel an und drückt, als wolle sie damit ein Eck aus Anna Irenes Gesicht schneiden. Anna Irene sieht dabei Frau K. an, die so versessen darauf ist, einen angeblichen Mitesser auszudrücken, dass sie die Zunge spitz an die Oberlippe legt. Aufgrund der unangenehmen Stellung mit angewinkelten Knien sieht Anna Irene dies leicht von unten, wodurch es aussieht, als wollte Frau K. mit der Zunge in der Nase bohren. Nachdem sie die Stelle blutiggedrückt und mit alkoholhältigem Gesichtswasser noch ein ordentliches Brennen verursacht hat – »Nur, wenn es richtig brennt, ist alles heraußen« –, sieht sie vollkommen befriedigt aus und sagt: »Und jetzt verschwind.«
Anna Irene sieht sie noch kurz an, will etwas sagen, aber denkt bloß: Am liebsten für immer. Dann geht sie wieder in ihr Zimmer, bis sie es zum Abendessen doch wieder verlassen muss. Es gibt panierte Knacker mit Erdäpfeln und Fisolen, gewürzt mit feindseligen Blicken, die den Magen verkrampfen. Anna Irene bringt fast nichts hinunter.
Später, im Bett, atmet sie erleichtert durch. Wieder ein Tag überstanden. Übermorgen kommt Onkel Joe …
Ihr Blick fällt unter dem wellenförmigen Abschluss des Rollos hindurch auf das Fenster gegenüber. In dem Fenster sieht es jeden Abend aus, als hätte sich jemand aufgehängt. Immer wieder muss sie hinstarren, obwohl sie längst zu dem Schluss gekommen ist, dass da jemand seinen Hut und seinen Mantel am Fenster aufhängt. Ihr wird jedes Mal kalt und unheimlich dabei, aber es verdrängt auch die Gedanken an Frau K. und lässt sie leichter einschlafen.

*

Anna Irene kommt aus der Ganztagsschule und holt Frau K., die donnerstags immer länger arbeitet, vom Pensionistenheim ab. Es ist dann noch Bastelstunde und Anna Irene macht die verbleibende Zeit mit, flicht den fünften unnötigen Blumentopf-Übertopf aus Peddigrohr. Frau K. freut sich, weil die alten Frauen sie für ihre gelungene Tochter loben. Das nervt Anna Irene, aber nach zwei Jahren Pensionistenheimerfahrung hat sie begriffen, dass Frau K. sich dann gut fühlt und besser aufgelegt ist, und lässt es lächelnd über sich ergehen.
Nach der Bastelstunde schreibt Frau K. noch die Ankündigung für die nächsten Stunden – Gedächtnistraining und Sitzgymnastik – mit vier Zentimeter großen Buchstaben auf ein Plakat. Anna Irene hängt es in der Eingangshalle an die Tafel, während Frau K. sich fertigmacht.
Bei der Straßenbahnhaltestelle angekommen, beschließt Frau K. wie fast jeden Donnerstag, noch in die Konditorei gegenüber zu gehen, wo sie Torten und Kuchen essen. Frau K. trinkt eine Melange dazu, Anna Irene einen Kakao mit Schlagobers. Nur spärlich werden belanglose Worte gewechselt, fast, als kenne man sich gar nicht und sitze nur zufällig am selben Tisch. Anna Irene wartet nur, dass die Zeit vergeht. Noch so viele Jahre, bis ich groß bin und von ihr weg kann … Wenn nur wenigstens Onkel Joe endlich da wäre …
Als sie nach Hause kommen, ist keine Zeit mehr, um irgendein Theater zu veranstalten. Es gibt Pizza aus dem Tiefkühlschrank. Fernsehnachrichten über Terror in Europa, Friedensverhandlungen im Nahen Osten und eine Rekordzahl an Schülerselbstmorden ziehen während des Essens alle Aufmerksamkeit auf sich. So kann man gut schweigen, ohne dass die Stille drückt.
Frau K. bleibt nach dem Essen gleich sitzen, um gebannt die Quizsendung »Dalli-Dalli!« zu verfolgen.
Anna Irene geht etwas früher zu Bett und kann sich endlich wieder auf ihr Buch konzentrieren. Ist überwältigt von den Gedanken, Briefen und dem mutigen Handeln einer Revolutionärin, sehnt sich danach, selbst so viel Mut zu haben, und nimmt ihren Geist in sich auf, wie die Wüste Wassertropfen.

*

Bei einem Besuch von Frau K. und Anna Irene bei Tante Dora werden sie bereits über die nächste Kampagne der SPÖ-Frauen aufgeklärt: Mädchen in technische Berufe. »Die Mädchen sind alle so dumm«, sagt sie, »fünfundneunzig Prozent drängen in typische Frauenberufe wie Friseurin und Verkäuferin, wo sie überhaupt keine Karrierechancen haben. Und wenn sie Kinder bekommen, will sie hinterher keiner mehr, dann enden sie als Kassierinnen oder in der Fabrik und sind mit den niedrigen Löhnen wieder von den Männern abhängig. Da muss dringend etwas getan werden, die Mädchen müssen technische Berufe ergreifen. – Was wirst du denn mit vierzehn machen, Anna Irene?«
»Das weiß ich noch nicht genau.«
»Du wirst ja hoffentlich in eine weiterführende Schule gehen, am besten in die HTL. Was denn sonst, bei deiner Begabung.«
»Ja …«
Tante Dora setzt ein zufriedenes Lächeln auf. »Die HTL ist ja bis jetzt eine reine Männerschule, es wird Zeit, dass sich das ändert, und wir wollen verstärkt dahingehend aktiv werden. Am besten berätst du dich mit dem Joe, der weiß bestimmt, welche Fachrichtung für dich geeignet ist.«
Zum Glück kommt gerade Michi nach Hause, so kann Anna Irene mit ihm in seinem Zimmer verschwinden und er führt ihr seine neue Modelleisenbahn vor, an der er eifrig herumbastelt.

Am Wochenende überlegt Anna Irene mit Onkel Joe, was sie werden könnte, und entscheidet sich, Architektin zu werden und die HTL-Hochbau zu besuchen. Schon aus Lego hat sie immer gerne Häuser gebaut und sich Gedanken über Statik gemacht, nur dass sie damals noch nicht wusste, dass es sich um Statik und Architektur handelte.
Ich würde es mich ja auch gar nicht sagen trauen, wenn ich sowas wie Friseurin lernen wollte …
Als sie Frau K. ihre Pläne mitteilt, antwortet diese in zweifelndem Tonfall: »Na, da musst du aber erst einmal die Aufnahmsprüfung schaffen. Die ist nicht leicht, es wird nur ein kleiner Prozentsatz der Bewerber genommen.«
Hoffentlich bin ich nicht zu blöd … Was mach ich denn, wenn sie mich nicht nehmen? Ich muss es schaffen … die Mutti würde sich für mich genieren und mir wieder weh tun …

*

Beim Rock’n’Roll-Tanzen, einem von mehr als der Hälfte der Klasse belegten Kurs, kann sie alle ihre um Frau K. kreisenden Gedanken vergessen. Anna Irene liebt die gesprungenen Figuren, sie fühlt sich dabei frei, als flöge sie durch die Luft; obwohl sie von Walter fest gehalten wird.
Nach der Stunde fragen Vera und Inge Anna Irene, ob sie vielleicht auch einmal kommen möchte, wenn sich »alle« in der Nachmittagsdisko treffen. »Ich weiß nicht, ob ich das darf«, gibt Anna Irene zur Antwort. Ich weiß aber auch noch gar nicht, ob ich mich überhaupt fragen traue …

Nachdem Inge sie zwei Wochen später noch einmal wegen der Disko anspricht, überwindet sich Anna Irene, Frau K. um Erlaubnis zu bitten.
»Ph! Alle aus deiner Klasse, so ein Blödsinn. Du gehst mir nicht in so eine finstere Spelunke, wo du dann vollgestopft wirst mit Drogen und am Ende schwanger nach Hause kommst!«
»Bitte, Mutti! Das ist doch nur der Fünfuhrtee, wo lauter Leute in meinem Alter …«
»Mit dreizehn darf ich dich überhaupt noch gar nicht dort hingehen lassen«, sagt Frau K., dann setzt sie noch ein »Da ist Wäsche zum Bügeln« nach, wartet, bis Anna Irene sich mit vor Angst eingezogenem Kopf an ihr vorbei hinter den Bügeltisch gedrückt hat, und geht in die Küche.
Wofür lern ich denn das Tanzen, wenn ich dann nicht mit den anderen tanzen darf?, fragt Anna Irene nur sich selbst und bügelt stumm ihre Tränen trocken, die von ihrem Kinn auf Frau K.s große Unterhosen tropfen.
Frau K. schreit aus der Küche: »Du hast überhaupt keinen Grund zu heulen! Einen Grund zum Heulen hab nur ich, weil ich so ein Kind habe!«
Als Minuten später im Fernsehen vom Selbstmord des Schauspielers Peter Vogel berichtet wird, stürzt Frau K. aus der Küche und schaut mit entsetztem Blick und vor den Mund gehaltener Hand auf das Gerät.

Wenige Tage danach findet Anna Irene ein Flugblatt der Sozialistischen Jugend am Wohnzimmertisch.
Als Frau K. sieht, dass sie es entdeckt hat, sagt sie: »Dora meint, da kann ich dich hinschicken. Sie kennt die Gruppenleiter, die sollen sehr nett sein. Montag ist vorn im Arbeiterheim ein Gruppenabend, von sieben bis neun Uhr, da kannst du hingehen.«
Anna Irene ist zwar traurig, weil sie nicht mit ihren Schulkollegen weg darf, und sie erinnert sich auch, wie sie in den Turnverein wollte und nicht durfte, weil Frau K. keinen Sinn darin gesehen hat, wo sie doch ohnehin in der Schule Turnunterricht hat, doch gleichzeitig freut sie sich, weil sie zu einer Gruppe gehen darf, in der es junge Leute gibt. Sogar zu einem Treffen, das abends stattfindet, wenn sie vom Fünfuhrtee schon wieder nach Hause gehen würde. Nur ein bisschen mulmig wird ihr bei dem Gedanken: Ich soll da ganz alleine hingehn, ohne jemanden zu kennen …?
Frau K. vereinbart zuvor einen Gesprächstermin mit den Gruppenleitern, Hannes und Gabi, um sich selbst davon zu überzeugen, dass Anna Irene nicht in die falschen Hände gerät.

Anna Irene gefällt es in der Gruppe. Obwohl sie nicht nur die Jüngste, sondern, abgesehen von Gabi, das einzige Mädchen ist. Sie spielen gruppendynamische Spiele, diskutieren über verschiedene Themen, sehen sich antifaschistische Filme an oder nehmen die »Proletenpassion« der Schmetterlinge Lied für Lied durch.

Hannes ist bald Anna Irenes erster »richtiger« Freund, und Frau K. hat nichts dagegen, dass sie mit ihm manchmal Stunden in seiner Wohnung zubringt, obwohl sie erst dreizehn ist. Er darf Anna Irene, im Gegensatz zu ihren Schulkollegen, sogar zuhause besuchen, und Frau K. klopft an, bevor sie ins Zimmer kommt. Schließlich ist Hannes von der Partei.
Solange Hannes dabei ist, darf Anna Irene fast alles. Sie darf nicht nur montags zum Gruppenabend, sondern auch freitags an der Ausschusssitzung teilnehmen, und wenn die anderen danach noch in ein Lokal gehen, darf sie mit – vorausgesetzt, Hannes bringt sie anschließend nach Hause.
So träumt sie sich Hannes zu einem Märchenprinzen, der sie aus ihrem Gefängnis befreit, sie fortholt, zu sich nach Hause, sie erlöst von den Qualen und Demütigungen, der ständigen Angst. Sie soll nicht mehr über mich bestimmen dürfen. Claudia hat gesagt, man kann schon mit sechzehn heiraten, wenn das Jugendamt zustimmt. Das wäre schön … als Sozialarbeiter hätte er mit dem Jugendamt bestimmt keine Probleme … Aber bis dahin ist es noch so lang, wie soll ich das denn überstehen, wenn ich bei meiner Mutter sein muss?

*

Auf ihrem Nachhauseweg nimmt Anna Irene von einem Info-Stand der Atomkraftgegner alles Lesbare mit, was nichts kostet, und verschlingt es. In zwei Monaten soll darüber abgestimmt werden, ob das AKW-Zwentendorf in Betrieb geht oder nicht. Seit Wochen saugt sie jede Information zu dem Thema auf, liest auch die Pro-Argumente in der Arbeiterzeitung, die der Bundeskanzler persönlich als Serie schreibt und die auch im Fernsehen ausgestrahlt werden. Etwa, dass der österreichische Atommüll nicht mehr als eineinhalb Kubikmeter pro Jahr ausmachen würde, und man könne ihn dann – gegossen in einige Meter dickes Glas – sogar ausstellen und besichtigen, das wäre absolut sicher. Ein anderes Mal las sie, dass sich einige Staaten förmlich um den Atommüll reißen würden und sogar Geld dafür zahlen wollen.
Bei dem Info-Stand hört sie von der Gefährlichkeit und dass daraus Atombomben gemacht werden können. Und auch, dass die Stromausfälle und -schwankungen der letzten Zeit alle bewusste Abschaltungen der E-Wirtschaft waren, um die Leute aus Angst vor Stromknappheit zu einem »Ja« bei der Abstimmung zu bewegen. Das erscheint Anna Irene glaubwürdig. Schließlich hat sie vor der Debatte zuletzt im Kindergartenalter einen Stromausfall erlebt, und der hatte seine Ursache in einem Unwetter, bei dem etwas im Umspannwerk kaputtgegangen ist.

Uschi grinst, als sie zur Schule kommt, wie sie immer grinst, wenn sie etwas Besonderes mitgebracht hat. Noch bevor sie sich umzieht, legt sie schnell eine Kassette in den Kassettenrekorder, damit die anderen mit ihrer John-Travolta-Musik nicht schneller sind, und schaut Dagmar und Anna Irene erwartungsvoll an. »Einen recht schönen guten Abend, meine Damen und Herren«, ertönt es aus dem Gerät. Während die Stimme weiterspricht, sagt Uschi: »Das ist die Nina Hagen. Hat gerade ihre erste Single herausgebracht. Horcht’s zu!« In dem Moment setzen Gitarren und Schlagzeug ein und dann beginnt sie zu singen.
Die Energie in der Stimme von Nina Hagen fährt Anna Irene direkt in die Knochen; so kommt es ihr jedenfalls vor. Es läutet zur Stunde, Uschi drückt auf Stop. »Nächste Pause geht’s weiter!«, sagt sie und Anna Irene kann es kaum erwarten.
Jetzt haben sie Deutsch-Schularbeit und die Lehrerin schreibt als Thema »Die Rache der Pflanzen« an die Tafel. Anna Irene muss nicht lange überlegen, schon verbünden sich die Pflanzen unterirdisch zu einer Revolution gegen die Atomkraft. Sie schreibt, ohne abzusetzen, als könnte sie die Geschichte längst auswendig, ist in der Hälfte der Zeit fertig, geht aus der Klasse, setzt sich auf eine Garderobenbank und bekommt Angst. Hoffentlich schimpft die Mutti nicht, wenn sie das liest, wo sie doch für Zwentendorf ist … Vielleicht kann ich ihr die Schularbeit ja zum Unterschreiben geben, wenn sie keine Zeit hat, sie zu lesen …
Dann fällt ihr wieder Nina Hagen ein. Die Zeiger der Uhr scheinen im Koma zu liegen und sich nur kurz zu bewegen, wenn wieder jemand aus der Klasse kommt.
Dann endlich dringt das erlösende Geräusch durch das Schulgebäude und Nina darf weitersingen.
»Kannst du mir das auch aufnehmen?«, fragt Anna Irene.
Uschi lächelt. »Klar, musst mir nur eine Kassette bringen.«
Der Mutti wird das aber sicher nicht gefallen … besser, ich höre sie nur heimlich …

Bei der Rückgabe der Deutsch-Schularbeiten liest Frau Elstner Anna Irenes Geschichte vor. Normalerweise war Anna Irene so etwas immer peinlich, aber diesmal ist sie stolz, denn sie weiß, dass es eine gute Geschichte ist. Und es hören alle aufmerksam zu, sogar Robert und Kilian, die sonst bei jeder Gelegenheit stören.
Anschließend diskutiert die Lehrerin mit der Klasse über das nun aufgeworfene Thema Atomkraft und Anna Irene ist erleichtert, dass wenigstens Frau Elstner auch dagegen ist.
Zuhause fragt Frau K. sofort, was in der Schule los war, und Anna Irene kann nicht lügen und »nichts« sagen, um einen passenderen Moment abzuwarten. Sie erzählt, dass Frau Elstner so begeistert von ihrer Geschichte war. Frau K. nimmt das Heft und beginnt zu lesen. Hektisch fahren ihre Blicke über die Zeilen.
»Der einzige Einser in der Klasse«, setzt Anna Irene hinzu. Frau K. belässt es bei einem verständnislosen Blick, unterschreibt und gibt ihr das Heft zurück.

Zwei Tage vor der Volksabstimmung überwindet sich Anna Irene in der Früh am Weg zur Straßenbahn, mit Frau K. zu reden: »Mutti, ich hab Angst vor der Atomkraft.«
Frau K. schießt ein »Ja, und?« heraus.
»Ich darf noch nicht abstimmen, aber es geht doch auch um meine Zukunft. Kannst du nicht für mich dagegen stimmen?«
»Du hast einen Vogel. Das kommt überhaupt nicht in Frage, die Partei ist doch dafür.«
»Bitte …«
»Du hast Ideen …«
»Es sieht doch niemand, was du ankreuzt.«
»Also bitte. Du spinnst wirklich. Ich will davon nichts mehr hören.«
Sowas haben wir doch gerade erst über den Zweiten Weltkrieg gelernt … Sie hätte bestimmt auch für Hitler gestimmt.

Bundeskanzler Kreisky droht vor der Abstimmung öffentlich mit seinem Rücktritt, und Anna Irene gibt ihre Hoffnung, die Abstimmung könne gegen Zwentendorf ausgehen, fast auf. Kreisky hat doch die absolute Mehrheit, ob da so viele gegen ihn stimmen werden? Sicher will niemand, dass er zurücktritt.
Doch am 5. November 1978 entscheidet sich überraschenderweise eine knappe Mehrheit von 50,47 Prozent gegen die Inbetriebnahme des Atomkraftwerkes. Anna Irene würde am liebsten alle, die dagegen gestimmt haben, umarmen und danke sagen, doch sie traut sich hier im Wohnzimmer nicht einmal, ihre Erleichterung offen zu zeigen, steht vom Fernsehen auf und geht, ohne Frau K. direkt anzusehen, die, wie sie in ihrem Augenwinkel erkennt, scheinbar vor Sprachlosigkeit zu atmen aufgehört hat, in ihr Zimmer, wo sie leise Tränen der Erleichterung in ein Taschentuch drückt.

Die erste Langspielplatte von Nina Hagen erscheint und Anna Irene kauft sie von ihrem ersparten Taschengeld, schmuggelt sie in die Wohnung, indem sie sie beim Heimkommen vor der Wohnungstür stehen lässt und später, als Frau K. neben dem lauten Dunstabzug in der Küche beschäftigt ist, leise herein holt, versteckt sie unter dem Teppichboden ihres Zimmers und hört sie heimlich auf Frau K.s Mono-Plattenspieler, wenn diese nicht zuhause ist. Immer mit der Angst, erwischt zu werden, wenn sie einmal früher nach Hause kommt.
Wenn ich sie nur der Uschi zum Aufnehmen geben könnte, aber ich kann sie ja nicht in die Schule mitnehmen, sie passt nicht in die Schultasche und dann sieht die Mutti sie ja.
Doch es dauert nicht lange, bis Uschi die Platte von ihren Eltern geschenkt bekommt, und Anna Irene bringt ihr wieder die Kassette mit. Am nächsten Tag ist alles perfekt, Nina auf Band, sodass sie sie auch leise in ihrem Zimmer hören kann. Uschi ist ein echter Engel.

*

Als sie wieder einmal mit Hannes alleine ist, meint dieser, er würde gern mit Anna Irene etwas ausprobieren, was er auf der Sozialakademie gelernt hat, dazu müsse Anna Irene nur ein paar Fragen beantworten.
»Stell dir einen Wald vor. Wie sieht er aus?«
»Ist das jetzt eine Scherzfrage?«
»Nein, das ist Psychologie. Du sollst nur den Wald beschreiben. Ist er hell oder finster, zum Beispiel.«
»Finster«, sagt sie spontan und überlegt dann kurz: Komisch, warum sage ich finster? Wenn ich mit Onkel Joe im Wald war, war es da doch gar nie finster.
»Und? Weiter? Ist da ein Weg?«
»Ja, natürlich.«
»Wie sieht er aus? Eben und breit, oder …«
»Nein, er ist schmal und die Wurzeln von den Bäumen ragen überall heraus.« Solche Wege sind mir die liebsten.
»Siehst du hinaus aus dem Wald, wird es irgendwo lichter?«
»Nein, es ist ein großer Wald, in dem man lange gehen kann.«
Hannes lächelt und sagt: »Danke, das war’s schon.«
»Und was hast du jetzt über mich herausgefunden?«
»Das kann ich dir natürlich nicht sagen.«

Wenn sie bei Hannes ist, lernt Anna Irene auch viel gute Musik aus den Sechzigern und Siebzigern kennen, von den Animals bis zu Led Zeppelin. Er hat eine richtige Stereoanlage, die er laut aufdrehen kann. Und er ist immer alleine zuhause, obwohl er eigentlich mit seinem Vater hier wohnt. »Warum ist denn dein Papa nie da?«, fragt sie ihn.
»Der arbeitet in Italien.«
»In Italien? Wieso arbeitet er nicht hier?«
»Seit er im Vorstand von FIAT sitzt, muss er dort sein und kommt nur ab und zu nach Hause.«
Natürlich hören sie nicht nur Musik. Hannes hat Anna Irene schon nach den ersten Wochen gelernt, was er als Mann braucht, aber er begnügt sich vorläufig damit, wenn sie es ihm mit der Hand macht. Sie findet das sehr anstrengend und es tut ihr jedesmal der Arm davon weh.
Als sie eine kurze Pause macht, um ihren Arm zu erholen, drückt Hannes sie etwas nach unten und hält ihr seinen steifen Schwanz entgegen. »Du kannst ihn auch in den Mund nehmen.«
Ist das grauslich … aber ich will ihn nicht verlieren, sonst komme ich nie von der Mutti weg.

*

Zwei Wochen vor Weihnachten holt Frau K. während des Essens tief Luft, richtet sich auf, um in wichtigem Ton zu sagen: »Ich musste heute aufs Jugendamt.«
Nach einer Spannungspause, in der Anna Irene überlegt, ob sie irgendetwas Schwerwiegendes verbrochen hat, spricht Frau K. weiter: »Astrid will zu uns kommen.«
»Astrid will zu uns kommen?«, fragt Anna Irene ungläubig.
»Ja, sie hat am Jugendamt in Linz ausgesagt, dass sie dort von dieser Ilse nur ausgenützt wird. Da siehst du wieder, wie gut es dir geht. Astrid muss ihre kleinen Halbgeschwister in der Früh im Kindergarten und in der Volksschule abliefern, bevor sie in die Schule gehen kann.« Anna Irene weiß nichts darauf zu sagen, sie fände das schöner als jeden Tag neben Frau K. zu gehen, die nun weiterspricht: »Wir haben ausgemacht, dass sie in der zweiten Woche der Weihnachtsferien erst einmal probeweise herkommt und sich ansieht, ob sie auch hier bleiben will.«
»Aha …« Das wäre ja schön, wenn sie dableibt! Dann wären wir zu zweit – und bestimmt hört die Mutti dann auf, immer auf mich loszugehen! Schließlich hab ich dann eine große Schwester, die mir hilft. Und die Astrid kann sich viel besser wehren, die ist jetzt schon fünfzehn. Es soll ihr hier alles gefallen … bitte … hoffentlich bleibt sie da! Wir könnten alles gemeinsam machen, und richtig zusammenhalten, wie »das doppelte Lottchen«, und überhaupt niemand kann uns irgendwas tun!

Hannes erzählt Anna Irene, dass er in der Sozialakademie gelernt hat, welche Phasen ein Paar durchmacht, bis es zum ersten Mal miteinander schläft. »Und wir sind jetzt schon die längste Zeit auf der vorletzten Stufe. Es wird Zeit, dass wir miteinander schlafen. Als Mann brauche ich das einfach.«
Ich muss versuchen, ihm eine richtige Frau zu sein, damit ich ihn nicht verliere … Aber ich fürcht mich so davor …
Als er probiert, in sie einzudringen, hat Anna Irene Angst, etwas falsch zu machen. Er gibt den Versuch auf und meint, Anna Irene sei zu verkrampft. Später fragt er: »Hast du eigentlich schon einmal die Regel gehabt?«
»Nein …«
»Warum sagst du das denn nicht?«
»Ich dachte, das hättest du schon mitbekommen.«
Und wenn er sich jetzt eine andere sucht, bei der schon alles funktioniert, wie es soll? … Wenn ich ihn nicht hab, komme ich doch nie von der Mutti weg! …Warum war ich auch so verkrampft? Warum hab ich es nicht richtig gemacht? Bin ich zu blöd dazu?
Zufällig macht Hannes seit einem Monat das für seine Ausbildung erforderliche Praktikum. Über seine Parteikontakte hat er eine Stelle in einem Krankenhaus gefunden.
Er bringt Anna Irene Hormontabletten mit, die helfen sollen, dass sie bald die Regel bekommt. Anna Irene fühlt sich minderwertig und unvollständig und hofft, dass sie bald wirken. Sie hat Angst, ihn an eine Frau zu verlieren, bei der schon alles funktioniert, wie es soll, und strengt sich die nächsten Male noch mehr an, es ihm mit den Händen oder dem Mund schön zu machen.

Als Astrid wenige Tage nach Weihnachten kommt, wird sie mit einigen Geschenken empfangen. Zwar hat Astrid die letzten Jahre nie etwas von Frau K. bekommen, aber jetzt ist sie ja da. Sie freut sich einen Moment über Blusen und einen handgestrickten Pullover, dann sagt Frau K.: »Für die ersten Tage wird das reichen. Wenn du dann bei uns bleibst, können wir noch mehr besorgen.«
Astrid fragt verwundert: »Wie … wieso ›reichen‹? Ich hab doch meine Sachen …«
»Die Sachen, die du mitbekommen hast?«, fragt Frau K. und kichert, als hätte Astrid etwas besonders Dummes gesagt. »Die alle diese Ilse ausgesucht hat? Da muss ich mich ja genieren, wenn ich so mit dir auf die Straße gehe.«
Astrid wirft ihr einen strafenden Blick zu, doch Frau K. fixiert selbstzufrieden den Löffel, mit dem sie ihren Kaffee umrührt. Nach der Löffelmeditation beginnt sie, ihre Torte zu essen. Dann ist ein leises »Hm-hm!« zu vernehmen, so, als wäre ihr gerade etwas Wichtiges eingefallen, das sie beinahe vergessen hätte, und sie schaut Astrid wieder ernst an. »Eines muss dir natürlich klar sein.«
Sie wartet extra, bis Astrid nachfragt: »Was denn?«
»Bei uns wirst du natürlich auch mithelfen. Es geht nicht, dass du hierher kommst, nur um dich vorm Arbeiten zu drücken.«
Als Anna Irene Astrids Blick sieht, weiß sie bereits: Sie fährt wieder heim …
Die beiden Mädchen verbringen zweieinhalb Tage gemeinsam, spielen »Mensch ärgere dich nicht«, wie damals, als es im Kindergartenalter noch Besuchswochenenden gab, die während der Volksschulzeit spärlicher wurden und schließlich gar nicht mehr stattfanden, reden über ihre Vorlieben, Freunde und Erinnerungen, lachen heimlich unheimlich über Frau K., was Anna Irene besonders gut tut, weil es so befreit und sie seit der Übersiedlung, durch die sie von ihren Freunden getrennt wurde, niemanden mehr hat, mit dem sie darüber lachen könnte. Mit Onkel Joe und Frau K. gemeinsam fahren sie auf den Donauturm, und bei allem spürt Anna Irene eine Stimmung in der Luft liegen, als wüsste bereits jeder von ihnen, dass Astrid nicht dableibt. Frau K. streut zwischendurch noch weitere nette Aussagen ein, in denen sie Astrid oder die Familie väterlicherseits und ganz besonders Ilse herabwürdigt, gibt ein paar schroffe Arbeitsanweisungen, und am vierten Tag sitzt Astrid bereits wieder im Zug nach Hause. »Ich weiß jetzt wenigstens, dass ich in Linz eine Familie habe, in der man mich lieb hat«, sagt sie zum Abschied, und das Frau K. direkt ins Gesicht, die ihre bereits heftig zuckende Hand sichtlich zurückhält – sie weiß schließlich, wann sie sich zurückhalten muss und wann sie sich gehen lassen kann.

Warum kann Astrid es sich eigentlich aussuchen, wo sie wohnt, und ich nicht? … Ich würde mich ja gar nicht trauen, zu sagen, dass ich woanders hin will … Die Mutti würde es erfahren, bevor ich wirklich weg bin, und dann … Außerdem wäre ich dann auch von Onkel Joe weg, und den will ich doch nicht verlieren.

*

Als sie endlich die Regel bekommt, drückt Hannes ihr zwei Päckchen einer leichten Anti-Baby-Pille in die Hand und sagt: »Es ist besser, wenn du die ab jetzt nimmst.«
Anna Irene liest abends im Bett den Beipackzettel. Sie kann erst ab der nächsten Periode mit der Einnahme beginnen, also verstaut sie die beiden Päckchen ganz hinten in ihrer Schreibtischlade.
Tage später liegen die beiden Päckchen am Wohnzimmertisch, als sie von der Schule kommt. Scheiße, warum hab ich sie bloß nicht besser versteckt? Ich weiß doch, dass sie immer in meinen Sachen stierlt! Warum bin ich nur so blöd?
Frau K. kommt aus der Küche, nimmt die Päckchen, fuchtelt damit herum und fragt: »Was soll das?! Was willst du damit?!«
»Na, willst du vielleicht jetzt schon Oma werden?«
Frau K. steigt die Zornesröte ins Gesicht, sie schimpft Anna Irene alles Mögliche und geht auf sie los.
Die Pille verschwindet spurlos. Trotzdem akzeptiert sie Hannes weiterhin, lässt sich in seiner Gegenwart nichts anmerken, ist nach wie vor freundlich zu ihm, als wäre er ihr Vorgesetzter.

*

In der Schule strengt sich Anna Irene jetzt besonders an, damit sie einen guten Notendurchschnitt bekommt. Das muss sie schaffen, damit sie überhaupt zur Aufnahmsprüfung der HTL zugelassen wird.
Am Tag nach ihrem vierzehnten Geburtstag bekommt sie das Halbjahreszeugnis, und zum ersten Mal seit der Volksschule vermiest es ihr nicht den Geburtstag. Sie kann sich freuen, sieht sich schon als Architektin und Frau K. hat keinen Grund, sich über irgendeine Note aufzuregen.
Ich werde sicher die schönsten Häuser in der Stadt bauen. Sie erinnert sich an die Wohnung der alten Frau in Linz, die sie manchmal vom Kindergarten abgeholt hat. Mit Zimmern, durch die man im Kreis laufen kann, damit es keinen letzten Winkel gibt, in den man gedrängt werden kann, sondern die Kinder immer von einem Zimmer ins nächste flüchten können.

Vor der Aufnahmsprüfung im April wird sie trotzdem nervös. Ich muss es schaffen …
Für jede Seite des Tests ist eine bestimmte Zeit vorgegeben, dann werden alle zum Umblättern aufgefordert. Sie füllt eine Seite nach der anderen aus.
Danach geht sie mit drei anderen Kindern, die mit ihr in der Klasse saßen, in den gerade erst eröffneten McDonalds am Schwarzenbergplatz. Es ist die erste Filiale in Wien und für alle vier noch neu. Bei Hamburgern und Cola unterhalten sie sich über manche Details der Prüfung und ob sie glauben, dass sie es geschafft haben. Anna Irene ist unsicher, obwohl sie alles ausgefüllt hat und die anderen erzählen, dass sie viele Aufgaben nicht lösen konnten. Ich kann ja auch vieles falsch gemacht haben …
Im Mai hängen die Ergebnisse in der Schule aus. Frau K. fährt mit Anna Irene hin, um nachzuschauen. Vor den Zetteln mit den aufgenommenen Schülern steht bereits eine Menschentraube, also fängt Anna Irene die nach Prüfungsergebnissen geordnete, zwanzigseitige Namensliste von hinten zu lesen an und ist froh um jedes Blatt, auf dem ihr Name nicht steht. Ich bin also zumindest nicht bei den Schlechtesten …
Da kommt Frau K., die sich bei Seite eins nach vorn gedrängt hat, und zieht Anna Irene aufgeregt am Arm. »Du bist aufgenommen! Du hast die viertbeste Prüfung gemacht!« Anna Irene fällt vor allem ein riesiger Stein vom Herzen. Endlich ist sie diese Angst los.
Onkel Joe freut sich ebenfalls, als er das erfährt, und verspricht, Anna Irene ein Auto zu kaufen, wenn sie die fünfjährige Schule fertigmacht. Jetzt weiß ich, dass er bei uns bleibt, sonst würde er mir das nicht versprechen. Aber wann kommt er endlich nach Wien? Er soll endlich bei uns wohnen …
Vor Freude erlaubt Frau K. sogar, dass Anna Irene zu Pfingsten mit Hannes und der SJ zum Arbeiterjugendtag nach Berlin fährt. Sie übergibt Hannes für diese Zeit schriftlich die Verantwortung für Anna Irene.
Mit zwei Autobussen und einer Sondergenehmigung, für die Bundeskanzler Kreisky persönlich gesorgt hat, fahren sie quer durch die Tschechoslowakei und die DDR nach Westberlin, nehmen dort an Diskussionsveranstaltungen und an einer Demonstration gegen die Mauer teil und schlafen in einem Turnsaal. Sie fühlt sich mit den anderen richtig verbunden und findet es schade, als sie wieder heimfahren müssen.

*

Gegen Schulschluss im Juni fragt Uschi Dagmar und Anna Irene: »Im September kommt die Nina Hagen in die Stadthalle. Wollen wir da vielleicht gemeinsam hingehen?«
Dagmar sagt am nächsten Tag zu. Anna Irene weiß noch nicht, ob sie darf.
»Mein Papa will uns bald die Karten besorgen, damit wir gute Plätze haben«, fordert Uschi nach einigen Tagen.
»Ich hab mich noch nicht fragen getraut.«
»Sag ihr einfach, dass mein Papa mitgeht«, schlägt Uschi vor, »dann kann sie gar nichts dagegen haben. Dagmars Eltern erlauben es doch auch.«
Anna Irene wartet bis zum Wochenende, wenn Onkel Joe da ist, und weiht ihn zuerst ein. Er meint, die Stadthalle sei ja ein seriöser Betrieb, da würde sie schon nichts dagegen haben, aber er verspricht trotzdem, mit Frau K. zu reden.
Diese fragt am nächsten Tag: »Und wer ist das, diese Nina Hagen?«
»Eine neue deutsche Sängerin«, gibt Anna Irene Auskunft und muss insgeheim schmunzeln. Sicher stellt sie sich jetzt sowas wie ihre Daliah Lavi vor …
»Also, ich werde da einmal mit Dora drüber reden, was sie meint.«
In dem Moment klingelt das Telefon. Uschis Vater ist dran und möchte wissen, ob er denn nun für Anna Irene eine Karte mitbesorgen soll oder nicht. Frau K. schaut nervös herum, und sagt mit wichtigtuerischer Stimme: »Ich bekomme Karten für die Stadthalle billiger, ich werde sie besorgen.«

*

Die Ferien beginnen, und Anna Irene muss sich von Hannes verabschieden. Er fliegt mit Robert und Sonja für zwei Wochen nach Schottland, sie mit Onkel Joe und Frau K. drei Wochen nach Griechenland.
Auf der Insel Ios angekommen, beziehen sie ihr Hotelzimmer und gehen anschließend durch die Hafenstadt. Anna Irene gefällt es hier und sie hat gerade das Gefühl, dass es ein friedlicher Urlaub werden könnte. Frau K. trinkt zum Essen in einer Taverne Samos und ist gut aufgelegt. Anschließend entdeckt sie einen kleinen Schneider, der für Touristen von einem auf den anderen Tag Hosen näht – aus dünnem Baumwollstoff und oben und unten mit Bändern zuzubinden. Die Mutti hatte doch noch nie eine Hose an, weil sie zu dick dafür ist, sagt sie immer …
Zum Baden suchen sie sich eine einsame Bucht, denn Frau K. will nicht da baden, wo alle baden. Lieber auf Steinen und alleine, als mit den anderen auf dem Sandstrand. Anna Irene macht es nichts aus, sie springt mit der Taucherbrille von einem Felsvorsprung und erkundet das Leben unter Wasser.
Als sie am späten Nachmittag die fertigen Pumphosen probieren und abholen, gehen sie gleich ins Hotel, um sie anzuziehen. Danach schlendern sie den Strand entlang. Frau K. greift nach Onkel Joes Hand. Das schaut richtig komisch aus … überhaupt die Mutti in der Pumphose … Sie kann sich nicht erinnern, wann sie die beiden jemals so gesehen hat. Vielleicht wird sie ja jetzt doch anders?
Aber als Frau K. plötzlich mit erhöhter Stimme zu Onkel Joe sagt »Jetzt sind wir richtig intellektuell«, weiß Anna Irene: Sie spielt nur Theater … in ihrer Verkleidung mit der Pumphose … Und als der Kellner die Bestellung verwechselt und Frau K.s Souvlaki am Nebentisch serviert, während sie das Gyros des anderen Gastes bekommt, verlangt sie, es frisch gemacht zu bekommen, obwohl der Mann es überhaupt nicht angerührt hat. … nix mit intellektuell.
Den Ausflug auf die Vulkaninsel Santorin findet Anna Irene spannend, besonders, bevor sie mit der Fähre im Hafen anlegen. Frau K. liest aus dem Reiseführer vor, dass in den Höhlen der Bimssteinwände früher Hippies gehaust haben. Da wär ich gern dabei gewesen!
Nach dem Anlegen müssen sie einen Serpentinenweg auf dem Rücken von Mulis zurücklegen, was Anna Irene lustig findet. Frau K. kreischt den ganzen Weg hinauf vor Angst, befolgt nicht die Ratschläge, die ihr Onkel Joe die ganze Zeit gibt, und beschuldigt am Ende die Betreiber der Mulilinie, ihr absichtlich den störrischsten Esel gegeben zu haben.
Die Tage gehen trotzdem ohne größere Streitereien vorüber, und auch wenn Anna Irene sich nicht mehr so wohl fühlt, wie am ersten Tag, und am liebsten ein Schild vor sich hertragen würde, dass sie nicht zu dieser Frau gehört, so ist es doch der friedlichste Urlaub, den sie bisher erlebt hat. Das gibt ihr Mut zur Hoffnung, als sie leise auf den Balkon des Hotelzimmers geht und alleine den Sonnenaufgang genießt. Sicher wird alles gut, Onkel Joe wird bestimmt zu uns ziehen, wenn sie sich so gut vertragen. Hoffentlich bekommt er bald eine passende Stelle …

Wie ausgemacht, holt Hannes sie bei der Rückkehr vom Flughafen ab und bringt sie nach Hause. Frau K. hat zwar wegen des verrauchten Autos schon die Nase gerümpft, als Hannes sich angeboten hat, aber mit ihm ist es ja doch bequemer als im Taxi, und er trägt auch gleich zwei Koffer hinauf.
Anschließend gehen er und Anna Irene ins Kino und sehen »Jesus Christ Superstar«. Hannes spielte schon vor den Ferien immer die Kassette mit der Filmmusik im Auto, und sie freut sich sehr, dass sie den Film nun auch sehen wird.
Nach der Kinovorstellung fahren sie in den Wienerwald und spazieren mit der Decke von der Rückbank des Autos auf eine Lichtung, wo er zum zweiten Mal versucht, richtig mit Anna Irene zu schlafen, aber auch diesmal macht ihr der Druck, funktionieren zu müssen, zu viel Angst, und sie muss seine Befriedigung wieder mit dem Mund erarbeiten, der ihr vor Anstrengung weh tut, als sie danach durch den finsteren Wald zurück zum Auto gehen und Hannes sie nach Hause bringt.

Die restlichen Ferien unternehmen sie viel gemeinsam und auch mit anderen aus der SJ. Sie nehmen an einer Autorätselrallye teil, gehen zu einer Lesung von Helmut Zenker in die Alte Schmiede, schauen sich eine Ausstellung über alternative Energieformen an oder treffen sich einfach nur so bei Hannes. Dort sagt sie eines Tages zu ihm:
»Ich würd so gern wieder einmal meinen Papa sehen.«
»Und warum besuchst du ihn nicht?«
»Weil ich mich nicht trau, das meiner Mutter zu sagen.«
»Naja, bei deiner Mutter …«
»Kannst du nicht mit mir einmal nach Linz fahren? Wir könnten ja sagen, dass wir einen Ausflug machen.«
Eine Woche später sind sie unterwegs nach Linz, besuchen überraschend Anna Irenes Papa, der sich ebenfalls freut, sie wiederzusehen, und er fragt: »Warum hast du denn nicht vorher angerufen?«
»Das hab ich mich nicht getraut, weil die Mutti ja nichts davon wissen darf.«
Er ist allein zuhause, Ilse verbringt mit den drei Kindern einige Tage am Attersee.
Hannes fragt, ob er rauchen darf, und sie gehen gemeinsam auf den Balkon. »Rauchst du nicht mehr, Papa?«, fragt Anna Irene erstaunt.
»Nein, schon ein paar Jahre nicht mehr. Das hat mir nicht gut getan«, sagt er, und Anna Irene muss daran denken, wie sie sich immer gefreut hat, wenn er seine leeren Zigaretten-Weichpackungen für sie gesammelt hat, weil sie mit einer im Hort erlernten Falt- und Flechttechnik einen Papierkorb daraus basteln wollte. Als die Besuchswochenenden irgendwann im Sand verliefen, blieb der halbfertige Papierkorb liegen und Frau K. warf ihn eines Tages mit den Worten »Du machst ihn ja eh nicht mehr fertig« in den Mistkübel.
Sie reden über die Schule und wie lange die beiden schon zusammen sind, gehen essen, dann fahren Hannes und Anna Irene wieder nach Wien, damit sie nicht zu spät von ihrem Ausflug kommen.

*

Ab September hat Anna Irene einen weiten Schulweg: Über eine Stunde ist sie mit der veralteten Stadtbahn und der Straßenbahn unterwegs, um in ihre neue Schule am gegenüberliegenden Ende der Stadt zu kommen. Achtunddreißig Wochenstunden Unterricht, und damit sich stundenplantechnisch alles ausgeht, gibt es in der Schule auch eine »nullte Stunde«, die bereits um sieben in der Früh beginnt; einmal in der Woche trifft es ihre Klasse, dann gibt es Englisch zum Frühstück.
Hauptsache, ich muss nicht mehr mit der Mutti gemeinsam fahren!

Neben den üblichen Unterrichtsgegenständen und Spezialfächern wie Baukonstruktionslehre und Bautechnisches Zeichnen, gibt es einmal in der Woche Praxisunterricht auf dem Bauhof. Maurern und Zimmern wird hier gelehrt, das macht Anna Irene besonders Spaß und hier wird sie auch am meisten gelobt. Stets weiß sie als Erste, wie die Holzverbindungen aussehen müssen, um den gestellten Anforderungen zu entsprechen, und durch Genauigkeit und Liebe zu der Arbeit fertigt sie die klassenbesten Werkstücke an. Das Mischen des Mörtels hat sie schnell im Gefühl und die Mauern, die sie mit Athanasios gemeinsam in den verschiedensten Ziegelverbindungen aufstellt, sind gerade.

Mit Athanasios freundet sich Anna Irene sehr schnell an. Oft verbringen sie gemeinsam die Mittagspause, essen im Schulbuffet oder gehen auf den St. Marxer Friedhof spazieren. Anfangs war ihr mulmig dabei, sie hatte noch nie mit dem Tod direkt zu tun, und hatte Angst, ihn auf dem Friedhof zu spüren. Doch Athanasios sagte: »Der Friedhof ist so alt, da ist sogar der Tod schon tot.«
Und tatsächlich: Als sie durch den aus Ziegelsteinen gemauerten Eingang gehen, den sowohl ein Judenstern als auch ein Kreuz zieren, ist es mehr so, als würden sie durch einen Park spazieren. Vorbei an verwilderten Gräbern und Grabsteinen, an denen die Zeit deutliche Spuren hinterlassen hat. Der Tod ist hier längst verwest und eins mit der Erde.
»Da liegt der Mozart«, sagt Athanasios und zeigt auf ein ungepflegtes Grab mitten am Weg.
»Aha. – Bist du eigentlich Grieche?«, fragt sie.
»Ist das wichtig?«, fragt er zurück. »Nein, ich bin kein Grieche.«
»Warum hast du dann den Namen?«
Er zieht die Schultern hoch und senkt sie wieder. »Keine Ahnung. Hat meinen Eltern wohl gefallen.«

*

An einem Sonntag Mitte September gehen Hannes und sie in den Wiener Wald spazieren. Sie reden über Dinge, die die SJ betreffen, und Anna Irene spürt bereits, dass etwas nicht stimmt. Es dauert zwei Stunden, bis Hannes sich überwindet, ihr zu sagen: »Ich habe eine andere Freundin.«
Anna Irene muss erst schlucken, wirre Gedanken fliegen durch ihren Kopf, ohne Halt zu finden. Ihre Welt bricht zusammen. Sie fühlt sich als Versagerin, weil sie noch nicht seinen Vorstellungen einer Frau entsprechen konnte, und gleichzeitig, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegziehen. Alle ihre Hoffnungen sterben und Hannes tritt seine Zigarette am Boden aus.
Als er sie kurz darauf nach Hause bringt, hat sie nur mehr den einen Gedanken: Die Mutti darf nicht wissen, dass mit Hannes Schluss ist.

In der Woche darauf findet das Konzert von Nina Hagen statt, und die Vorfreude hilft Anna Irene, ihren Kummer wegen Hannes zu verdrängen.

Sie beginnt vor Erleichterung fast zu schweben, als sie endlich bei der Haustür hinaus und zum Konzert geht. Alles wirkt seltsam fremd auf dem Weg zur Straßenbahn, als wäre es gar nicht echt. Bei jeder Gelegenheit hatte Frau K. gedroht, ihr das Konzert doch noch zu verbieten, und sie hatte brav gelernt und gebügelt, ihr Zimmer aufgeräumt und geputzt, im Wohnzimmer gleich weitergeputzt, zum Einkaufen ist sie so oft wie möglich mitgegangen, um Frau K. die Taschen abzunehmen, im Pensionistenheim hat sie besonders freundlich gelächelt und beim Fernsehen hat sie nicht dreingeredet, wenn Frau K. eine ihrer vielen Lieblingssendungen anschauen wollte, bei denen man sich gleich nicht mehr auskennt, wenn man nur ein Wort nicht versteht.
Nur zweimal konnte Anna Irene es nicht verhindern, dass Frau K. abends nach Blitz und Donner den Konzertbesuch verbot, woraufhin Anna Irene kaum schlafen konnte. Sie erbettelte am nächsten Tag unter Tränen die neuerliche Erlaubnis.
Nun hat sie es geschafft, sie ist pünktlich am Treffpunkt, schaut sich kurz um und sieht Uschi und Dagmar. Sie haben ihre Großvaterhemden an! Als Uschi Anna Irene sieht, holt sie das weiße Hemd und die schmale, schwarze Krawatte für Anna Irene aus der Tasche, und Anna Irene fühlt sich wie ein kleines Kind zu Weihnachten. Sie zieht das Hemd über ihr T-Shirt an und gibt Uschi einen Kuss auf die Wange. »Du bist ein echter Schatz!«

Alle stehen von ihren Sitzplätzen auf, als Nina in ihrem engen, schwarzen Kostüm die Bühne betritt und die ersten Instrumente einsetzen. Anna Irene steht fasziniert da, kann es noch immer kaum glauben, dass sie es geschafft hat, hier zu sein, und spürt die Musik plötzlich in ihrem ganzen Körper. Das Einsetzen von Ninas Stimme, im Publikum leuchten Feuerzeuge auf, buntes Scheinwerferlicht bewegt sich mit Nina und zur Musik, alles ist wie ein lauter Traum. Anna Irene genießt die Stimmung, fühlt sich eins mit den anderen, bewegt sich im Rhythmus und fühlt sich von Ninas gesungenen Worten immer mehr angesprochen. Ich will hier nie wieder hinaus, das sollte ewig so weitergehen …

Langsam wird alles um Anna Irene zur Kulisse, sie nimmt nur mehr Nina wahr. Und dann geht Nina am Ende eines Liedes ganz nach vorne auf die Bühne und sagt laut und deutlich: »Macht nicht, was andere von euch wollen, handelt nach eurem eigenen Gefühl, nach eurer eigenen Überzeugung! Versucht nicht, das Leben zu leben, das irgendjemand von euch erwartet – nur wenn man wirklich man selbst ist, kann man glücklich und ein freier, aufrichtiger Mensch sein.«
Anna Irene bekommt bei diesen Worten Gänsehaut, sie legen sich sperrig in ihren Kopf und werden auch von den folgenden Liedern nicht handlicher. Die Musik lässt sie aber nicht da stehen und nachdenken, sie nimmt Anna Irene einfach wieder mit, fliegt mit ihr noch eine Runde durch die Höhen und Tiefen von Ninas Stimme, und die Kraft darin lässt Anna Irene ihre eigene innere Kraft spüren. So möcht ich auch einmal sein, so stark … dass keiner über mich bestimmt.
Bevor die endgültig letzte Nummer gespielt wird, fordert Nina die Konzertbesucher auf, zu einem Treffen am Samstag in den Burggarten zu kommen. Ja, da will ich hingehen. Irgendwie muss ich das dürfen! … Ich könnte so tun, als würde ich mich mit Hannes treffen …

Ninas Worte gehen Anna Irene nicht mehr aus dem Kopf. Das Großvaterhemd schmeißt sie zur Schmutzwäsche, wenig später liegt sie im Bett und kann nicht schlafen. Wie soll das denn gehen? Wie kann ich denn tun, was ich will, wenn die Mutti über alles bestimmt? Mein Leben ist ja jetzt schon nicht mehr meins, denn dann wäre ich doch noch in Linz. Alles wäre ganz anders, wenn es nach mir gehen würde und mein Leben wäre. Und wie soll ich irgendetwas tun, was der Mutti nicht recht wäre, oder etwas nicht tun, was sie sich erwartet, wenn sie mich nachher womöglich umbringt? – Wie kann ich denn ich selbst sein? – Wie kann ich das machen, dass es mein Leben ist? Ich muss unbedingt mit Nina reden und sie fragen, wie das geht. Die kann mir das sicher sagen. … Nina … Der Gedanke, Nina so richtig gegenüberzustehen und mit ihr zu reden, ist überwältigend, lässt sich in hundert Varianten bildhaft vorstellen und wirkt doch so unecht. Irgendwann wirken die Bilder mit Nina doch noch, wie die unzähligen gezählten Schäfchen es angeblich tun.

Am Ende des Frühstücks überwindet sie sich, zu fragen: »Darf ich heute Nachmittag weggehen?«
»Wieso, was hast du denn vor?«, fragt Frau K. zurück.
Anna Irene bringt es nicht fertig, sie anzulügen. »Nur ein paar Leute treffen.«
»Was für Leute
Onkel Joe, der ebenfalls dabeisitzt und kurz Luft holt, als wollte er etwas sagen, bekommt einen giftigen Blick von Frau K. zugeworfen, der erfahrungsgemäß Halt den Mund! heißt, dann fragt sie Richtung Anna Irene weiter: »Wer sind die und wie kommst du zu denen?«
»Die Nina Hagen hat die Leute aus dem Konzert für heute Nachmittag in den Burggarten eingeladen.«
»Nein, na wirklich nicht! Das kommt ja gar nicht in Frage! In den Burggarten …!« Sie zeigt Anna Irene den Vogel, die rein gar nichts über den Burggarten weiß, außer, dass er am Burgring liegt, wo der Neunundvierziger Endstation hat. »Ich lass dich doch nicht zu dem ganzen Gesindel, du hast genug zu tun.« Ihr Blick weist auf den wiederum auf Lehnenhöhe angewachsenen Bügelwäscheberg auf dem Bügelbergsessel. »Und wenn du damit fertig bist, kannst du wieder einmal Schuhe putzen.« Ohne merklich Luft zu holen, wendet sie sich Onkel Joe zu, verzieht dabei ihr Gesicht zu einem künstlichen Lächeln und sagt: »Und wir fahren dann zum Ikea. Ich möchte mir diese wunderbaren gusseisernen Kochtöpfe anschauen, die ich im Katalog gesehen habe.«
Wenn sie wegfahren, dann … Da ist doch vorgestern in der Zeitung gestanden, in welchem Hotel sie wohnt … Dann kann ich ja vielleicht dort anrufen und mit Nina am Telefon reden! Als sie kurz darauf ins Badezimmer geht, schaut sie im Vorzimmer unauffällig in die Schachtel, in der das Altpapier gesammelt wird. Ja! Halb voll, da sind sicher noch alle Zeitungen drin! Sie freut sich innerlich, aber sie denkt auch daran, dass sie sich nichts anmerken lassen darf, und bügelt mit heimlicher Vorfreude. Hoffentlich erreiche ich Nina dort … ich muss mit ihr reden …

Endlich verlassen Frau K. und Onkel Joe das Haus. Anna Irene wartet eine Weile, für den Fall, dass Frau K. etwas vergessen hat und noch einmal zurückkommt, und sucht dann die richtige Zeitung aus dem Altpapier. Sie durchblättert die AZ nach der kleinen Meldung. Kurz darauf liest sie im Telefonbuch. Hotel Intercontinental … Da ist es! Sie nimmt den Hörer ab, hält ihn kurz in der Hand und legt wieder auf; überlegt erst: Wie fange ich denn an? Was sage ich zuerst? … Dass mir ihr Konzert gefallen hat, ja, genau.
Sie wählt die Nummer des Hotels, bringt ihren Wunsch, mit Nina Hagen sprechen zu dürfen, vor und wird prompt verbunden. Kurz darauf meldet sich Nina: »Hallo, hier ist Nina, wer spricht denn da?«
»Hallo, Nina! Ich heiße Anna Irene und ich war auf deinem Konzert gestern. Das hat mir super gefallen! Und meinen Freundinnen auch, wir waren zu dritt da.«
»Das freut mich, dankeschön!«
»Und heute ist ja dieses Treffen«, Anna Irene steigen plötzlich Tränen in die Augen und sie versucht, sie zurückzuhalten, »und ich darf nicht kommen.«
»Na, das macht doch nichts …«
»Aber ich wollte dich so gern etwas fragen, und weil ich nicht kommen darf und gerade allein bin, hab ich jetzt die Nummer rausgesucht …«
»Was wolltest du denn wissen? Frag mich ruhig!«
»Also, wie das geht, was du gesagt hast …«
»Hm?«
»Dass man man selber sein soll.«
»Und was verstehst du denn da nicht?«
»Wenn meine Mutter alles bestimmt, kann ich doch nie ich selbst sein. Ich muss doch immer tun, was sie will.«

Nina nimmt sich Zeit für Anna Irene, spricht eine halbe Stunde mit ihr, tröstet sie und macht ihr Mut. Erklärt ihr, dass sie versuchen soll, die Zeit gut zu überstehen und dabei ihr Ziel nie aus den Augen zu verlieren.
»Ich weiß, dass du es schaffst, das höre ich aus deinen Worten. Du darfst nur nie aufgeben

Ihr Herz rast, als wäre sie drei Runden im Stadion gelaufen, während sie den Hörer wieder auf die Gabel legt. Ich werd es schaffen, hat sie gesagt. Sie muss einfach Recht haben!

Das Bügeleisen gibt ein Klacken von sich und erinnert sie daran, weiterzubügeln, damit Frau K. nicht bemerkt, dass sie etwas anderes gemacht hat. Schnell noch die Zeitung wieder zurücklegen. Ihre Gedanken fahren Achterbahn. Ein Auf und Ab zwischen der Euphorie um Ninas Zuspruch und der Angst davor, wie die nächste Zeit wohl wird, ohne Hannes. Dazwischen Loopings aus der Angst, Frau K. könne anhand der Telefonrechnung bemerken, wie lange sie telefoniert hat.
Der Schlüssel im Schloss bremst die Fahrt. Aussteigen, die Realität ist zurück.

*

Tage später findet Anna Irene im Wohnzimmerregal eine A4-Broschüre, auf deren blassgelbem Deckblatt steht in Fettschrift »Drogen«, und darunter etwas kleiner: »Informationen für Sozialarbeiter«
Weil Frau K. bald da sein wird, traut sie sich nicht, darin zu lesen, sondern wartet auf einen Zeitpunkt, wenn sie sicher sein kann, länger allein zu sein. Währenddessen fragt sie sich immer wieder, ob Frau K. das Heft von Hannes oder von Tante Dora bekommen hat. Immerhin arbeitet Tante Dora inzwischen im Bundeskanzleramt, als Mitarbeiterin der Frauen-Staatssekretärin, und die Broschüre ist von einem Ministerium herausgegeben. Sie findet keine Antwort, nur noch mehr Fragen.
Zwei Wochen später liest sie über die Wirkungen sämtlicher bekannter Rauschgifte, die in dem Heft nüchtern und objektiv beschrieben werden, weil Sozialarbeiter einen realistischen Einblick in die Welt ihrer Klienten bekommen sollen. Sie liest, dass Cannabis Stimmung und Kreativität hebt und die Menschen das Gefühl haben, dass sie eingeraucht sich selbst näher sind, und dass es dabei im Gegensatz zu anderen Drogen keine körperliche Sucht gibt. Das will ich einmal probieren … Ich muss die Leute finden, die das haben …

Als sie die nächsten Male bügeln muss, wartet sie immer, dass ihr Hemd bei der Bügelwäsche ist, aber es kommt nicht. Sie fragt Frau K.: »Wo ist denn mein neues Hemd?«
»Dein neues Hemd?! Das hab ich natürlich weggeschmissen. Hat ja ausgesehen, wie aus dem Mistkübel herausgezogen. Sollen die Leute glauben, wir können uns kein ordentliches Gewand leisten?!«
Anna Irene fühlt sich wieder ein Stück mehr abgetötet. »Das Hemd war schön, und ich hab es von der Uschi bekommen!«
»Aber wenn ich dir eine schöne Bluse kaufe, dann willst du sie nicht.«

Bald merkt Frau K. auch, dass Hannes nicht mehr kommt. »Warst ihm wohl nicht gut genug?«, stellt sie mehr fest, als dass sie fragt. »Naja, du hast ja eh genug zu lernen. Und von der SJ kommst du in Zukunft pünktlich nach Hause. Wenn du am nächsten Tag Schule hast, ist das sowieso nichts, wenn du so lange unterwegs bist.«

Onkel Joe kommt am Wochenende mit einer erfreulichen Meldung: Er wird zweimal für je eine Woche in Wien sein. Obwohl es eigentlich nicht zu seinen Aufgaben gehört, wird er für die Vöest im November Montagearbeiten ausführen.
Anna Irene genießt die beiden Wochen, als wäre sie im Paradies gelandet. Er lernt mit ihr, sie gehen in die Stadthalle schwimmen, er bringt sie mit dem Auto zur Schule, und sie muss keine Angst vor Frau K. haben. Warum kann es nicht einfach ewig so bleiben? Wann wohnt er endlich ganz bei uns?

*

Es weihnachtet und Onkel Joe hat Urlaub bis über Silvester. Vielleicht fahren wir ja sogar einmal schifahren? Das wäre schön, wir waren schon so lange nicht!
Am 24. und 25. Dezember ist auch noch die Oma zu Besuch und Frau K. ist gestresst und nervös, weil sie immer besonders gut kochen will, wenn ihre Mutter da ist.
Oma weiß dies auch zu würdigen, wischt sich mit der Serviette über die Lippen und sagt: »Das schmeckt wirklich sehr gut – wie im Restaurant!«
Frau K. schnappt empört nach Luft. »Das ist ja wohl die Höhe! Mein Essen mit einem Gasthaus-Essen zu vergleichen … ist eine Beleidigung!«
Die beiden geraten wieder einmal in Streit und Anna Irene hat Mitleid mit ihrer Oma. Sie hat es doch nur gut gemeint …

Als Anna Irene und Onkel Joe die Oma am nächsten Tag zum Zug bringen, fragt sie ihn bei der Rückfahrt: »Können wir vielleicht auch einmal schifahren in den Ferien?«
»Nein, ich hab meine Schi ja bei meinen Eltern in Linz.«
»Aber wann fahren wir denn wieder einmal?«
»Das kann ich dir nicht sagen …«
Sie spürt, dass Onkel Joe irgendwie verändert ist.

Am nächsten Tag sitzt sie in ihrem Zimmer, hört gerade das Lied »Hiroshima« und träumt vom Frieden zuhause, als sie ein Geräusch vernimmt, als würde die Wohnzimmertür zugemacht. Das ist ungewöhnlich, normalerweise steht sie immer offen. Sie geht hinaus, um sich zu überzeugen. Tatsächlich, die Tür ist zu.

Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in ihrem Magen aus, sie bekommt Angst. Irgendetwas stimmt nicht. Sie würde gerne an der Tür horchen, aber da diese Glaseinsätze hat, traut sie sich gar nicht näher hin. Sie ahnt, worum es geht, betet, dass alles nur Einbildung ist.
Wie versteinert sitzt sie auf ihrem Bett. Leere. Die Frage, was wird, wenn ihre Befürchtungen stimmen, endet mit dem Fragezeichen. Die Antwort lässt sich nicht denken.
Nach rund einer Stunde kommt Onkel Joe zu Anna Irene ins Zimmer und erklärt auch ihr, dass er sich von Frau K. scheiden lässt.
Unter Tränen bittet sie ihn: »Bittebitte überleg dir das noch einmal … Bittebitte bleib bei uns, ich brauch dich doch!«
»Das geht nicht. Eine Frau in Linz bekommt ein Kind von mir …«

Wie überlebe ich die Wochenenden ohne ihn? Wer hilft mir dann? Wer beruhigt die Mutti, wenn sie sich aufregt? Wenn Onkel Joe weg ist, bin ich immer ganz alleine mit ihr … das halt ich doch nicht aus!
Vor Anna Irene öffnet sich ein Abgrund, immer tiefer, bietet freie Sicht in die Hölle, und egal, in welche Richtung sie schaut, sämtliche Wege sind abgeschnitten, kein Wald ist mehr übrig, alles um sie ist nur mehr blutende, glühende Erde, in deren Tiefe ein vernichtendes Feuer lodert.
Jetzt ist alles aus … das überleb ich nicht …
Den Rest des Tages fängt sie jedesmal, wenn sie ihn ansieht, zu weinen an. Sie kann gar nicht anders.

Am Tag danach fährt Onkel Joe nach Linz und nimmt auch gleich fast alle seine Sachen mit. Viel hatte er ja nie da. Silvester möchte er mit seiner neuen Frau feiern. Anna Irene bekommt kaum mehr etwas mit, ihr Hirn ist wie eingenebelt. Sie isst fast nichts mehr und nachts träumt sie davon, der Frau in Linz das Kind aus dem Bauch zu treten, damit Onkel Joe wieder zurückkommen kann.

*

Tante Dora schickt Frau K. nach den Ferien in die von den SPÖ-Frauen unterstützte Familienberatung, um sich dort zu erkundigen, wie sie bei der Scheidung mit dem Wohnungsverbesserungskredit am besten aussteigt.
»Du kommst natürlich mit. Wir gehen die Besucherfrequenz steigern, und da zählst du auch.«

Die Beraterin bespricht mit Frau K. Dinge, die an Anna Irene vorbeigehen, und sagt anschließend zu ihr:
»Du musst jetzt deiner Mutti viel helfen. Sie hat es jetzt schwer. Dich betrifft das ja nicht so, weil er ja nur dein Stiefvater war und nicht dein richtiger.«

Anna Irene fühlt sich, wie mit einem Dolch abgestochen, aber sie sagt nichts darauf, weil Frau K. danebensitzt.

Wieder zuhause, kommt Frau K. plötzlich in ihr Zimmer und erklärt: »Wir haben jetzt natürlich weniger Geld, und wenn ich dir die Schule weiterhin finanzieren soll, erwarte ich auch, dass du ordentlich lernst. Dann gibt es kein Fortgehen mehr, du hast zu lernen und zu lernen und zu lernen. Du steckst deine Nase in nichts anderes mehr, als in deine Schulbücher. Solange ich dich durchfüttern muss, will ich die Gewissheit haben, dass es nicht umsonst ist.« Das halte ich doch keine fünf Jahre aus … Ich kann die Schule nicht fertigmachen …

*

Anna Irene sieht Onkel Joe nicht mehr. Sie muss in der Schule sein, als er und Frau K. ihren Termin am Gericht haben und er seine letzten Sachen abholt, die Frau K. schon bereitgestellt hat.
Von Hannes und Onkel Joe verlassen, werden die körperlichen Übergriffe von Frau K. auf Anna Irene wieder häufiger. Haarereißen, irgendwo hinstoßen. Immer öfter gegen die Türschnalle der Wohnungstür, das tut viel mehr weh im Rücken als der hölzerne Türstock mit den abgerundeten Ecken. Anna Irene möchte brav sein und versucht, jegliche Schmerzenslaute zu unterdrücken, alles hinzunehmen, selbst die Angst, irgendwann blöd zu fallen. Sie weiß, dass es nur schlimmer wird, je mehr sie jammert und heult.
Und immer öfter hat sie das Gefühl, sterben zu müssen, obwohl sie körperlich gesund ist.

Athanasios und Anna Irene beschließen, den zweistündigen Turnunterricht, für den sie während der Mittagspause in einen anderen Bezirk fahren müssen, gemeinsam zu schwänzen.
»Kennst du das Café Eos?«
»Nein.«
»Wird dir sicher gefallen.«
Sie gehen durch die mit einem schweren, roten Vorhang verhängte Tür in das Lokal. Es wirkt recht bieder. Als Pinguine verkleidete Ober, gepolsterte Sitzbänke an den Wänden, davor kleine, runde Kaffeehaustische und Thonet-Sessel, einige in Zeitungen, Bücher oder Gespräche vertiefte alte und junge Menschen.
Anna Irene schaut sich nach einem guten Platz um, doch Athanasios sagt: »Komm, wir gehen nach hinten.«
Im Hinterzimmer steht ein Flipper, an dem bereits zwei junge Burschen spielen.
»Können wir mitspielen?«, fragt Athanasios. Als die beiden das Spiel beendet haben, wirft er eine Zehn-Schilling-Münze in den Apparat und sie spielen zu viert.
Die Turnstunde ist schnell um, Anna Irene fährt pünktlich nach Hause, damit nichts auffällt.

»Wieso stinkst du so nach Rauch?«, fragt Frau K. zur Begrüßung.
Darauf ist Anna Irene nicht vorbereitet, deshalb fragt sie zurück: »Was? Ich stink nach Rauch?«
»Na, riechst du das etwa nicht?«
»Nein. Wir waren in der Mittagspause was essen, vielleicht von da?«
»Wer ist ›wir‹?«
»Ein paar von meiner Klasse und ich.«
Frau K. sieht auf die Uhr. Keine Zeit für ein Theater. »Geh dich baden und wasch dir die verstunkenen Haare. Wir gehen heute mit Dora zur Vorbesprechung des Frauentags, da kann ich dich so nicht brauchen. Was sollen denn die von uns denken.«

Zwei Stunden später sitzen sie bei Kuchen und Orangensaft mit wichtigen Frauen in einem Besprechungszimmer. Frau K. schaut aufgeregt und stolz. Die Aufgabe Anna Irenes ist beschlossene Sache.
»Wir wollen, dass du etwas machst, womit du zeigst, dass die HTL auch eine Schule für Mädchen ist. Du kannst doch sicher irgendetwas von dem, was du gelernt hast, vorführen, nicht?«
Anna Irene wird mulmig, aber sie weiß, es bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Plänen zuzustimmen. Frau K. würde sich schämen und alles in Zorn umwandeln …
»Einen Plan zeichnen, vielleicht?«, schlägt Anna Irene vor. Dann könnte ich da einfach meine Hausübung machen … Aber wenn mir dann alle zuschauen …
»Naja, wir haben eher an eine praktische Arbeit gedacht, etwas, was du am Bauhof lernst, damit man auch etwas sieht. Eine Mauer aufstellen oder sowas.«
»Ja, oder eine Holzverbindung sägen und stemmen.«
Der wohnzimmergroße Raum ist inzwischen ganz vernebelt, die Frauen diskutieren untereinander, sind der Meinung, eine Mauer wäre ein viel besserer Blickfang, und beschließen sogleich den Standort von Anna Irene. »Da in dem Durchgang zwischen den beiden großen Räumen wäre es optimal.«

Im Unterricht fällt es Anna Irene immer schwerer, sich zu konzentrieren, und auch zuhause kann sie stundenlang lernen, ohne sich etwas zu merken. Im Halbjahreszeugnis, das sie heuer genau an ihrem Geburtstag bekommt, stehen die ersten Vierer und Fünfer. Einzig in Deutsch, Englisch und am Bauhof hat sie noch Einser.
Und je schlechter die Noten werden, desto öfter nimmt Frau K. sie als Anlass, sich wieder einmal so richtig körperlich auszutoben. Anna Irene kann gar nicht mehr in ihre Nähe gehen, ohne Angst zu bekommen, und wenn sie in ihrem Zimmer ist und hört, wie sich Frau K.s Schritte auf dem knarrenden Boden nähern, zuckt sie zusammen.

Als Athanasios und sie sich in der Früh sehen, sprechen sie mit den Augen, packen ihre Sachen und gehen einfach wieder aus der Klasse.
»Und jetzt?«, fragt Anna Irene.
»In den Prater?«
»Um die Zeit?«
»Die Flipperhallen haben schon offen. Und ich weiß einen Flipper, wo man noch fünf Spiele mit fünf Kugeln für einen Zehner bekommt.«
»Gut, fahren wir in den Prater.«

*

Anna Irene ist kalt von draußen, als sie das Künstlerhaus betritt. Sie geht in den für sie vorgesehenen leeren Raum, in dem ihr Material bereitgestellt ist, aber ihr wird nicht wärmer.
In den Sälen links und rechts von ihr werden Infotische und Verkaufsstände aufgebaut, auch am Frauentag unentbehrliche, helfende Männer mit Schraubenziehern und wichtige Frauen mit Block und Kugelschreiber laufen herum. Anna Irene fühlt sich so fremd, wie sie abseits steht. Hoffentlich geht der Tag schnell vorbei …
Endlich kommt eine der Frauen zu ihr, begrüßt sie und fragt, ob sie alles hat, was sie braucht.
»Wasser brauch ich auch, wenn ich einen Mörtel mischen soll. Und kommt da zu mir kein Infotisch?«
»Nein, wofür? Wenn die Leute Fragen haben, kannst du sie ja beantworten. Wasser bekommst du dann gleich.«
Was soll ich denn den Leuten erzählen? Ich will mich doch gar nicht hervortun, dass ich als Mädchen in diese Schule geh. Da komm ich mir dann sicher ur blöd vor. Und ich will auch niemandem einreden, dass jetzt alle Mädchen unbedingt technische Berufe ergreifen sollen … mich interessiert es halt zufällig, weil ich den Onkel Joe … Hoffentlich reden mich nicht viele an …

Kübel mit Wasser werden gebracht, Anna Irene zieht ihr viel zu großes, weißes Maurergewand an und beginnt mit der Arbeit.
Die ersten Besucherinnen spazieren herum, und als sie von einem Raum in den anderen gehen, werfen sie Blicke auf Anna Irene, als wäre sie ein Fremdkörper. Nur wenige sprechen sie an, und dann gibt sie Verlegenheitsantworten. »Ja, ich soll hier zeigen, dass Mädchen das auch können.«
Von Stunde zu Stunde fühlt sie sich unwohler. Frau K. und Tante Dora sind nun auch da, aber sie haben zum Glück anderes zu tun, als sich bei Anna Irene aufzuhalten.
Die Mauer wächst, und bald kann sie sich dahinter für ein paar Momente verstecken und unbeobachtet sein. Wenn nur Athanasios da sein könnte … Aber als Bub darf er mir ja am Frauentag nicht helfen … Und muss ich das jetzt eigentlich dann jedes Jahr machen, wenn ich die Schule weiter besuche? Wieso können alle anderen ganz normal in die Schule gehen, aber ich muss mich hier so blöd herstellen?

Schließlich schleppen sich die Zeiger doch noch Richtung achtzehn Uhr, Anna Irene beginnt, die Mauer wieder abzubauen. Da kommt Tante Dora und meint, das brauche sie nicht, das machten eh die Arbeiter. »Und da musst du noch unterschreiben, dass du dein Künstlerhonorar den SPÖ-Frauen spendest.«

*

Flippern lenkt Anna Irene gut von dem Druck ab, den sie nicht aushält, und oft fährt sie gar nicht mehr bis zur Schule, sondern steigt auf halber Strecke des Einundsiebzigers aus und trifft Athanasios direkt im Café Eos. Oder auch nicht, sie kennt mittlerweile die Gäste, die gerne flippern. Und eigentlich ist es egal, mit wem sie spielt, solange sie sich auf die Kugel konzentrieren und alles andere damit verdrängen kann. Meistens kommt sie mit einem Zehner pro Vormittag aus, da sie fast immer Freispiele macht. Immer wieder kommt ihr ein Und das als Mädchen … in den Kopf, dann muss sie schmunzeln und stellt sich die dummen Gesichter von Frau K. und Tante Dora vor, wenn sie ihr zuschauen könnten. Aber hier fühlt sie sich vor ihnen sicher.

In der Schule rollt die Kugel als Folge immer weniger gut, und je mehr schlechte Noten sie unterschreiben lassen muss, desto öfter versucht Frau K., mittels Gewalt Anna Irenes Lernbereitschaft zu steigern.
Als es wieder einmal soweit ist, und Anna Irene sich gerade noch abfangen kann, bevor sie auf das Eck des Schuhkastls fallen würde, packt sie anschließend ein bisschen Wäsche in ihre Sporttasche, zieht sich Schuhe und Jacke an, ruft ins Wohnzimmer »Ich geh! Auf nimmerwiedersehen!« und schlägt die Wohnungstür von außen zu.
Frau K. ruft ihr durchs Stiegenhaus »Ich will wissen, wo du hingehst!« nach, doch Anna Irene lacht nur über die Frage, geht bei der Haustür hinaus und schlägt in schnellem Schritt den Weg zur U-Bahn ein. Bei einem von den Typen aus dem Eos kann ich bestimmt übernachten …
Je näher sie zur Stadtbahn kommt, desto flauer wird ihr Gefühl im Magen, aber umzukehren und wieder zu Frau K. zurückzugehen macht ihr noch mehr Angst als die Ungewissheit. Irgendwie geht es schon. Es sind nur noch drei Jahre, bis ich achtzehn bin, irgendwie komme ich schon durch.
In der Stadtbahn beginnt sie zu weinen und schaut durch das Fenster in die alles spiegelnde Finsternis. Die Fahrt bis zum Karlsplatz wirkt endlos lang. Als sie endlich da ist, am Künstlerhaus vorbei Richtung Schwarzenbergplatz geht und auf den Einundsiebziger wartet, werden ihre Knie immer weicher. Sicher sieht mir jeder an, dass ich abgehaut bin …
Schließlich erreicht sie das Café und geht gleich nach hinten.
Eine Menge Leute sind da, aber keiner, den sie kennt. Sie stellt sich zum Flipper, die Tasche darunter, wartet, bis sie mitspielen kann. Währenddessen fragt sie die Burschen, ob sie ihre Freunde gesehen haben, doch die kennen sie gar nicht. Wo soll ich denn dann hin? … Ich bleib jetzt einfach einmal da und warte, was passiert … Vielleicht kann ich mich vor dem Zusperren irgendwo verstecken und mich hier einsperren lassen?
Doch nach einer Weile beschließen die drei Burschen, mit denen sie gespielt hat, noch etwas anderes zu unternehmen, und Anna Irene fragt: »Darf ich mit euch mitkommen?«
Die drei haben nichts dagegen, nehmen sie in ihrem Golf mit zu einer abgelegenen Straße, um da ein wenig Rollschuh zu fahren. Da Anna Irene keine Rollschuhe mit hat, schaut sie ihnen zu und wird dabei wieder trauriger. Schließlich haben sie genug, beschließen nach Hause zu fahren, da fragt der Fahrer des Golfs: »Wo kann ich dich denn hinbringen?«
»Nirgends …«
»Du musst doch nach Hause …?«
»Ich will nicht mehr nach Hause. Hat vielleicht einer von euch einen Platz zum Schlafen für mich?«
»Nana, so machen wir das nicht. Du sagst mir jetzt, wo du wohnst, und wenn du willst, bringe ich dich noch rauf und beruhige deine Eltern.«
Hätte ich nur Eltern, die man so einfach beruhigen kann … »Meine Mutter kann man nicht ›beruhigen‹ …«
»So schlimm kann das gar nicht sein, sie hat dich sicher lieb, auch wenn sie mal schimpft.«
»Nein, hat sie nicht, und ich will nicht mehr nach Hause.«
Die drei geben keine Ruhe, bohren immer mehr, bis Anna Irene doch ihre Adresse sagt. Während der Fahrt reden sie noch weiter auf sie ein und sie wünscht sich, dass die Fahrt ewig dauern möge, sie nie ankommen.
»Das ist ja quer durch Wien, wie kommst du denn ins Café Eos?«
»Ich geh da immer schulstageln.«
»In welche Schule gehst du denn?«
»In die HTL-Hochbau.«
»Na, dann schau, dass du da was draus machst! Lern, statt ins Eos zu gehen, dann hat deine Mutter auch keinen Grund zum Schimpfen.«
»So einfach ist das nicht …«
Als sie schließlich doch ankommen und einer der drei mitgehen will, lehnt sie ab, doch er erwidert. »Bis zur Haustür komm ich mit und ich warte, bis du in der Wohnung bist.«
Frau K. fragt: »Spinnst du, so spät daherzukommen?! Was ich mir Sorgen gemacht habe! Geh dich waschen und verschwinde, ich will heute nichts mehr von dir sehen!«

Am nächsten Tag erzählt sie Athanasios von ihrem Abenteuer, und da sie recht müde ist, sagt sie: »Ich geh heute Nachmittag sicher nicht turnen. Und du?«
»Ich auch nicht. Schauen wir uns ›Gesichter des Todes‹ an.«
»Was ist das?«
»Eine Dokumentation über verschiedene Todesarten.«
»Da dürfen wir doch sicher noch nicht rein.«
»In dem Kino lassen sie uns rein.«
»Na gut, dann schauen wir uns den an.«
Nur ein handgeschriebenes Plakat weist auf den Film hin. Am richtigen Programm steht ein Sex-Film, den es non-stop spielen sollte. Anna Irene ist komisch zumute, als sie in das Kino gehen.
Schließlich sitzen sie in der zweiten Reihe und sehen zu, wie Menschen sterben. Wie sie einen zum Tode bestraften Mann am elektrischen Stuhl festschnallen und ihm die Augen zukleben, und Anna Irene fragt sich, warum sie sie zukleben. Schließlich wird der Strom eingeschaltet und sie sieht, wie die Augen gegen das Klebeband drücken und herausspringen wollen. Blut rinnt aus den Augen, Anna Irene kann nicht wegschauen. Ein paar Szenen später ein Affe, der irgendwo als Delikatesse für Reiche in der Mitte eines speziellen Holztisches so weit versenkt wird, dass gerade noch sein Kopf herausschaut. Zwei Holzbretter mit je einem halben Loch werden um seinen Hals zusammengeschoben und fixiert, sodass er sich nicht mehr bewegen kann. Den feinen Leuten rinnt sichtbar das Wasser im Mund zusammen, während der Kellner dem lebenden Affen die Schädeldecke abnimmt. Danach essen sie schmatzend sein Hirn, sezieren es Bissen für Bissen direkt aus dem Kopf heraus.
Anna Irene hat Mitleid mit den sterbenden Menschen und dem Affen und sie denkt nach über so viel grausame Unmenschlichkeit.
Es drängt sie noch zu weiteren zwei Vorstellungen in das Kino, als könne sie nicht genug davon bekommen, und Athanasios kommt jedes Mal mit. Anna Irene fühlt sich immer viel leichter, wenn sie aus dem Kino kommt, als ließe sie einen Teil ihres eigenen Schmerzes auf der Leinwand zurück.

Als Anna Irene nach Hause kommt, findet Frau K. endlich Zeit, ihr die Rechnung für den Vorabend zu präsentieren. Erst steigert sie sich mittels Fragen wie »Was hast du dir dabei gedacht?« in ihren Zorn, dann geht sie wieder einmal so richtig auf Anna Irene los. Eigentlich müsste ich schon gegen sie ankommen, aber ich kann ihr doch nichts tun, sie ist doch meine Mutter! Anna Irene kann sich nur verteidigen und schafft es oft gerade noch, den plötzlichen Stößen so entgegenzuwirken, daß sie nicht blöd fällt. Sie bringt mich noch irgendwann um!
Zum Glück möchte Frau K. das Essen bis zu den Nachrichten um sieben fertig haben und beendet das Theater plangemäß rechtzeitig. Sie stellt die Teller auf den Tisch, als das Österreich-Bild beginnt.
Während Frau K. gebannt die Meldung über die Räumung des Siemens-Werkes wegen einer Bombendrohung verfolgt, kaut Anna Irene an ihrem endgültigen Entschluss herum, nur noch dieses Schuljahr fertigzumachen, obwohl ihr schon seit geraumer Zeit bewusst ist, dass ihr eigentlich keine andere Wahl bleibt. Entweder würde sie es körperlich nicht überleben, oder seelisch sterben; um zu überleben, muss sie ihren Traum begraben. Das kann ich aber noch nicht der Mutti sagen …

*

In den nächsten Wochen sucht Anna Irene nach einer günstigen Gelegenheit, um Frau K. ihr Vorhaben entschlossen vorzubringen, doch sie findet keine. Vielleicht ist es auch besser, wenn sie es erst zum Schulschluss erfährt …
Für die Ferien braucht Anna Irene einen Praktikumsplatz, meint Frau K., denn es müssen während der fünf Jahre zwei Praktika gemacht werden. Jetzt sollte ich es ihr aber sagen … Zwei Tage später hat sie einen über Parteikontakte organisierten Praktikumsplatz im Baubüro einer Pensionistenheim-Baustelle. Einfach so, ohne Vorstellen. Immerhin kann ich da mein erstes Geld verdienen …

Während die Selbstmordepidemie der letzten beiden Jahre mit einem Elfjährigen, der sich mit seinem Schuhband erhängt, einen weiteren traurigen Höhepunkt erreicht, und wenige Tage später durch Marschall Titos Tod plötzlich Angst vor einem Krieg ausbricht, beginnt Frau K., Anna Irenes Zeugnis vorauszuahnen, und macht sich Sorgen: »Wie ich dann dastehe, nur weil du zu blöd bist, etwas für die Schule zu tun!«

*

Anna Irene sitzt beim Frühstück. Hhh! Ich hab heute Test in Baukonstruktionslehre, und das in der ersten Stunde! Auf den Test hab ich ganz vergessen … Und wenn der nicht positiv ausfällt, hab ich ein »Nicht genügend« im Zeugnis … Scheiße …
Sie versucht, sich nichts anmerken zu lassen, vermeidet jeden Blickkontakt mit Frau K.
Auf dem Weg zur Stadtbahn fahren ihre Gedanken Karussell, immer schneller versuchen sie, aus dem Kreis zu entfliehen, doch sie drehen sich nur um den einen Punkt.
Ich müsste plötzlich ur krank werden, vierzig Fieber, mindestens … aber ich werde ja nicht krank … einen Unfall müsste ich haben … in ein Auto laufen. Wenn ich im Krankenhaus lieg, kann ich keinen Test schreiben. Das trau ich mich aber nicht … Warum bin ich bloß so feig, verdammt, das wäre doch so einfach …
Als sie in der Station die vielen Menschen sieht, will sie am liebsten laut »Helft mir!« schreien. Sie würden mich ja doch nur dumm anschauen …
In der Stadtbahn setzt sie sich auf einen Einzelplatz, schaut aus dem Fenster, wo es zwischen den Haltestellen nichts anderes zu sehen gibt, als eine Mauer, an der eine schmale Kabeltasse entlangläuft, und das Spiegelbild der Frau gegenüber, die vertieft ist in ihr Buch. Neun Stationen muss sie fahren, und mit jeder, die sie hinter sich bringt, wird ihre Angst größer. Tränen laufen ihr das Gesicht hinunter, aber niemand fragt, warum. Ich hab überhaupt niemanden mehr, der mir hilft, seit Onkel Joe weg ist. … Ich kann den Test nicht schreiben, sie bringt mich um … Ich will in einem Loch versinken und erst morgen wieder auftauchen. Kann ich nicht einfach vom Weinen Fieber kriegen? … Schon Kettenbrückengasse, gleich kommt der Karlsplatz und ich weiß noch immer nichts … Ich will das nicht, ich hab so Angst … Wieso hilft mir denn niemand? Mir ist so kalt …
Sie zittert innerlich, als sie zum Ausstieg geht.
Am vorderen Ende des Bahnsteigs fährt gerade die U4 ein, die etappenweise die Stadtbahn ablösen und schon bald bis Meidling fahren soll. Die kommt aber mit einem ganz schönen Tempo in die Station … das geht sicher schnell … und schmerzlos … Sie geht langsam den Bahnsteig vor, wartet, bis die U-Bahn wieder abfährt, schaut auf die Gleise. … und dann bin ich alle Sorgen los, brauche keine Angst mehr haben, keine Tests mehr schreiben, die Mutti könnte mir nicht mehr weh tun … und dann würde es ihr leid tun, dass sie mich immer so behandelt hat … Aber dann würde es auch nicht besser, weil ich ja dann nicht mehr da bin … Außerdem hat die Nina gesagt, ich werde es schaffen – ich werde es schaffen … aber wenn ich nicht mehr da bin, geht das ja nicht, und ich will, dass sie Recht hat. – Aber was mach ich dann mit dem Test heute? Die nächste U-Bahn fährt ein und der Bahnsteig füllt sich mit Menschen, die aus den Türen strömen. Anna Irene sieht ihnen zu. Eine Bombendrohung wie bei Siemens, dann müssten sie die Schule evakuieren und wir hätten keinen Test … ich müsste mich nicht fürchten. Das wäre schön … Aber sie legen die Bomben überall anders hin, nur nicht da, wo sie mir helfen würden … Während sie mit der Rolltreppe hinauffährt, spinnt sich der Gedanke wie von selbst weiter. Eigentlich muss ja gar keine Bombe in der Schule sein, um ein paar Stunden ausfallen zu lassen. Bei Siemens war ja auch keine … Bevor sie mich umbringt … Und die anderen wären ja vielleicht auch ganz froh … Wenn ich anrufe und meine Stimme verstelle, das kann ich ja gut … Sie müssen dann die Schule räumen … suchen überall nach der Bombe. Da haben sie viel zu tun, in so einer großen Schule … überhaupt, wenn sie sie nicht finden. Sie muss kurz lachen. Und wenn wir wieder in die Schule können, ist Baukonstruktionslehre vorbei … dann kann ich noch lernen, bis zum nächsten Mal, und die Mutti bringt mich nicht um … da ist ja eine Telefonzelle. Soll ich da jetzt wirklich …? Sie erblickt zwei Türen mit der Aufschrift »WC«. Man hört sicher, dass ich weine; ich muss mir zuerst die Augen waschen und den Mund ausspülen, dann kann ich leichter aufhören; so verheult will ich ja auch gar nicht in die Schule kommen …
Nachdem sie das Weinen und einen Teil ihrer Angst weggewaschen hat, geht Anna Irene in die Telefonzelle, ihr Herz pocht, als setzte es zum Hochsprung über das Schlüsselbein an. Ich muss mich beruhigen. Sie nimmt den Hörer bereits in die Hand und legt ihn ans Ohr, um nicht aufzufallen, wenn sie in der Telefonzelle herumsteht, ohne zu telefonieren. Nachdem sie sich den Satz ein paar Mal vorgesagt hat, wirft sie einen Schilling in den Schlitz, wählt die Nummer der Schule, hält ihren Pullover über die Sprechmuschel, und als sich eine männliche Stimme meldet, sagt sie mit verstellter Stimme und schön nach der Schrift gesprochen: »In der Schule liegt eine Bombe.« Dann hängt sie den Hörer ein und ist plötzlich außer Atem, als wäre sie kilometerweit gerannt. Ihre Knie sind so weich, dass sie Acht geben muss, nicht einzuknicken, während sie die Telefonzelle verlässt. Endlos scheint der Weg vom Karlsplatz zum Schwarzenbergplatz. In der Straßenbahn sind alle Plätze besetzt. Sie stellt sich ganz nach hinten, eine Hand in der Hosentasche, mit der anderen klammert sie sich fest an eine Stange, um ein Zittern zu vermeiden. Ich darf mir nichts anmerken lassen, sonst kombinieren die Leute das womöglich, wenn sie in den Nachrichten die Meldung von der Bombendrohung hören … So schlecht wäre das aber eigentlich auch nicht – wenn sie mich einsperren, bin ich auch von ihr weg, und dann wollen sie wissen, warum und wieso … Aber warum sollten sie mich denn einsperren, es ist ja gar keine Bombe da, niemandem passiert etwas, außer, dass der Test verschoben werden muss.
Wenige Minuten später kommt sie bei der Schule an, ein Lehrer steht im Eingangstor und lässt keinen mehr hinein. Hinter ihm kommen die Schüler wieder heraus, die schon im Schulhaus waren. Die Polizei trifft ein, geht ins Gebäude. Anna Irene sieht Athanasios vor den blühenden Fliederbüschen stehen, der meint: »Cool. Sowas könnten die öfter machen!« Die beiden gehen in ein Café und Anna Irene überlegt, ob sie ihm sagen soll, dass sie es war. Aber sie entschließt sich doch, es für sich zu behalten. Ich muss das selbst vergessen, dann kann ich mich auch nicht verraten … Ich weiß eigentlich überhaupt von gar nichts …
Athanasios bestellt sich einen »strammen Max«. Anna Irene hat keine Ahnung, was das ist. »Wie Ham and Eggs, aber mit Schinken«, erklärt er, dann rätseln beide, warum das wohl »strammer Max« heißt und lachen über ein paar dumme Ideen, die ihnen dazu einfallen. Als sie nach zwei Stunden wieder zur Schule zurückgehen, wo bereits alle wieder in den Klassen sitzen und lernen, fühlt sich Anna Irene schon viel leichter. Zum Glück sind wir in der selben Klasse, so komm ich nicht alleine zu spät …
»Wieso kommt ihr erst jetzt?«, fragt der Lehrer. »Ihr solltet doch bei eurer Klasse bleiben.«
Die beiden sehen sich kurz an und antworten fast im Chor: »Das haben wir nicht gewusst, wir waren im Kaffeehaus.« Und Anna Irene setzt nach: »Wenn die Schule in die Luft fliegt, will ich doch nicht direkt daneben stehen.«
»Wie es aussieht, war es auch nur ein Schülerstreich«, entgegnet der Lehrer, dann fährt er mit dem Unterricht fort.
Bis zum Abend hat sie es selbst schon beinahe vergessen. Nur, als Frau K. wie üblich »Was war denn los in der Schule?« fragt, wird sie noch einmal daran erinnert und erzählt, dass es eine Bombendrohung gegeben hat, aber eh nichts war. Frau K. regt sich kurz über die Zustände auf, danach ist von dem Ereignis nichts mehr zu bemerken, nicht einmal im Fernsehen taucht es auf. Ein Schülerstreich ist ein Schülerstreich ist ein Schülerstreich.

*

Anna Irene fasst nun jeden Tag aufs Neue den Entschluss, es Frau K. endlich zu sagen, und genau so oft verschiebt sie es doch wieder auf den nächsten Tag. Sie würde einmal ordentlich schimpfen, aber dann würde sie vielleicht damit aufhören. Entweder, sie will den vorhandenen Zorn nicht verschlimmern, oder sie will die Ruhe nicht zerstören, wenn Frau K. besser aufgelegt ist.
Schließlich schafft sie es doch nicht, alle Fächer positiv abzuschließen, und wird, samt Athanasios und einigen anderen aus der Klasse, gefragt, ob sie das Jahr wiederholen oder aus der Schule austreten möchte. Sie sagt »Ich gehe lieber arbeiten«, und zugleich schießen ihr die Tränen in die Augen. Ich weiß gar nicht, warum ich jetzt weinen muss …

Ein letztes Mal geht sie mit Athanasios in den Prater, um auf der Achterbahn Sorgen und Ängste zu vergessen.
Zwei Tage vor dem Zeugnis schafft sie es doch, fluchtbereit auf der anderen Seite des Esstischs stehend, Frau K. aufzuklären. Nach der dritten Runde um den Tisch befiehlt Frau K. Anna Irene, stehenzubleiben; sie folgt; Frau K. kommt näher, Anna Irene geht langsam rückwärts, sagt »Bitte tu mir nichts«, und im selben Moment greift Frau K. nach ihren Haaren, zieht sie daran bis in ihr Zimmer, während sie über die Schande schimpft, die das für sie und auch noch für Dora bedeute, und stößt sie dann so auf ihr Bett, dass sie mit dem Rücken und dem Kopf gegen die Wand fliegt.
Als Anna Irene am nächsten Morgen unter Schmerzen ihre Haare frisiert, fragt Frau K. in einem Ton, als wäre eine Antwort völlig undenkbar: »Und was willst du jetzt machen?«
»Eine Lehrstelle werd ich mir suchen. Und jetzt hab ich ja erst einmal das Praktikum.«
»Und was willst du werden?«
»Vielleicht Goldschmied.«
»Ich werde da einmal mit der Dora reden, die hat bestimmt irgendwelche Kontakte.«

 
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Was soll dein Theater jetzt hier? Hast du heute deinen zickigen Tag?
Ich könnte ja hier jetzt wiedergeben, was meine Therapeutin zu deinem Kommentar gesagt hat, aber ich erspar dir das lieber.

 

Bitte Häferl, konzentriere dich doch mal auf den Inhalt. Dann würdest du merken, dass ich weder gegen dich poste, noch dich angreife, sondern lediglich etwas deutlich mache. Nämlich, in wieweit ein Verhalten, für das du nicht kannst, in dem du dankbar sein darfst, heute etwas anderes bewirkt. Und dafür ist es genau so irrelevant, was deine Therapeutin sagt, wie das, was andere sagen.
Ich kann sogar verstehen, wenn du dich angegriffen fühlst. Und natürlich müsste deine Therapeutin schon deswegen etwas dagegen sagen, was ich schreibe, weil therapeutisches Grundprinzip ist, Menschen selbst darauf kommen zu lassen. Das kann ich doch aber nicht, wenn ich in ein Spiel verwickelt bin, in dem ich keine andere Chance habe, als dich auf die eine oder andere Art und Weise zu enttäuschen.
Und leider weiß ich nicht, wie ich es ausdrücken kann, ohne dass du dich angegriffen fühlst.

 
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Bitte Häferl, konzentriere dich doch mal auf den Inhalt.
Ich habe schon weiter oben gesagt, daß ich erst einmal ein bisschen warten will, aber du postest und postest, ohne daß ich dazwischen zum Antworten komme. Sowas empfinde ich als Zwang.

 

Hallo Häferl,

Ich könnte ja hier jetzt wiedergeben, was meine Therapeutin zu deinem Kommentar gesagt hat, aber ich erspar dir das lieber.

Wir sind hier auch nicht, um jemandem beim therapeutischen Schreiben unter die Arme zu greifen, da uns die Kompetenz dazu fehlt. Genauso ist es fehl am Platz, hier einen Therapeuten mit in die Diskussion zu bringen und sogar mit seinen Aussagen zu drohen :rolleyes:

Wenn du es nicht schaffst, bei diesem autobiografischen Text genug Abstand zu einer Kritik zu halten, um sie so zu lesen, wie sie gemeint ist, sind die Texte hier meiner Meinung - als Mitglied - nach am falschen Platz.

Liebe Grüße
bernadette

 
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Wenn du es nicht schaffst, bei diesem autobiografischen Text genug Abstand zu einer Kritik zu halten, um sie so zu lesen, wie sie gemeint ist, sind die Texte hier meiner Meinung - als Mitglied - nach am falschen Platz.
Es ist keine Kritik, sim versucht hier Analysen, die aber alles andere als objektiv sind - und die sind hier absolut fehl am Platz. Auf normale Kritiken reagiere ich auch normal, wie Du ja selbst bei Deiner Kritik gesehen hast.

Außerdem habe ich eben aus dem Grund des Abstands noch nicht auf die letzten Postings vom 4. 12. reagiert, und ich habe auch gesagt:

ich werde die Geschichte erst einmal noch ein bisschen liegenlassen und sie dann noch einmal gründlich überarbeiten
Aber sim mußte ja unbedingt neuerlich posten und mich damit provozieren - da kann mir dann wirklich niemand zum Vorwurf machen, nicht genug Abstand zu haben.

 
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Hallo susi,

ich hoffe, dass sich die Aufregung in diesem Thread jetzt wieder gelegt hat und versuche eine rein inhaltliche Kritik.

Das meiste, was ich zur Geschichte zu schreiben hatte, haben schon meine Vorredner gesagt, auch wenn das nicht heißt, dass ich ihnen in allem zustimme.
Mich hat die Geschichte einerseits schon sehr gepackt. Ich finde sie intensiv, an einigen Tellen hat sie mich so richtig reingezogen, wie eine gute Geschichte das sollte. ich halte sie (an den meisten Stellen) auch nicht für zu distanziert erzählt. Wenn katzano zB meint, man wüsste gar nicht, wovor man sich bei Frau K. genau fürchten solle, kann ich das nicht nachvollziehen. Ich fidne diese eher angedeutete Beschreibung wesentlich wirkungsvoller als eine plakative Darstellung ihrer Taten. An manchen Stellen untertreibst du's damit aber. Vor allem ganz am Schluss, wo nach "Sie entspricht allen Erwartungen" in der nächsten Zeile gleich der nächste Tag kommt. Das habe ich anfangs überhaupt nicht mitbekommen.

An Sims inhaltlicher Analyse fidne ich schon vieles richtig, aber wenn er schriebt, AI würde zb. Hannes selbst missbrauchen, halte ich das zumindest für stark übertrieben. ich denke, es ist normal, dass jemand in einer derartigen Situation (zumindest scheinbar) hilfreiche, angenehme Eigenschaften anderer Menschen "benutzt", weil er sie einfach braucht wie einen Bissen Brot, weil er sie normalerweise nicht bekommt. Außerdem kann man von einer dreizehnjährigen ohnehin noch keine sozial ausgereifte Persönlichkeit/Verhalten erwarten, ganz egal, wie sie aufgewachsen ist.

Richtig finde aber auch ich, dass der rote Faden oder dessen mangelhaftes vorhandensein ein Problem ist. Dabei finde ich gar nicht, dass es keine Spannungsbögen gibt, aber die wirken eher wie episoden innerhalb einer langen Geschichte, die auf kein echtes Ende angelegt ist, vom Prinzip ähnlich wie in einer Endlos-Seifenoper. Ich könnte aber leider auch nicht sagen, wie man das rasch verbessern könnte. Ich denke nicht, dass es einfach an der Länge an sich liegt, ein paar Handlungselemente rauszunehmen würde glaub ich nichts ändern. Daseinzige, was mir einfiele, wäre aus der langen, mehrere ziemlich kurze Teile der Serie zu machen. aber ich fürchte, dass das deiner ursprünglcihen Absicht sehr zuwiederläuft.

Schließlich ist Hannes von der Partei
Ja, solche Leute kenn ich auch. Unglaublich, manche angeblich sozialdemokratischen Parteimitglieder wären auch für die Wiederienführung der folter, wenn die partei das sagt, acuh heute noch.

Liebe Grüße,

Norbert

 

Hallo Norbert!

Danke Dir fürs Lesen der langen Geschichte und Deine Kritik!

Mich hat die Geschichte einerseits schon sehr gepackt. Ich finde sie intensiv, an einigen Tellen hat sie mich so richtig reingezogen, wie eine gute Geschichte das sollte. ich halte sie (an den meisten Stellen) auch nicht für zu distanziert erzählt.
Freut mich sehr, daß sie bei Dir funktioniert hat.

Wenn katzano zB meint, man wüsste gar nicht, wovor man sich bei Frau K. genau fürchten solle, kann ich das nicht nachvollziehen. Ich fidne diese eher angedeutete Beschreibung wesentlich wirkungsvoller als eine plakative Darstellung ihrer Taten. An manchen Stellen untertreibst du's damit aber.
Ja, es ist nicht so einfach, die richtige Dosis zu finden. ;)

Vor allem ganz am Schluss, wo nach "Sie entspricht allen Erwartungen" in der nächsten Zeile gleich der nächste Tag kommt. Das habe ich anfangs überhaupt nicht mitbekommen.
Deshalb hab ich jetzt auch ziemlich am Anfang (gleich nach den »Liebe statt Hiebe«-Pickerln) ein bisschen was verändert, nämlich hier …
Anna Irenes Herz schlägt, als wollte es die Rippen sprengen, hinter denen es eingesperrt ist. Sie wundert sich kurz, dass sie nicht, wie sonst, an den Haaren gezogen und irgendwo dagegengestoßen wird, dann kommt Frau K. zurück, schüttelt den erhobenen Zeigefinger im Takt der Worte »Eines sag ich dir: Du schneidest dich damit nur ins eigene Fleisch!«, dreht sich um und geht wieder.

Anna Irene setzt sich aufs Bett, lehnt ihren Rücken an die Wand, schlägt die Biographie von Rosa Luxemburg auf, die sie von Tante Dora bekommen hat, schaut in die Seiten, ohne sich auf die Worte konzentrieren zu können. Das wäre schon ur komisch, wenn sie mir plötzlich wegen dem Pickerl nicht mehr weh tun würde. Irgendwie würde dann etwas fehlen … ich müsste mich gar nicht mehr vor ihr fürchten. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, nach dem vielen Haarereißen, oder den Stecknadeln, mit denen sie mir die Augen ausstechen wollte … unheimlich wäre das … Sie kann mich doch nicht jetzt auf einmal … lieb haben? … So tun, als wäre sie nie böse gewesen, hätte mir nie weh getan? Wenn sie mich in die Arme nehmen würde … das wäre … ekelig. Sie hat mich doch nie lieb gehabt … Nein, das will ich gar nicht, nicht von ihr … jetzt nicht mehr … ich würde das gar nicht … es ist …

… und auch am Ende:
Zwei Tage vor dem Zeugnis schafft sie es doch, fluchtbereit auf der anderen Seite des Esstischs stehend, Frau K. aufzuklären. Nach der dritten Runde um den Tisch befiehlt Frau K. Anna Irene, stehenzubleiben; sie folgt; Frau K. kommt näher, Anna Irene geht langsam rückwärts, sagt »Bitte tu mir nichts«, und im selben Moment greift Frau K. nach ihren Haaren, zieht sie daran bis in ihr Zimmer, während sie über die Schande schimpft, die das für sie und auch noch für Dora bedeute, und stößt sie dann so auf ihr Bett, dass sie mit dem Rücken und dem Kopf gegen die Wand fliegt.
Als Anna Irene am nächsten Morgen unter Schmerzen ihre Haare frisiert,
fragt Frau K. in einem Ton, als wäre eine Antwort völlig undenkbar: »Und was willst du jetzt machen?«
Hoffe, daß das damit klarer wird.

An Sims inhaltlicher Analyse fidne ich schon vieles richtig, aber wenn er schriebt, AI würde zb. Hannes selbst missbrauchen, halte ich das zumindest für stark übertrieben. ich denke, es ist normal, dass jemand in einer derartigen Situation (zumindest scheinbar) hilfreiche, angenehme Eigenschaften anderer Menschen "benutzt", weil er sie einfach braucht wie einen Bissen Brot, weil er sie normalerweise nicht bekommt. Außerdem kann man von einer dreizehnjährigen ohnehin noch keine sozial ausgereifte Persönlichkeit/Verhalten erwarten, ganz egal, wie sie aufgewachsen ist.
Danke, Deine Meinung finde ich sehr beruhigend.

Richtig finde aber auch ich, dass der rote Faden oder dessen mangelhaftes vorhandensein ein Problem ist. Dabei finde ich gar nicht, dass es keine Spannungsbögen gibt, aber die wirken eher wie episoden innerhalb einer langen Geschichte, die auf kein echtes Ende angelegt ist, vom Prinzip ähnlich wie in einer Endlos-Seifenoper. Ich könnte aber leider auch nicht sagen, wie man das rasch verbessern könnte.
Ja, das zu ändern wird noch ein bisschen dauern, da ich jetzt erst einmal ein bisschen Pause von der Geschichte brauche, aber ich bin guter Hoffnung, daß ich die Verknüpfung der einzelnen Teile auch noch etwas besser hinkriege.

Daseinzige, was mir einfiele, wäre aus der langen, mehrere ziemlich kurze Teile der Serie zu machen. aber ich fürchte, dass das deiner ursprünglcihen Absicht sehr zuwiederläuft.
Das tut es, ja. Weil ich denke, daß der Schluß ohne Vorgeschichte nicht zu verstehen ist. Aber auch z. B. das Schuleschwänzen mit Athanasios würde anders aussehen, ohne den Druck dahinter, und die Beziehung zu Hannes kann ich auch nicht von der Parteihörigkeit Frau K.s trennen, da sie ihn ja deshalb akzeptiert hat. – Also mit Trennen ist da in meinen Augen nichts zu machen. ;)

Ja, solche Leute kenn ich auch. Unglaublich, manche angeblich sozialdemokratischen Parteimitglieder wären auch für die Wiederienführung der folter, wenn die partei das sagt, acuh heute noch.
Wieso »wären« und »Wiedereinführung«? In unseren Schubhaftgefängnissen ist Folter an der Tagesordnung, denn von Folter Traumatisierte einzusperren und wieder dorthin abzuschieben, wo ihnen die Folter neuerlich droht, ist ebenso Folter. Durch den Fall Arigona waren sie zwar zu kleinen Zugeständnissen bereit, zum Ausgleich haben sie aber die Errichtung eines Asylgerichtshofes beschlossen, und damit schalten sie sowohl den Verwaltungsgerichtshof, wie auch den Verfassungsgerichtshof als oberste Instanz aus, die bisher vielen Flüchtlingen geholfen haben. Nur der Asylgerichtshof selbst kann dann seine eigenen Beschlüsse anzweifeln. Haha. Und das haben die Roten mitbeschlossen.

Danke nochmal,
liebe Grüße,
Susi :)

 

Hallo woodwose,

An Sims inhaltlicher Analyse fidne ich schon vieles richtig, aber wenn er schriebt, AI würde zb. Hannes selbst missbrauchen, halte ich das zumindest für stark übertrieben. ich denke, es ist normal, dass jemand in einer derartigen Situation (zumindest scheinbar) hilfreiche, angenehme Eigenschaften anderer Menschen "benutzt", weil er sie einfach braucht wie einen Bissen Brot, weil er sie normalerweise nicht bekommt. Außerdem kann man von einer dreizehnjährigen ohnehin noch keine sozial ausgereifte Persönlichkeit/Verhalten erwarten, ganz egal, wie sie aufgewachsen ist.
Dieser Normalität habe ich ja auch nicht widersprochen, die Differenz in der Aufassung liegt also nicht in einer mir zwar unterstellten, von mir jedoch gar nicht vorgenommenen Schuldzuweisung, die jeder bei dem Wort "Missbrauch" wohl gleich lesen möchte, sondern in der Auffassung.
Missbrauch ist (für mich) die Instrumentalisierung von Menschen für eigene Ziele ohne deren Wissen, ohne deren Einwilligung.
Missbrauch ist weiter eine Kompetenzdelegation von Bedürfnissen an Menschen, die für diese Bedürfnisse nicht zuständig sind (Weder Hannes noch die Freundinnen noch Anasthasios noch Onkel Joe wären in der Lage gewesen, dem Mädchen effektiv zu helfen. Hannes und Onkel Joe allerdings eher aus einer emotionalen Verstrickung heraus nicht. Altersgemäß hätten sie die Kompentenz gehabt oder haben müssen. Kompetente Hilfe hätte aber bedeutet: Das Mädchen muss raus aus diesem Zuhause. Onkel Joe und die Tante hätte das auf alle Fälle sehen müssen.).
Missbrauch ist unter Umständen, das Erlangen der Einwilligung durch emotionale Erpressung.
Missbrauch setzt kein Wissen oder Bewusstsein über die Missbräuchlichkeit der Handlung voraus.
Diese Haltung finde ich wichtig, weil sie eben für die Benennung des Missbrauchs als solchen keine Entschuldigung kennt, gerade auch in der Handlung von Hannes.
Etwas anderes wäre die individuelle Bewertung des Unrechtsbewusstseins. Kenntnis von Gesetzen setzt auch bei Verstoß nicht gleichzeitig Unrechtsbewusstsein voraus. Das entsteht eher aus dem Gefühl, jemandem Schaden zuzufügen. Ob Hannes sich individuell anders hätte verhalten können (so manipulativ wie er agiert wäre eigene Missbrauchserfahrung ja zumindest denkbar), ob er ein Bewusstsein für den Schaden hatte, den er AI zufügt, kann ich nicht beurteilen. Es ist für AI auch letztlich gleichgültig. Jemandem auf die Füße treten tut diesem immer weh, auch, wenn es nur aus Versehen oder aus Unkenntnis oder mangelnder sozialer Kompetenz passiert.
Entsprechend habe ich das auch bei AI aufgefasst. Ich weiß, sie konnte nicht anders, ich mache ihr keinen Vorwurf, ich sehe die Notwendigkeit für das Mädchen, schließlich hatte sie keine Möglichkeit, sich an kompetente Stellen zu wenden. Unter dieser Prämisse finde ich die Verwendung des Wortes Missbrauch trotzdem nicht übertrieben.

Hallo Häferl,

Das wäre schon ur komisch, wenn sie mir plötzlich wegen dem Pickerl nicht mehr weh tun würde. Irgendwie würde dann etwas fehlen … ich müsste mich gar nicht mehr vor ihr fürchten. Das kann ich mir gar nicht vorstellen, nach dem vielen Haarereißen, oder den Stecknadeln, mit denen sie mir die Augen ausstechen wollte … unheimlich wäre das … Sie kann mich doch nicht jetzt auf einmal … lieb haben? …
Wie schon mal angemerkt, finde ich diese Kursivpassagen ja so überzeugend, dass ich davon gern mehr gehabt hätte. Hier denke ich, ist dein Einschub vor allem für die Leser gut, die keine anderen Folgen kennen, das ist gut so. Auch kommt hier schön heraus, dass bei aller Sehnsucht danach Liebe auch Angst macht, selbst wenn sie durch das Pickerl nur plötzlich als Möglichkeit im Raum steht.
Die Hinzufügung am Ende macht es sehr viel deutlicher, der Satz "Als Anna Irene am nächsten Morgen unter Schmerzen ihre Haare frisiert" ist für mein Gefühl so aber eine Nummer zu übertrieben, jedenfalls in der Art. "Unter Schmerzen" ist überdies wieder nur beschreibend. Schmerzen wird sie aus mehreren Gründen haben, zum einen eine Beule am Kopf von der Bettkante (die weh tun wird, wenn AI mit der Bürste drüber geht) oder vom Reißen an den Haarwurzeln. Vielleicht könntest du also hier das genaue Erleben einfügen.

Lieben Gruß
sim

 

Dieser Normalität habe ich ja auch nicht widersprochen, die Differenz in der Aufassung liegt also nicht in einer mir zwar unterstellten, von mir jedoch gar nicht vorgenommenen Schuldzuweisung, die jeder bei dem Wort "Missbrauch" wohl gleich lesen möchte, sondern in der Auffassung.
Missbrauch ist unter Umständen, das Erlangen der Einwilligung durch emotionale Erpressung.
Missbrauch setzt kein Wissen oder Bewusstsein über die Missbräuchlichkeit der Handlung voraus.
Okay, Sim, da gebe ich dir prinzipiell recht. Es ist aber eben so, dass das Wort "Missbrauch" stark emotional besetzt ist und die meisten Leute normalerweise nicht diese breite Definition darunter verstehen.
Trotzdem finde ich immer noch, dass man den Missbrauch den AI erfährt und jenen, den sie verübt, nicht vergleichen kann.
Aber vielleicht sehe ich die Welt auch zu naiv.

 

Nein Woodwose, da sind wir uns völlig einig, die Formen des Missbrauchs sind von unterschiedlicher Qualität. Trotzdem, und dabei bleibe ich, zeigt die Geschichte auch auf, wie aus Misshandlung, Missbrauch und Instrumentalisierung auch instrumentalisierendes Verhalten entsteht.
Wenn diese Feststellung ein negativer Kritikpunkt an der Geschichte sein soll, kommt man sehr schnell zur Frage nach dem Sinn einer Autobiografie.
Liegt der nicht gerade in der reflektiven Verarbeitung des Geschehens, um es für sich und die Allgemeinheit auch von Nutzen und Interesse zu machen?
Und erfordert reflektive Verarbeitung nicht auch schonungsloses Hinsehen zu Punkten, an denen es vielleicht weh tut? Unterliegt eine Autobiografie nicht in der Hinsicht sogar anderen Regeln als eine fiktive Geschichte? Aber selbst bei einer fiktiven Geschichte würde es mir auffallen, wenn Figuren blass bleiben, obwohl sie doch so zentral zu sein scheinen und entsprechend kommentieren, wie stimmig oder unstimmig ich es finde (es kann ja immer beides sein).

Lieben Gruß
sim

 

Liebe Susi, ich konnte gar nicht aufhören, diese wirklich lange Anna-Irene-Geschichte zu lesen, obwohl ich aufgrund der fortgeschrittenen Stunde eigentlich einen Teil auf morgen verschieben wollte. Wieder hast du es geschafft, mich zu packen – spürbar an den Haaren, muss man dazu bemerken - denn so trocken du diese Geschichten auch immer schilderst, so sehr gehen sie unter die Haut.

Mir gefällt hier besonders, dass Anna-Irene eine Möglichkeit sucht, sich zu wehren und ihrer Mutter zu entkommen. Dass sie dabei in die falschen Hände gerät – sowohl bei Hannes als auch bei dem Schulfreund mit dem griechischen Namen, wenn man es genau nimmt - ist wohl ihr tragisches Schicksal. Genauso, wie es da jemanden gibt, der ihr helfen kann, Nina nämlich, die aber in Wirklichkeit unerreichbar für sie ist. Auch wenn das Echo ihrer Mut spendenden Aufmunterung bis zum Schluss in Anna-Irene nachhallt.

Was Hannes betrifft, muss ich feststellen, dass es ja leider immer wieder Meinungsverschiedenheiten zum Thema Missbrauch gibt. Manche verschließen die Augen davor, manche wollen etwas gesehen haben, wo es gar nichts zu sehen gibt – ein schwieriges Thema, zu dem man fälschlicher Weise zu oft vor dem bösen schwarzen Mann warnt, der irgendwo hinter einem Busch lauert, anstatt die Gefahr ganz in der Nähe zu sehen, die sich nur allzu oft als „Freund“ tarnt.

Was dir immer gut gelingt, ist es, die Gefühle und Gedanken so nachzuzeichnen, dass einem als Leser bewusst wird, ja, so denkt man, das fühlt man und so versucht man auf eine Lösung zu kommen – vor allem in den Paniksituationen, die Anna-Irene durchstehen muss, ist das mehr als klar und logisch dargestellt.

Es passiert viel in dieser Geschichte, aber es ist ja auch ein langer Kampf und ein entscheidender Abschnitt in Anna-Irenes Leben. Es ist das eine mit dem anderen zu sehr verwoben, als dass man sich etwas vom Inhalt der Geschichte wegdenken könnte. Ich finde nichts überflüssig. Auch nicht die ständige Präsenz der Frau K., denn ich werde das Gefühl nicht los, dass sie in dieser Geschichte mindestens genau so wichtig ist wie Anna-Irene selbst. Es ist eine ständige Auseinandersetzung zwischen den beiden, bei der die eine Person der anderen Herr werden möchte – jede auf ihre Art. Frau K. mit Gewalt, Anna-Irene in Gedanken, manchmal mit Worten, sogar mit Taten, die Selbstmordgedanken inklusive, die sie zuerst nie selbst denkt, sondern die ihr immer wieder nur von Ferne zuwinken wie Hut und Mantel im gegenüberliegenden Fenster. Gut gemacht!

Dass Frau K. immer wieder ihre Parteigenossin (Dora?) wegen irgendwelcher Dinge befragen muss, zeigt auch sehr gut, dass sie eigentlich eine unsichere Person ist. Irgendwie erklärt das für mich auch, dass sie sich Anna-Irene gegenüber so verhält, wie sie es in der Geschichte tut. Sie kennt keine andere Möglichkeit. Ohne diese Person in Schutz nehmen zu wollen! Aber als durch die Geschichte aufgewühlter Leser beruhigt es mich einfach, wenn ich mir einen Grund dafür schaffe, bzw. mir eine Erklärung für dieses Verhalten konstruiert habe.

Eine sprachliche Kleinigkeit, die sich eingeschlichen hat, ist mir noch aufgefallen:
In der Szene, wo Anna-Irene über die Straßenbahn-Gewohnheiten erzählt:

„Anna Irene will das zwar auch nicht will, mit »Ich steig aber früher aus als du« hat Frau K. allerdings …“

Mich hast du wieder einmal gebannt, danke!

Liebe Grüße
Barbara

 

Liebe Barbara!

Du machst mich ja richtig sprachlos, ich hätte nicht geglaubt, daß die Geschichte noch einmal jemand liest. Danke dafür und für Deinen Kommentar, darüber hab ich mich wirklich sehr gefreut! :)

ich konnte gar nicht aufhören, diese wirklich lange Anna-Irene-Geschichte zu lesen, obwohl ich aufgrund der fortgeschrittenen Stunde eigentlich einen Teil auf morgen verschieben wollte. Wieder hast du es geschafft, mich zu packen – spürbar an den Haaren, muss man dazu bemerken - denn so trocken du diese Geschichten auch immer schilderst, so sehr gehen sie unter die Haut.
Daß sie bei Dir so gewirkt hat, freut mich natürlich besonders, aber ich werde sie trotzdem irgendwann sprachlich noch etwas überarbeiten, denn daß manche sie zäh fanden, kann ich schon nachvollziehen.

Dass sie dabei in die falschen Hände gerät – sowohl bei Hannes als auch bei dem Schulfreund mit dem griechischen Namen, wenn man es genau nimmt
Naja, eine Hilfe waren auch Hannes und Athanasios, nur halt mit Nebenwirkungen. Und Athanasios hätte niemanden zum Schuleschwänzen verführt, von dem nicht vorher schon die Bereitschaft dazu da war; wer weiß, welche Hände da noch gewartet hätten, wäre er nicht dagewesen. Der Druck war Frau K. so und so nicht auszuhalten, also die Schule mit und ohne Athansios zu vergessen.

wie es da jemanden gibt, der ihr helfen kann, Nina nämlich, die aber in Wirklichkeit unerreichbar für sie ist. Auch wenn das Echo ihrer Mut spendenden Aufmunterung bis zum Schluss in Anna-Irene nachhallt.
So unerreichbar Nina einerseits war, so tief hat sie Anna Irene aber auch erreicht. ;)

Was dir immer gut gelingt, ist es, die Gefühle und Gedanken so nachzuzeichnen, dass einem als Leser bewusst wird, ja, so denkt man, das fühlt man und so versucht man auf eine Lösung zu kommen – vor allem in den Paniksituationen, die Anna-Irene durchstehen muss, ist das mehr als klar und logisch dargestellt.
Das Lob freut mich sehr! :)

Es ist das eine mit dem anderen zu sehr verwoben, als dass man sich etwas vom Inhalt der Geschichte wegdenken könnte. Ich finde nichts überflüssig.
Das beruhigt mich, ich weiß nämlich auch nicht, was ich streichen könnte. Eher hab ich nämlich das Gefühl, daß ich zu viel gar nicht geschrieben habe, also z. B. Erlebnisse, die die »Nebenrollen« weniger blass machen würden.

die Selbstmordgedanken inklusive, die sie zuerst nie selbst denkt, sondern die ihr immer wieder nur von Ferne zuwinken wie Hut und Mantel im gegenüberliegenden Fenster. Gut gemacht!
Schön, daß Du das bemerkt hast! :)
Es war damals auch eine Zeit mit einer extrem hohen Selbstmordrate (zumindest was Österreich betrifft). Ich glaub, es war 79 (+/- 1 Jahr), da hatten wir die bis dahin höchste Rate seit es eine Statistik gibt. Gegen Schulschluß standen alle zwei, drei Tage Schülerselbstmorde in der Zeitung, man ist dem Thema ja gar nicht entkommen.
Zwar bin ich nicht der Meinung, daß man sie unter den Teppich kehren sollte, aber die häufigen Berichte darüber waren sich auch Ursache für weitere. Sicher kämen manche Schüler gar nicht auf die Idee, wenn das Thema nicht von außen an sie herangetragen würde, wie vieles andere auch.
Stell Dir vor, da hatte ich einmal die Sozialarbeiterin vom Jugendamt eingeladen, weil ich mit ihr über die Alimente sprechen wollte, und dann kam Georg nach Hause, damals gerade zehn, und sie fragt ihn so nebenbei, wie es ihm in der Schule gefällt, er meint, es gefiele ihm gut, und dann fragt sie: »Denkst also noch nicht ans Schuleschwänzen, oder?« Er wußte bis dahin gar nicht, was das ist! So blöd muß man erst einmal sein, diese Sozialarbeiter stehen wirklich alle völlig daneben.

Dass Frau K. immer wieder ihre Parteigenossin (Dora?) wegen irgendwelcher Dinge befragen muss, zeigt auch sehr gut, dass sie eigentlich eine unsichere Person ist. Irgendwie erklärt das für mich auch, dass sie sich Anna-Irene gegenüber so verhält, wie sie es in der Geschichte tut. Sie kennt keine andere Möglichkeit. Ohne diese Person in Schutz nehmen zu wollen! Aber als durch die Geschichte aufgewühlter Leser beruhigt es mich einfach, wenn ich mir einen Grund dafür schaffe, bzw. mir eine Erklärung für dieses Verhalten konstruiert habe.
Meine Erklärung ist vor allem, daß sie im Jänner 1942 geboren ist – die ersten drei Jahre sollen ja recht prägend sein. Damit meine ich jetzt nicht, daß sie von Hitler selbst viel mitbekommen hätte, aber da man an den Kindern abgelesen hat, wie jemand drauf ist, z. B. mit welchem Gruß sie gegrüßt haben, war da sicher viel Druck zum angepaßten Verhalten. Und wenn sie es dann endlich gelernt hatten, kam 1945 und nichts vom Erlernten galt mehr, für den falschen Gruß eine auf den Mund. Die haben tief verinnerlicht, daß Sich-nach-dem-Wind-Richten mindestens so wichtig ist wie Zähneputzen; manche halt mehr, manche weniger. Freunde bitte nur von der richtigen Partei und ja nicht mit »Grüß Gott« grüßen, weil was denken sich die anderen da von uns (das Grüßen steht glaub ich in »Wie man eine Pflanze in Linz ausreißt und in Wien in eine Vase stellt«).

„Anna Irene will das zwar auch nicht will,
Danke erstmal, das heb ich mir aber für dann auf, wenn ich sie überarbeite. Wenn ich jetzt editiere, glaubt denkt sonst noch jemand, sie wäre schon überarbeitet. ;)

Mich hast du wieder einmal gebannt, danke!
Freut mich wirklich, danke! :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

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